Hängt der Ausbruch einer Kawasaki-ähnlichen Erkrankung unter italienischen Kindern
aus Bergamo mit COVID-19 zusammen? Dr. Ulrich Neudorf, Essen, hat an der deutschen
Leitlinie zum Kawasaki-Syndrom mitgearbeitet und erklärte im Gespräch wie die italienische
Publikation einzuordnen ist.
Kinderärzte aus dem von COVID-19 stark betroffenen italienischen Bergamo sahen sich
im Frühling vermehrt mit Kindern mit einer Kawasaki-ähnlichen Erkrankung konfrontiert.
Während zwischen 2015 und Februar 2017 in Bergamo 19 Patienten mit Kawasaki-Syndrom
diagnostiziert wurden, zeigten laut einer Studie in Lancet [Verdoni L et al. Lancet
2020;395:1771-8] zwischen dem 18. Februar und 20. April 2020 zehn Kinder eine Kawasaki-ähnliche
Symptomatik. Dr. Ulrich Neudorf, Klinik für Kinderheilkunde III, Universitätsklinikum
Essen, ordnet die italienische Publikation aus seiner Sicht als Kinderrheumatologe
und Kinderkardiologe sowie Mitarbeiter an der deutschen Leitlinie zum Kawasaki-Syndrom
ein.
"Schon vor SARS-CoV-2 gab es Virusinfekte, die das klinische Bild einer Kawasaki-Erkrankung
zeigten."
Herr Dr. Neudorf, was sind die aus Ihrer Sicht relevanten Beobachtungen der Lancet-Studie
zu der Kawasaki-ähnlichen Erkrankung in Bergamo?
Dr. Ulrich Neudorf: Das Problem, das ich mit dieser Studie habe, ist, dass sie mir
aus prinzipiellen Überlegungen nicht logisch erscheint. Denn formal gesehen handelt
es sich beim Kawasaki-Syndrom um eine Erkrankung mit unklarer Ursache, unklarem Fieber
und einer Vaskulitis mittelgroßer Gefäße. Das bedeutet, dass mit einem positiven Nachweis
auf SARS-CoV-2 die Diagnose Kawasaki-Syndrom nicht zu stellen ist, da mit COVID-19
die Hypothese einer Ursache aufgestellt wird. Schon vor SARS-CoV-2 gab es Virusinfekte
- Hantaviren und andere - die das klinische Bild einer Kawasaki-Erkrankung zeigten.
Bei der Lancet-Studie sehen wir, dass die Kawasaki-Patienten vor COVID-19 deutlich
jünger sind als die Patienten, die Kawasaki-artige Symptome während der COVID-19-Infektion
aufwiesen. Das Kawasaki-Syndrom betrifft im Wesentlichen Kinder unter fünf Jahren.
Das Alter der mit COVID-19 assoziierten Patienten ist höher und bei ihnen scheinen
neben mittelgroßen Gefäßen auch andere von einer Entzündung betroffen zu sein.
Ich finde die Lancet-Studie interessant, aber durchaus schwierig zu bewerten. Man
könnte möglicherweise sagen, dass SARS-CoV-2 eine Erkrankung auslösen kann, die vom
Erscheinungsbild her dem Kawasaki-Syndrom ähnelt und die notwendigen klinischen Kriterien
erfüllt, - aber es bleiben die Fragen, ob man diese Erkrankung auch Kawasaki-Syndrom
nennen und auch so behandeln sollte? Das scheint von den italienischen Kollegen so
gehandhabt worden zu sein.
Es gibt auf der anderen Seite eine gemeinsame Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft
für Pädiatrische Infektiologie und der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Kardiologie
und Angeborene Herzfehler vom 6. Mai, in der diese Symptome "Hyperinflammationssyndrom
im Zusammenhang mit COVID-19" genannt werden. Diese Bezeichnung erscheint mir persönlich
passender.
Hyper- inflammationssyndrom im Zusammenhang mit COVID-19:
https://dgpi.de/stellungnahme-dgpi-dgpk-hyperinflammationssyndrom-covid-19
Beschreibt das "Hyperinflammationssyndrom im Zusammenhang mit COVID-19" dieselben
Symptome, die von den Autoren der Lancet-Studie aufgegriffen wurden?
Neudorf: Die Symptome sind immer die Endstrecke einer Inflammation. Die klinischen
Symptome, die das Kawasaki-Syndrom charakterisieren - also Fieber unklarer Ursache,
Haut- und Schleimhautveränderungen sowie Lymphknotenschwellungen - können auch auftreten,
ohne dass ein Kawasaki-Syndrom vorliegt. Es gibt hier keine klaren Unterscheidungskriterien.
Was wahrscheinlich charakteristisch ist, aber momentan nicht zu den Diagnosekriterien
gehört - die auf den Kriterien der American Heart Assoziation fußen - sind Aneurysmen
der Koronararterien.
Kurz gesagt: Ein klinisches Bild, das einem Kawasaki-Syndrom ähnelt, kann viele Ursachen
haben. Das Ende ist immer eine schwere durch Interleukine und andere Immunmodulatoren
vermittelte Inflammation, die sich an den Gefäßen abspielt. Eine klare Differenzierung
des Entzündungsgeschehens ist derzeit aus meiner Sicht noch nicht möglich.
In Bergamo gab es einerseits 19 Patienten mit Kawasaki-Syndrom, diagnostiziert vor
dem 17. Februar 2020. Sie waren etwa drei Jahre alt, also im typischen Alter, in dem
ein Kawasaki-Syndrom auftritt. Die Patienten, die während der COVID-19-Phase im Februar
und April Kawasaki-ähnliche Symptome entwickelten, waren deutlich älter, im Schnitt
etwa siebeneinhalb Jahre. In Relation waren das auch viel mehr Patienten. Ich glaube,
was man hier in beiden Fällen sieht, ist die gemeinsame Endstrecke einer Hyperinflammation
und Vaskulitis.
