Hintergrund
Der Erkrankungsverlauf einer Infektion mit dem neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 (COVID-19)
kann in verschiedene Phasen unterteilt werden. Die frühe Form die Erkrankung wird
durch die Virusinfektion und -replikation dominiert. Bei einem Teil der Patienten
können im späteren Krankheitsstadium ausgeprägte proinflammatorische Prozesse getriggert
werden, welche mit zunehmendem pulmonalem und teils auch extrapulmonalem Organversagen
assoziiert sind
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. Bei diesen Patienten können antiinflammatorische Therapiestrategien erfolgversprechend
sein und werden aktuell in verschiedenen Studien getestet.
Bisher bestanden Bedenken gegenüber einem Einsatz von Steroiden bei COVID-19 außerhalb
etablierter klinischer Indikationen wie einer zusätzlich exazerbierten obstruktiven
Atemwegserkrankung oder dem therapierefraktären septischen Schock. Diese beruhten
überwiegend auf Daten von Beobachtungsstudien, welche – meist bei Infektionen mit
anderen Viren – eine Assoziation mit verzögerter Viruselimination oder bakteriellen
Superinfektionen beschrieben, ohne dass die Letalität signifikant beeinflusst wurde
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.
Nun berichtet eine große britische randomisierte Studie von einem Überlebensvorteil
hospitalisierter Patienten mit COVID-19 unter Dexamethason
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. Somit wird eine Neubewertung erforderlich.
Recovery-Studie
Die Recovery-Studie ist eine mehrarmige, adaptierbare, offene, multizentrische (176
Zentren), randomisierte Studie, die verschiedene medikamentöse Interventionen im Vergleich
zur Standardtherapie bei hospitalisierten Patienten mit vermuteter oder gesicherter
COVID-19-Erkrankung evaluiert hat. Am 22. 6. 2020 erfolgte auf einem Preprint-Server
die bisher noch nicht begutachtete Publikation der vorläufigen Auswertung von 2104
Patienten, welche randomisiert eine Therapie mit 6 mg Dexamethason pro Tag für bis
zu 10 Tage zusätzlich zur Standardtherapie erhielten, im Vergleich zu 4321 Patienten,
welche nur eine Standardtherapie erhielten (u. a. 24 % Azithromycin, kein Remdesivir).
Ausgeschlossen von der Randomisierung in den Dexamethason-Arm der mehrarmigen Gesamtstudie
mit insgesamt 11 320 Patienten wurden Patienten mit einer definitiven Indikation für
oder mit einer Kontraindikation gegen eine Therapie mit Dexamethason oder wenn Dexamethason
lokal nicht verfügbar war (zusammen 17 %). Der primäre Endpunkt war die 28-Tages-Gesamtletalität.
Die eingeschlossenen Patienten waren im Mittel 66 Jahre alt, 64 % waren männlich,
21 % hatten eine pulmonale Komorbidität. Bei Randomisierung erhielten 24 % keine respiratorische
Unterstützung, 60 % eine Sauerstofftherapie und 16 % eine mechanische Beatmung. Bei
82 % war die Infektion mit SARS-CoV-2 virologisch nachgewiesen. Daten zu Biomarkern
liegen nicht vor.
Die Studie referiert folgende Ergebnisse:
Eine relative Reduktion der 28-Tages-Letalität in der Gesamtkohorte um 17 % von 24,6
% auf 21,6 %; RR 0,83 (0,74 – 0,92), p < 0,001
Eine relative Reduktion der 28-Tages-Letalität bei initial beatmeten Patienten um
35 % von 40,7 % auf 29,0 %; RR 0,65 (0,51−0,82), p < 0,001
Eine relative Reduktion der 28-Tages-Letalität bei Patienten mit initialer Sauerstofftherapie
um 20 % von 25,0 % auf 21,5 %; RR 0,80 (0,70−0,92), p = 0,002
Einen relativen Anstieg der 28-Tages-Letalität bei Patienten ohne initiale Sauerstofftherapie
um 22 % von 13,2 % auf 17 %, RR 1,22 (0,93−1,61), p = 0,14
Vorläufige Bewertung der Studie
Es handelt sich um eine sehr große, randomisierte, aber nicht verblindete Studie mit
dem Endpunkt der Letalität.
