Die onkologischen Versorgungsstrukturen in Deutschland bedürfen einer Optimierung,
vor allem was den Zugang der Patientinnen und Patienten zur personalisierten Therapie
betrifft. Seit vielen Jahren schon hat Dr. med. Johannes Bruns als Generalsekretär
der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG) die onkologische Landschaft mitgestaltet. Grundlegend
für jede sinnvolle Veränderung ist für ihn die Transparenz auf allen Ebenen.
best practice onkologie:
Herr Dr. Bruns, wie ist es dazu gekommen, dass Sie als Facharzt der Chirurgie eine
politische Laufbahn eingeschlagen haben?
J. Bruns:
Vor meinem Leben als Mediziner und Facharzt für Chirurgie war ich Lehrer für Mathematik
und Sport mit Abschluss – ein Beruf, den ich aber nie ausgeübt habe. Da ich aber immer
schon Medizin studieren wollte, musste ich nach der Zuweisung des Studienplatzes für
Medizin einen Weg finden, dieses zweite Studium zu finanzieren. Zum Glück hatte ich
Kontakte zum Bundestag, die mir eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter im
Bereich Sportpolitik vermitteln konnten. In diesem Umfeld habe ich dann meine Affinität
zu Politik und Gesetzgebung entwickelt. Nach meiner Approbation habe ich im Universitätsklinikum
Bonn meinen Facharzt absolviert. Ich war als Assistent aber bereits so alt wie die
meisten Oberärzte. Nach dem Facharzt habe ich noch weiter an der Uni Bonn gearbeitet,
mich dann aber spontan beim Verband der Angestellten-Krankenkassen/Arbeiter-Ersatzkassen-Verband
(VdAK/AEK) beworben und bin dort auch angenommen worden. Mein damaliger Vorgesetzter
war etwa gleich alt und ging bereits kurz nach meinem Eintritt als Vorstand zur Techniker
Krankenkasse. Ich bin dann mit zitternden Beinen zu Herrn Prof. Dr. rer. pol. h. c.
Herbert Rebscher gegangen, der damals Vorstandsvorsitzender des VdAK/AEK war, und
habe gesagt, dass ich gern den freigewordenen Job übernehmen möchte. Daraufhin hat
er zweimal überlegt und hat dann geantwortet: „Dann lassen Sie uns das mal probieren.“
Anschließend bin ich fast sieben Jahre für den VdAK/AEK durch alle Gremien der Selbstverwaltung
gewandert und habe unter anderem die Bildung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit
im Gesundheitswesen (IQWiG) sowie des Koordinierungsausschusses als Vorgänger des
Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) und alles, was in der Zeit an strukturpolitischen
Maßnahmen gelaufen ist, begleitet. Ich habe mich schon ganz frühzeitig mit dem Thema
Qualitätssicherung in der Medizin beschäftigt, damals jedoch noch über alle Indikationen
hinweg – so z. B. mit der damals neu geschaffenen Qualitätsrichtlinie Niere, die in
ihrem Aufbau sehr revolutionär war. Dies war letztendlich auch ein Verdienst der Arbeitsgruppe,
in der ich den Vorsitz hatte. Es sind über die Zeit in meinem Umfeld viele Einzeldinge
entstanden, die aber immer etwas mit Versorgungsqualität und -transparenz zu tun hatten.
So habe ich mir in meiner Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestag und
im VdAK/AEK das politische Handwerkszeug aneignen können, zum Beispiel wie Gesetze
entstehen, wie man Stellungnahmen herausgibt, wo man nachfragen muss oder wen man
informieren muss. Solche Dinge lernt man nicht in der Klinik. 2006 bin ich dann von
Herrn Prof. Dr. med. Michael Bamberg, dem damaligen Präsidenten der Deutschen Krebsgesellschaft
(DKG), gefragt worden, ob ich nicht Lust hätte, Generalsekretär der DKG zu sein.
best practice onkologie:
Seit über 15 Jahren setzen Sie sich nun schon als Generalsekretär der DKG für die
Verbesserung der Krebsmedizin ein. Welche Errungenschaften in dieser Zeit waren für
Sie besonders wichtig?