Aus meiner Sicht ist die Lancet-Arbeit bedeutsam, weil sie beschreibt, dass es eine
schwere systemische Immunantwort gibt, die wie eine Vaskulitis aussieht und die das
Bild einer Kawasaki-Erkrankung präsentieren kann. Das ist wichtig zu wissen - und
mehr auch nicht. Das Kawasaki-Syndrom gab es auch vorher schon und es gab auch eine
jahreszeitliche Häufung und Überlegungen, welche viralen Infekte das Syndrom induzieren
können. Aber letztendlich ist das Kawasaki-Syndrom nach wie vor eine Krankheit unklarer
Ursache.
Ein Makrophagenaktivierungssyndrom gibt es übrigens auch bei verschiedenen Erkrankungen
- bei genetischen Defekten, systemischen rheumatischen Erkrankungen (sJIA) etwa. Im
Lancet-Paper ist lediglich beschrieben, dass unter SARS-CoV-2-Nachweis das klinische
Bild eines Kawasaki-Syndroms entstehen kann.
Ist die diagnostische Bezeichnung relevant für die Therapie?
Neudorf: Für die Therapieentscheidung ist die genaue Zuordnung möglicherweise irrelevant.
Die Kawasaki-Erkrankung wird mit Immunglobulinen, Kortison und Biologika behandelt.
Die Standardtherapie ist: Immunglobuline, 2 g pro Kilo Körpergewicht, plus Aspirin;
bei erhöhten Risikofaktoren wie Alter unter einem Jahr, männlichem Geschlecht und
Herzbeteiligung würde ich zusätzlich Kortison verabreichen.
Diese Maßnahmen haben sich auch bei Hyperinflammation anderer Ursache bewährt. Als
Biologika stehen uns dabei TNFα-Blocker wie das zu infundierende Infliximab zur Verfügung,
außerdem die Interleukin-1(IL1)-Blocker Kineret und Canakinumab sowie der IL-6-Blocker
Tocilizumab.
Gibt es Erfahrungswerte der verschiedenen Therapieoptionen bei Vorliegen von SARS-CoV-2?
Neudorf: Die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie sammelt gerade Daten
für Deutschland. Stand der Dinge momentan ist, dass in den vergangenen Monaten zwei
Fälle von Kawasaki-ähnlichen Symptomen erfasst wurden. Bis Anfang Mai 2020 wurden
in Deutschland 128 Kinder aufgrund einer COVID-19-Infektion stationär behandelt, 17
Kinder benötigten intensivmedizinische Behandlung, zwei der 128 Kinder zeigten eine
Ko-Inzidenz zu Kawasaki und keines dieser Kinder ist verstorben.
Aus meiner Sicht ist der Zusammenhang der unter COVID-19 auftretenden Symptome mit
dem Kawasaki-Syndrom viel Hype um wenig, der Behandlungsweg wird durch die Bezeichnung
jedenfalls nicht beeinflusst.
Lässt sich etwas über die Langzeitprognose sagen?
Neudorf: Nein, in Wahrheit wissen wir nicht einmal etwas über die Prognose nach einem
Kawasaki-Syndrom. Wir tun so, als müssten wir Patienten mit Kawasaki-Syndrom nur Immunglobuline
verabreichen und damit wären das Fieber weg und das Kind gesund, solange die Koronararterien
unbeschädigt geblieben sind.
Es gibt aber auch viele Hinweise - leider sämtlich aus Studien mit einer zu geringen
Patientenzahl und einer zu differenten Methodik - darauf, dass Kinder mit Kawasaki-Syndrom
im Verlauf ihres Lebens ein höheres Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen wie Vaskulopathien,
koronare Herzkrankheit und Bluthochdruck haben. Um hier bessere Aussagen treffen zu
können, ist es in einem nächsten Schritt notwendig, alle Kinder dem gleichen Screening
zu unterziehen und ihren Gesundheitszustand auch im Erwachsenenalter zu erfassen.
Haben Sie eine Empfehlung für Ärzte?
Neudorf: Wir haben in Deutschland gerade eine erneuerte Leitlinie zur Therapie des
Kawasaki-Syndroms verabschiedet. Bei der Erstellung der Leitlinie wurde auch diskutiert,
wer eigentlich das Gegenüber für Patienten mit einer Kawasaki-Erkrankung ist. Die
Kardiologen fühlen sich wegen der Herzbeteiligung zuständig - die tritt aber nur bei
etwa einem Viertel der Patienten auf. Die Rheumatologen fühlen sich zuständig, aber
die Patienten finden meist nicht zu den Rheumatologen. Die Patienten landen mit unklarem
Fieber in der normalen Praxis. Daher sollten praktische Ärzte und Kinderärzte einfach
im Kopf behalten: Wenn etwas nicht stimmig erscheint und der Patient das klinische
Bild eines Kawasaki-Syndroms zeigt, kann die Symptomatik in der COVID-19-Zeit auch
auf eine Infektion mit SARS-CoV-2 zurückzuführen sein. Das sollte in einem stationären
Setting in einer Kinderklinik getestet und überwacht werden. Eine praktische Hürde
ist, dass der Umgang mit COVID-19-Tests nicht nur in jedem Land, sondern sogar in
jedem Bundesland anders gehandhabt wird.
Das Interview führte Mag. Tanja Fabsits.