Pathophysiologisch sind der nachgewiesene Effekt einer antiinflammatorischen Therapie
bei fortgeschrittenem Krankheitsstadium (signifikanter Effekt nur bei – schlecht definierter
– respiratorischer Insuffizienz sowie in der Subgruppe mit einer Symptomatik > 7 Tage
zum Zeitpunkt der Randomisierung) und ein potenziell ungünstiger Effekt im früheren
Erkrankungsstadium plausibel.
Die vorliegende Studiendokumentation ist als vorläufig anzusehen (nach Bericht Randomisierung
bis 8. 6. 2020, Datenbankschluss bereits 10. 6. 2020, dennoch Angabe von 95 % Vollständigkeit
der Verlaufsdokumentation bezüglich des Endpunktes), die aktuelle Bewertung bedarf
daher einer Re-Evaluation nach Vorliegen aller Daten.
Das Studiendesign war auf eine unkomplizierte und rasche Randomisierung möglichst
vieler Patienten in einer Situation eines durch die Pandemie stark belasteten Gesundheitssystems
ausgelegt, dafür wurden erhebliche Einschränkungen bezüglich der detaillierten Erfassung
der klinischen Charakteristika der eingeschlossenen Patienten, des klinischen Verlaufs
der Erkrankung und der Beschreibung der Standardtherapie in Kauf genommen, die die
Dateninterpretation limitieren. Soweit den verfügbaren Daten zu entnehmen ist, existierten
auch keinerlei standardisierte Vorgaben zum Management der respiratorischen Insuffizienz
innerhalb der Studienzentren. Dies ist kritisch insbesondere vor dem Hintergrund,
dass die Einteilung der respiratorischen Insuffizienz (kein Sauerstoff, Sauerstoff,
mechanische Beatmung) nach ihrer Therapie und nicht nach ihrem objektivierbaren Schweregrad
erfolgte.
Der Verlauf von COVID-19 ist variabel, sodass damit gerechnet werden muss, dass ein
Patient, der zum Zeitpunkt der Randomisierung keinen Sauerstoff erhielt, im späteren
Verlauf Sauerstoff benötigte und/oder maschinell beatmet werden musste. In dem aktuell
vorliegenden Manuskript finden sich jedoch keine klaren Angaben bezüglich einer Steroidgabe
bei einem Stadienwechsel.
Weitere Kritikpunkte der Studie umfassen den unverblindeten Medikamenteneinsatz, die
bisher fehlende Auswertung von Subgruppen (z. B. mit bzw. ohne pulmonale Komorbidität),
die fehlenden Daten zu (z. B. inflammatorischen) Biomarkern sowie die auf Deutschland
nicht direkt übertragbaren Letalitätsraten insbesondere in der Standardtherapiegruppe
bei Patienten ohne respiratorische Insuffizienz. 17 % der potentiell randomisierbaren
Patienten wurden ausgeschlossen, weil eine Indikation oder Kontraindikation für Dexamethason
vorlag oder Dexamethason nicht verfügbar war, ohne dass dies im Bericht spezifiziert
dargestellt wird. 9 % der Patienten hatten einen negativen SARS-CoV-2-Test, bei weiteren
9 % gab es zum Zeitpunkt der Studie noch kein Ergebnis; leider wurden diese Patienten
nicht näher charakterisiert. Daten zu Nebenwirkungen fehlen vollständig, und eine
detaillierte Aufarbeitung ist nach Studienprotokoll auch nicht zu erwarten. Auch Daten
zum längeren Follow-up noch hospitalisierter Patienten sind notwendig.
Diese Einschränkungen sind nach Ansicht der Autorengruppe als relevante Mängel der
Studie zu bewerten, die allerdings im Kontext der im Studiendesign festgelegten Priorisierung
eines raschen Einschlusses mehrerer tausend Patienten innerhalb weniger Wochen bei
dringlich notwendiger Evidenzgenerierung abgewogen werden müssen. Die hohe Anzahl
der randomisierten Patienten und der Letalitätsendpunkt lassen es dennoch aus Sicht
der Autorengruppe als geboten erscheinen, Konsequenzen für die Patientenversorgung
auf der Basis dieser vorläufigen Bewertung abzuleiten.
Einordnung der Studie
Die Dosis von 6 mg Dexamethason/Tag entspricht in etwa 180 mg Hydrokortison, was aus
Sicht potenzieller Nebenwirkungen weniger problematisch erscheint und in etwa der
empfohlenen Therapie beim therapierefraktären septischen Schock entspricht.