J. Bruns:
Schon als Außenstehender und vor meiner Zeit bei der DKG hat mich die damals noch
sehr kühle Atmosphäre und Distanz der DKG zur Deutschen Krebshilfe (DKH) gewundert.
Denn Krebs ist zwar sehr präsent und eine relevante Erkrankung, ist aber zahlenmäßig
im Vergleich zu Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen überschaubarer. Deshalb
war mir klar, dass sich, um einflussreich zu sein, mehrere Organisationen in diesem
Feld zusammentun müssen. Als ich bei der DKG anfing, haben wir folglich versucht,
mit der DKH ein Kooperations- und Vertrauensverhältnis aufzubauen. Im Jahr 2012 wurde
in diesem Sinne ein Grundlagenvertrag abgeschlossen. Die DKH kümmert sich primär um
die Themen Patienten, Betroffene sowie Spendenakquise, und wir kümmern uns um das
Thema Wissenschaft, Versorgung und damit zusammenhängende Bereiche. Das ist eine sehr
gute Arbeitsteilung und da, wo wir politisch gemeinsam handeln können, tun wir das
auch. Die große Nähe mit der DKH ist sicherlich eines der wesentlichen Erfolge der
Arbeit bei der DKG in den letzten 16 Jahren. Darüber hinaus war ich an der Etablierung
des Nationalen Krebsplans beteiligt. Diesen haben wir als DKG 2008 gemeinsam mit der
Deutschen Krebshilfe, dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) und der Arbeitsgemeinschaft
Deutscher Tumorzentren (ADT) initiiert. Entstanden ist die konkrete Idee für den Nationalen
Krebsplan eigentlich in kleiner Runde während eines Pizzaessens gemeinsam mit Franz
Knieps, damals Abteilungsleiter im Bundesministerium für Gesundheit. Die Besonderheit
war, dass das BMG mit gemeinnützigen Organisationen zusammen Ziele erarbeiten wollte,
wie Menschen mit Krebs in Deutschland zukünftig besser versorgt werden sollten. Als
Partner für dieses Vorhaben haben wir bewusst die DKH und die ADT gewählt. Es ist
gar nicht so einfach, mehrere solcher Organisationen unter einen Hut zu bekommen:
Je mehr Beteiligte, desto schwieriger wird es, mit den institutionseigenen „Eitelkeiten“
– oder sagen wir besser: Besonderheiten – umzugehen. Denn man kommt nur voran, wenn
man in solidarischem Gleichschritt die Individualität der einzelnen Organisationen
berücksichtigt.
best practice onkologie:
Hilft Ihnen Ihr pädagogischer Hintergrund bei schwierigen Verhandlungen?
J. Bruns:
Für das Eitelkeitsmanagement habe ich sicherlich etwas aus dem Bereich Schule mitgenommen,
aber ich kann und konnte nur wenig praktische Erfahrung aus dem Umgang mit Schülern
einbringen, da meine Laufbahn als Lehrer bereits mit meinem Examen geendet hat. Mir
hilft hier eher meine Erfahrung als Chirurg. Denn die Chirurgie hat mich gelehrt,
richtig hinzuschauen und konsequent bei der Sache zu bleiben und dabei nicht hektisch
zu sein. Der medizinische Alltag hat mich auch gelehrt, dass man fast immer mindestens
15 s Zeit hat, um nachzudenken, was das richtige Vorgehen ist. Ähnlich konsequent
muss man in Verhandlungssituationen unter Adrenalinstress nachdenken. In der Regel
habe ich immer für mein Verhalten beherzigt: nicht hektisch, nicht cholerisch und
nicht feindselig. Besser ist es zu fragen: „Was ist am Ende das gemeinsame Ziel? Wo
wollen wir hin?“
Die Chirurgie hat mich gelehrt, richtig hinzuschauen und konsequent bei der Sache
zu bleiben
best practice onkologie:
Wie schätzen Sie die Qualität der Versorgung in Deutschland insgesamt ein – wie gut
werden Krebspatienten hierzulande betreut?
J. Bruns:
Diese Frage ist nicht so einfach zu beantworten. Wir bemühen uns seit Jahrzehnten,
eine gewisse Versorgungstransparenz herzustellen. Wichtige Instrumente hierfür sind
einerseits die Zertifizierung von Krebszentren und andererseits klinische Krebsregister.
Deshalb waren die flächendeckenden klinischen Krebsregister auch das erste Ziel im
Nationalen Krebsplan, das wir erfolgreich umgesetzt haben. Es hat natürlich lange
gedauert, bis wir hier die ersten Früchte ernten konnten. An der Auswertung der Daten
arbeiten wir bereits.
Im Jahr 2023 feiern wir bereits das 20-jährige Jubiläum der ersten zertifizierten
Brustzentren, und wenn man alles betrachtet, was sich in den letzten 20 Jahren entwickelt
hat, sind wir sehr gut vorangekommen. So werden fast 90 % der erstmalig Betroffenen
mit Mammakarzinom in zertifizierten Brustkrebszentren diagnostiziert und behandelt.
Ein Beleg für die gute Versorgung in Krebszentren zeigen die Ergebnisse der Studie
WiZen (Wirksamkeit der Versorgung in onkologischen Zentren). Darin wurden bundesweite
AOK-Abrechnungsdaten sowie Daten aus vier regionalen klinischen Krebsregistern analysiert.
Die im Juni 2022 präsentierten Daten zeigen, dass Patientinnen und Patienten mit Krebs
einen Überlebensvorteil haben, wenn sie in zertifizierten Zentren behandelt wurden.
Ihre Sterblichkeitsrate lag bei allen acht untersuchten Krebserkrankungen niedriger
als bei nicht von der DKG zertifizierten Krankenhäusern. Im Bereich der Krebszentren
wissen wir also relativ gut, wo es hapert und wo man noch etwas besser machen kann,
wohingegen uns noch die Transparenz bei nicht zertifizierten Krankenhäusern fehlt.
Das ist noch ein blinder Fleck. Ein weiterer ist die hausärztliche Versorgung. Es
bleibt demnach die Aufgabe, zu analysieren, wie die onkologische Versorgung dort aufgestellt
ist.
best practice onkologie:
Mit welcher Strategie lässt sich die Versorgung verbessern?
J. Bruns:
Transparenz ist glaube ich das Allerwichtigste. Ich sage immer, wenn man intelligenten
Menschen transparent zeigt, was sie machen und wie das Ergebnis ist, dann kommen sie
schon selbst auf sinnvolle Ideen. Transparenz, Transparenz, Transparenz – das ist
das Grundprinzip. Daneben sollte man in der Regel Hilfe anbieten, niemanden direkt
sanktionieren oder vor den Kopf stoßen und sich bewusst sein, dass wir grundsätzlich
jeden onkologisch Tätigen heute und in Zukunft brauchen. Nur bei jenen, die sich widerspenstig
notwendigen Neuerungen verschließen, muss man auch mal andere Wege beschreiten.
Transparenz, Transparenz, Transparenz – das ist das Grundprinzip
best practice onkologie:
Welche Verbesserungen konnten diesbezüglich durch den Nationalen Krebsplan bereits
erzielt werden und wo hapert es weiterhin?
J. Bruns:
Der erste wichtige Punkt war, wie gesagt, die Einführung der klinischen Krebsregister.
Zudem haben wir mit dem Krebsfrüherkennungs- und -registergesetz die Früherkennung
vorangebracht, unter anderem mit dem Einladungssystem zur Früherkennung von Darm-
und Gebärmutterhalskrebs. Der nächste Schritt war eine Initiative zur Unterstützung
der Krebsberatungsstellen von Landeskrebsgesellschaften und anderen Hilfsorganisationen,
die Betroffene mit Krebs zu ihrer besonderen sozialrechtlichen Situation und ihrer
psychischen Belastungslage beraten und unterstützen. Diese Beratungsstellen waren
bis dahin nur spendenfinanziert. Im Rahmen des Nationalen Krebsplans haben wir ein
flächendeckendes System etabliert und die Finanzierung der Beratung gesetzlich verankert.