Die bisherige Studienlage außerhalb der etablierten Indikation eines refraktären septischen
Schocks für Patienten mit ambulant erworbener Pneumonie ist uneinheitlich und lässt
keine klare Empfehlung zu. Für Patienten mit ARDS war die Verwendung von Steroiden
gemäß einer Cochrane Meta-Analyse (n = 7 Studien mit insgesamt 851 Patienten)
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mit einer Reduktion der Letalität vergesellschaftet (RR 0,75; 95 % CI 0,59 – 0,95).
Eine kürzlich veröffentlichte prospektiv-randomisierte Studie an 277 Patienten mit
ARDS und überwiegend zugrundeliegender bakterieller Infektion zeigte ebenfalls eine
signifikante Letalitätsreduktion unter Dexamethason im Vergleich zu Placebo
7
. Hier waren die Patienten im Dexamethason-Arm mit 20 mg über 5 Tage und mit 10 mg
über weitere 5 Tage behandelt worden. Der Effekt auf die Letalität war in der Gruppe
der beatmeten Patienten signifikant. In weiteren Studien zum ARDS mit unterschiedlichen
Interventionen
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erhielten die Patienten in allen Studienarmen Steroide zwischen 16 % im Jahr 2010
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und 67,5 % im Jahr 2018
10
. Die Gabe von Steroiden bei Patienten mit schwerem ARDS entspricht somit teils gängiger
Praxis. Die Studien fokussierten jedoch überwiegend auf nicht viral bedingtes ARDS,
und eine Übertragbarkeit auf ein ARDS bei COVID-19 kann nicht vorausgesetzt werden.
Vor diesem Hintergrund muss der Anteil von Patienten mit Steroidgabe im Standardtherapiearm
der Recovery-Studie von 7 % betrachtet werden.
Empfehlung der Autorengruppe zum Einsatz von Dexamethason bei COVID-19
Auf der Basis der vorläufigen Bewertung dieser noch nicht begutachteten und nicht
finalen Studienvorveröffentlichung:
empfehlen wir
keinen
Einsatz von Dexamethason bei ambulanten Patienten oder bei hospitalisierten Patienten
mit COVID-19 ohne eine Indikation für eine Sauerstoffgabe und ohne andere klinische
Indikation, da hier eine Übersterblichkeit nicht ausgeschlossen werden kann und die
Effekte einer reduzierten Viruselimination potenziell überwiegen.
empfehlen wir in Analogie zu den vorläufigen Daten der Recovery-Studie den Einsatz
von Dexamethason 6 mg/d p. o. oder i. v. für bis zu 10 Tage bei Patienten mit COVID-19
und manifester schwerer respiratorischer Insuffizienz mit der Indikation zur Sauerstoffgabe
oder zur Beatmung, sofern keine Kontraindikationen vorliegen. Zu beachten ist hierunter
die Notwendigkeit einer engmaschigen Kontrolle und Einstellung der Blutglukose und
des Serumnatriums, einer regelmäßigen Evaluation potenzieller Superinfektionen sowie
das erhöhte gastrointestinale Blutungsrisiko
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.
halten wir zum jetzigen Zeitpunkt eine Empfehlung für oder gegen eine Dexamethasongabe
bei COVID-19-Patienten mit nicht klar definierter respiratorischer Insuffizienz (in
dieser Studie SpO
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unter 92 – 94 %) für
nicht
gerechtfertigt. Hier sollte die Entscheidung, eine Steroidtherapie zu initiieren,
individuell auf einer mehrdimensionalen Risiko-Nutzen-Abwägung hinsichtlich der respiratorischen
Insuffizienz, basierend auf z. B. Atemfrequenz, Ausmaß der CT-Verschattungen, bereits
etablierte prognostische Parameter, kurzfristiger Verlauf und Komorbiditäten, getroffen
werden.
Nicht berührt hiervon ist die unabhängig bestehende Indikation zur Steroidtherapie
bei zusätzlicher exazerbierter obstruktiver Atemwegserkrankung und beim therapierefraktären
septischen Schock.
Die vorliegende Stellungnahme gibt den Stand der Daten zum Zeitpunkt Ihrer ersten
Veröffentlichung am 1. 7. 2020 wieder. Eine Re-Evaluation dieser Empfehlung soll auf
der Basis der begutachteten Vollveröffentlichung der Daten erfolgen.