Der nächste wesentliche Punkt ist die Auswertung der Daten von klinischen Krebsregistern
auf Bundesebene. Hierfür hat das Kabinett im Februar 2021 bereits einen Entwurf beschlossen
für das „Gesetz zur Zusammenführung von Krebsregisterdaten“. Derzeit werden die Daten
der Krebsregister der Länder an das Zentrum für Krebsregisterdaten beim Robert Koch-Institut
weitergegeben, dieser zu übermittelnde Datensatz soll um Daten zur Therapie und zum
Verlauf von Krebserkrankungen erweitert werden. Auch soll eine Verknüpfung von Krebsregisterdaten
mit anderen Daten möglich werden. Das ist jetzt aber aufgrund des Regierungswechsels
und der COVID-19-Pandemie ein bisschen ins Stocken geraten.
Der erste wichtige Punkt war die Einführung der klinischen Krebsregister
best practice onkologie:
Der Zugang von Krebskranken zu Präzisions-Therapeutika in Deutschland ist noch holprig,
wie Sie und Ihre Kolleg*innen der DKG in einem aktuellen Whitepaper festgestellt haben.
Woran liegt das?
J. Bruns:
Der Zugang zu zielgerichteten Medikamenten ist in der Regel im Bereich der zugelassenen
Medikamente abhängig von einem vorher gemachten molekularen oder genetischen Test.
Im ambulanten Bereich wurde vor einigen Jahren eine Reform des einheitlichen Bewertungsmaßstabs
(EBM) erwirkt, sodass die niedergelassenen Pathologen heute in der Lage sind, solche
Tests niedergelassenen Kollegen bei Anfrage zur Verfügung zu stellen. Im stationären
Bereich ist ein solcher Test immer noch ein Eigeninvestment der Kliniken. Denn hier
folgen die Kassen dem Prinzip der DRG (diagnosebezogene Fallgruppen), was bedeutet,
wenn die Kliniken diese Tests durchführen und bezahlen, dann werden sie je nach Menge
irgendwann auch die Finanzierung dafür bekommen. Das ist eine Etablierung auf Raten.
Deshalb werden diese Tests eben nicht problemlos zur Verfügung gestellt. Wenn Betroffene
auf die Gutwilligkeit der Klinik angewiesen sind, dann ist das im Sinne des aktuellen
Wissenstandes nicht korrekt, zumal nicht bei der Bedeutung, die zielgerichtete Medikamente
heute haben. Die Durchführung eines Tests zur Anwendung zugelassener Medikamente sollte
nicht davon abhängig sein, wo die Diagnose gestellt wird.
Wenn Betroffene auf die Gutwilligkeit der Klinik angewiesen sind, dann ist das nicht
korrekt
best practice onkologie:
Wie lässt sich diese Situation ändern?
J. Bruns:
Wir hatten bereits auf eine Gesetzesinitiative hingearbeitet, die eine Änderung im
§116b zur ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung (§116b SGB V) angestrebt hat,
sodass der G‑BA Institutionen ausloben kann, in denen unabhängig davon, wo der Patient
ist und wo der Arzt herkommt, ein solcher Test durchgeführt werden kann. Das ist aber
dann dem §64e (§64e SGB V: Modellvorhaben zur umfassenden Diagnostik und Therapiefindung
mittels Genomsequenzierung bei seltenen und bei onkologischen Erkrankungen, Verordnungsermächtigung)
zum Opfer gefallen. Dieser neue Paragraf sieht vor, dass Krankenkassen die Aufgabe
haben, ein sog. Modellvorhaben zu organisieren, das Zentren für personalisierte Medizin
auslobt. Diese können Patienten aufnehmen, für die es keine zugelassenen Therapiemöglichkeiten
mehr gibt, und auf Kosten der Krankenkassen deren gesamtes Tumorgenom sequenzieren,
um daraus neue therapeutische Ansätze zu generieren. Die Auswahl geeigneter Leistungserbringer
auf Bundesebene ist zwar strukturpolitisch toll, aber hierbei geht es um die genetische
Testung im Bereich des Off-Label-Use und nicht um molekulare Tests für zugelassene
Medikamente. Unser §116b-Vorschlag war damit vom Tisch, denn die Politikerinnen und
Politiker haben nicht verstanden, dass der §64e und die Finanzierung von Tests für
die zugelassenen Indikationen im klinischen Bereich zwei unterschiedliche Dinge sind.
Wir haben jetzt schon so viele Papiere dazu geschrieben, wir haben immer wieder darauf
aufmerksam gemacht, wir müssen jetzt erneut eine günstige Minute abwarten und dann
diese Papiere wieder aus der Aktentasche herausholen. Im Moment kommen wir bei dem
Thema nicht gut weiter.
best practice onkologie:
Können Projekte wie das „nationale Netzwerk Genomische Medizin“ (nNGM) eine hochwertige
Diagnostik und Therapie in der Breite unterstützen?
J. Bruns:
Das Netzwerk Genomische Medizin (NGM), spezifisch für Lungenkrebs in Köln, wird ebenfalls
durch die Krankenkassen unterstützt und ist einer der Vorgänger für das Modellvorhaben
nach §64e SGB V. Ziel des NGM war es, in Nordrhein-Westfalen bei jedem Patienten mit
einem fortgeschrittenen oder nicht kurativ behandelbaren Lungenkarzinom eine umfassende
molekulare Diagnostik durchzuführen. Damit soll und sollte die personalisierte Therapie
in der Routineversorgung von Betroffenen mit Lungenkrebs implementiert werden. Mittlerweile
ist dies schon ein nationales Netzwerk Genomische Medizin (nNGM) Lungenkrebs, in dem
sich ca. 20 Netzwerkzentren bundesweit zusammengeschlossen haben. Es hat aber fast
15 Jahre gedauert, um an dieser Stelle ansatzweise eine Flächendeckung zu erreichen,
auch was die Abdeckung bei den Kassen angeht, die bei über 80 % liegt. Nicht alle
Kassen haben sich angeschlossen, denn es ist eine Vertragslösung und immer noch keine
Regelversorgung. Die Frage ist: Ist personalisierte Medizin für jeden Patienten zugänglich,
der es bräuchte? Und da muss man heute noch sagen, die entscheidendste und innovativste
Entwicklung der letzten Jahre ist an dieser Stelle strukturpolitisch noch nicht komplett
umgesetzt. Es ist immer noch nicht nachvollziehbar, wieviel Prozent der Patientinnen
und Patienten zum Beispiel mit Lungenkrebs, die auf bestimmte Mutationen getestet
werden müssten, in Deutschland auch wirklich getestet werden. Im Moment prüfen wir,
ob man das mittelfristig auch über die Krebsregister erfassen kann. Allerdings laufen
diese der Versorgung immer ein Stück weit hinterher. Man müsste Instrumente haben,
die anzeigen, wenn jemand noch nicht getestet wurde. Die beste Kontrolle wäre es,
so transparent zu sein, dass sogar die Patientinnen und Patienten über nötige Tests
Bescheid wissen und diese einfordern. Davon sind wir aber noch weit entfernt.
best practice onkologie:
Wie kann bundesweit eine hochwertige Versorgung gewährleistet werden?
J. Bruns:
Die Leistungsplanung, also die Festlegung, wer welche Therapien und diagnostische
Methoden durchführen darf, muss überarbeitet werden. Denn heute wird die Onkologie
immer noch im Rahmen der inneren Medizin geplant. Das bedeutet, dass nicht das Land,
sondern die Klinik entscheidet, ob sie Onkologie anbietet oder nicht. In Nordrhein-Westfalen
ist man da momentan auf dem Weg, solche Planungsprozesse ein Stück weit so aufzusetzen,
dass man sehr selektiv plant nach Qualitätsindikatoren, nach Leistungsvermögen und
letztendlich auch nach Strukturvorgaben, so wie wir es in unseren zertifizierten Krebszentren
machen. Ganz einfach gesagt, kann also keiner ein Zentrum für Gynäkologie führen,
wenn kein Gynäkologe zur Verfügung steht. Im Moment sind circa 460 Kliniken bei der
DKG mit zertifizierten Organzentren registriert. Das sind die Kliniken, von denen
wir behaupten würden, dass sie die Onkologie beherrschen und durchführen sollten.
Zudem wird in den Zentren darauf Wert gelegt, dass ambulant und stationär zusammengearbeitet
wird, trotz der Finanzierungshürden.
best practice onkologie:
Wie lässt sich die sektorenübergreifende Versorgung leichter meistern?
J. Bruns:
Die Übergänge zwischen stationär und ambulant sollten mehr oder weniger für die Behandelten
weder finanziell noch in der Versorgung merkbar sein. Das ist möglich und das ist
auch der Grund, warum wir verlangen, dass uns ein Zentrum, das bei uns zertifiziert
werden möchte, Kooperationsvereinbarungen nachweisen muss. Außerhalb der zertifizierten
Zentren besteht aber weiterhin keine Transparenznotwendigkeit, was die Erfahrung der
Behandelnden und die Patientenzufriedenheit angeht.
best practice onkologie:
Wie trägt die DKG noch dazu bei, die Qualität der onkologischen Versorgung zu erhalten
bzw. zu verbessern?
J. Bruns:
Unser Ansinnen ist es, dass für all die Ideen einer verbesserten onkologischen Versorgung
die politischen Rahmenbedingungen geschaffen werden: also Initiativen zur Etablierung
klinischer Krebsregister, zur Finanzierung von Krebsberatungsstellen und zur Bildung
einer Auswertungsstelle von Krebsregisterdaten auf Bundesebene. Jetzt wird die elektronische
Patientenakte ein Riesenthema werden. Hier geht es nicht nur darum, dass alle Beteiligten
auf die Patientendaten zugreifen können, sondern es gilt noch die spannende Frage
zu klären, welche Daten in der Akte stehen sollen. Steht alles drin, was die Klinik
und was der Niedergelassene braucht? Wir müssen also mit der Politik darüber diskutieren,
dass man nicht nur die Infrastruktur braucht, sondern auch eine wirklich durchdeklinierte
Feldertafel und einen Abstimmungsprozess mit Kliniken und niedergelassen onkologisch
Tätigen. Es kann ja nicht sein, dass man dort nur ein PDF von einem Arztbrief hinterlegt.
Dann brauche ich keine elektronische Patientenakte. Die Daten sollen ja zeitnah verarbeitbar
sein, und da ist noch viel zu tun. Wir müssen uns nicht allein um die onkologisch
Tätigen bemühen, sondern uns für die Patientinnen und Patienten um die onkologische
Versorgung im Bundestag, in Ministerien und an vielen anderen Stellen kümmern. Das
ist unsere Aufgabe.
Wir müssen uns für die Patientinnen und Patienten um die onkologische Versorgung kümmern
best practice onkologie:
Ein wichtiges Ziel der DKG, um eine qualitativ hochwertige Krebsmedizin zu erreichen,
ist die Entwicklung evidenzbasierter, unabhängiger Behandlungsleitlinien. Wie lässt
sich die Umsetzung der Empfehlungen im Alltag beschleunigen?
J. Bruns:
Jedes Zertifizierungsverfahren für ein Krebszentrum fußt auf der aktuellen Leitlinie
und wird auch entsprechend aktualisiert. Davon profitieren auch die Niedergelassenen,
die mit den Zentren zusammenarbeiten. Die große Lücke ist, was bei den Hausärztinnen
und Hausärzten passiert. Da ist die spannende Frage, ob diese zum Beispiel wissen,
wie man bei einem Rezidiv vorgehen muss. Da geht es noch nicht einmal darum, ob sie
leitliniengerecht behandeln, sondern ob sie ihre Patientinnen und Patienten dorthin
schicken, wo leitliniengerecht therapiert wird.
Die Leitlinie ist zwar eine sehr wichtige Orientierung, aber der Qualitätsschub in
der Onkologie ist dadurch entstanden, dass wir die Behandler untereinander in interdisziplinären
und intersektoralen Tumorboards vernetzt haben. Ich sage immer: Wer einen Patienten
oder eine Patientin allein behandelt – mit oder ohne Leitlinie – begeht einen Behandlungsfehler.
Deshalb ist ein Kernpunkt der zertifizierten Zentren die prospektive Besprechung von
Patientenfällen in den Tumorboards. Denn jedes Tumorboard muss die aktuelle Forschungssituation
so gut wie möglich erfassen und auch neue Studien mit einbeziehen, die in der Leitlinie
noch keine Rolle spielen. Den Stoff liefert die Leitlinie, den Anzug müssen die Teilnehmenden
des Tumorboards schneidern. Das Tumorboard ist eine der wesentlichen Erfindungen,
auch besonders wegen der Beteiligung von Niedergelassenen; denn dadurch wird versucht,
die Sektorengrenzen abzubauen oder zumindest zu überbrücken. Wir überlegen uns jetzt,
wie man die Qualität der Tumorboards untereinander vergleichbar machen kann, also
sozusagen eine Qualitätssicherung der Qualitätssicherung.
Den Stoff liefert die Leitlinie, den Anzug müssen die Teilnehmenden des Tumorboards
schneidern
best practice onkologie:
Bei der „Nationalen Dekade gegen Krebs“ gehört die DKG zum Strategiekreis und hat
den Mitvorsitz in der Arbeitsgruppe „Wissen generieren durch Vernetzung von Forschung
und Versorgung“. Welche Ansätze werden hier verfolgt?
J. Bruns:
Onkologie, das merkt man schon an dem Thema personalisierte Medizin, lebt immer davon,
dass man sich an der Grenze des schon Bekannten hin zum Neuen bewegt. Und das sollte
strukturiert erfolgen. Wir haben früher immer gesagt, dass eigentlich alle Patientinnen
und Patienten mit Krebs in Studien behandelt werden sollten, denn dann hätte man diese
Versorgungs- und Auswertungskontrolle. Einer der wesentlichen Punkte ist, dass man
die Intelligenz, die in der Versorgung onkologischer Patientinnen und Patienten zur
Anwendung kommt, auswertbar machen muss und damit Wissen generiert. Deshalb adressiert
die Arbeitsgruppe die Vernetzung und systematische Auswertung von Forschungs- und
Versorgungsdaten. Insofern ist diese Arbeitsgruppe die spannendste, aus der heraus
wir gerade ein Gutachtenauftrag erstellt haben, in dem der gesetzliche Rahmen für
das Instrument der wissensgenerierenden Versorgung angeschaut werden soll, um dann
Ideen darzustellen, wie dieser gestaltet sein müsste. Das ist sozusagen ein Generalangriff
gegen die Aussage vieler Krankenkassen, sie seien für Forschung nicht zuständig. Der
Vorteil der wissensgenerierenden Versorgung ist, dass sie nicht nur für die Onkologie
funktioniert, sondern dass sie relativ schnell auch zum Beispiel bei Diabetes umsetzbar
wäre.
Der Vorteil der wissensgenerierenden Versorgung ist, dass sie nicht nur für die Onkologie
funktioniert
best practice onkologie:
Stichwort interprofessionelle Versorgung: Onkologisch versierte Pflegekräfte scheinen
eher Mangelware zu werden. Ist das auch Ihr Eindruck?
J. Bruns:
Wir werben ja immer dafür, dass die 120-Stunden-Kurse zur onkologischen Fachpflegekraft
durchgeführt werden. Nur wenn die jeweilige Klinikleitung das möchte, lässt sie ihre
Pflegekräfte entsprechend fortbilden, manche sind allerdings der Meinung das sei „learning
on the job“, wofür kein Kurs nötig sei. Also da ist man noch nicht wirklich gut aufgestellt,
und es wären viel mehr onkologische Fachpflegekräfte nötig. Wir kämpfen mit dem gesamten
Pflegenotstand und sind eher dabei, Arbeitslose zur Pflegekraft zu machen als Pflegende
zu Fachpflegenden.
best practice onkologie:
Die DKG repräsentiert Deutschland in internationalen Organisationen, wie der Union
for International Cancer Control (UICC), der Association of European Cancer Leagues
(ECL) und der Europäischen Union. Welche Ziele verfolgen Sie in diesen Gremien?
J. Bruns:
Wir suchen uns immer Organisationen aus, die eine gewisse vergleichbare Repräsentanz
haben, und bei der ECL ist das so, auch wenn es nur eine kleine Organisation ist.
Zumindest sind wir dort in der Lage mitzuhören, wie die Versorgung in Holland oder
Schweden funktioniert, das ist primär eher ein intellektueller Austausch. Es fängt
erst langsam an, dass wir gemeinsam Strategien verfolgen. So haben wir jetzt eine
Arbeitsgruppe zum Thema Zertifizierung in Europa, da müssen wir mal schauen, wie die
funktioniert. Das Wesentliche am europäischen Austausch ist, spannende Konzepte zu
generieren, ohne eine Umsetzungsstrenge zu haben. Der Europeʼs Beating Cancer Plan
der Europäischen Kommission soll die Prävention von Krebs sowie die Behandlung und
die Versorgung von Patientinnen und Patienten EU-weit verbessern. Der Plan hat allerdings
den Nachteil, dass keine Organisation dahintersteht, die die Umsetzung der Maßnahmen
in den einzelnen Mitgliedsstaaten durchsetzen kann.
best practice onkologie:
Blick ins Ausland: Gibt es Ihrer Ansicht nach ein Land, dass die Versorgung von Krebspatienten
besser organisiert als Deutschland? Was könnten wir uns von dort abschauen?
J. Bruns:
Dänemark, Finnland und Schweden haben sich schon von Anfang an darauf fokussiert,
onkologische Zentren zuzulassen, das machen die sehr viel besser als wir. In diesen
Staaten, die zum Teil so viele Einwohner haben wie Berlin, gibt es deshalb nur ein
oder zwei Kliniken, die Onkologie anbieten. Denn sie müssen mit dem verfügbaren Personal
haushalten. Da sind wir noch ein bisschen in einer Überversorgungsituation. Auch in
der Krebsregistrierung sind diese Staaten ganz gut, und in der Digitalisierung sind
sie sehr viel besser. Zudem fassen sie die staatliche Forschungsorganisation wie bei
uns das Deutsche Krebsforschungszentrum, die Spendenorganisation wie bei uns die DKH
und die Wissenschaftsorganisation wie bei uns die DKG in einer Organisation zusammen.
So eine Organisation, die in der Onkologie auf alles schaut, hat einen ganz anderen
politischen Impact. Also wenn in Dänemark der CEO der dortigen Krebsorganisation etwas
sagt, dann hört die amtierende Regierungschefin zu, und insofern funktionieren die
Sachen dort sehr viel schneller. Wir haben es insgesamt nicht schlecht, aber im Gegensatz
zu diesen Staaten haben wir in Deutschland mit dem Föderalismus ein grundsätzliches
Gewicht am Fuß.
best practice onkologie:
Was wollen Sie in Ihrer Amtszeit noch erreichen?
J. Bruns:
Mein Hauptziel ist noch nicht mal von großer onkologischer Spurweite, ich möchte meine
Ideen so übergeben, dass sie auch nachhaltig umgesetzt werden. Deshalb bin ich dabei,
mich an manchen Stellen entbehrlich zu machen und die Themen Zertifizierung, Leitlinien,
Patienteninformation und ähnliche Dinge verantwortlich weiterzugeben. Mir sind noch
die Punkte Auswertung und Zentrumsbildung wichtig, also die selektive Planung von
onkologischen Versorgern.
best practice onkologie:
Herr Dr. Bruns, vielen Dank für das interessante Gespräch.
Das Interview führte: Sabrina Kempe, Dresden
Fotos: Dennis Weinbörner
Zur Person
Dr. med. Johannes Bruns bekleidet seit Oktober 2006 das Amt des Generalsekretärs der
Deutschen Krebsgesellschaft (DKG) und gehört zu den Gründervätern des Nationalen Krebsplans
in Deutschland. Zuvor leitete der Facharzt für Chirurgie sieben Jahre lang die Abteilung
für medizinische Grundsatzfragen/Leistungen beim Verband der Angestellten-Krankenkassen
e. V. (VdAK). Seine medizinische Erfahrung erlangte Bruns als Arzt erst in der Abteilung
für Chirurgie und anschließend in der Abteilung für Unfallchirurgie am Universitätsklinikum
Bonn. Die erste Berührung mit der Politik erfuhr er als Mitarbeiter im Bundestag nach
seinem Staatsexamen in Mathematik und Sportwissenschaften parallel zu seinem Medizinstudium.