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      Viel bejubelt, aber nicht unproblematisch

      brief-report
      hautnah dermatologie
      Springer Medizin

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          Abstract

          Durch die Corona-Krise wurde das Medizinstudium digitalisiert. Aber ist die Wissensvermittlung über Video-Vorlesungen wirklich das neue universitäre Nonplusultra? Vieles spricht dagegen. Liest man medizinische Fachzeitschriften, aber auch entsprechende Feuilletonbeiträge in renommierten Zeitungen, kann man rasch den Eindruck gewinnen, die Corona-Krise habe zumindest einen Vorteil: Sie katapultiere die Gesellschaft - vor allem Ökonomie, Naturwissenschaft und Medizin - endlich in die Zukunft. Es gehört zum guten Ton, die zu Seuchenzeiten intensivierte Digitalisierung des Alltags als willkommene "Nebenwirkung" zu interpretieren. Dank der COVID-19-Krise habe man endlich, so die kühne, aber angesagte These, die (digitalen) Zeichen der Zeit erkannt. Es ist in der Tat kaum vorstellbar, wie die Medizin ohne den digitalen Fortschritt der letzten Jahre durch die Seuchenmonate gekommen wäre. Zukunftsexperten sprechen darum längst von einer IT-beherrschten Wissenschaft der Zukunft. Auch Industrie, Ökologie und nicht zuletzt viele Professoren bejubeln die Digitalisierung der Gesellschaft. Ist "digital" das Nonplusultra? Unter dem Schlagwort "Digitale Zukunft: Lernen. Forschen. Wissen" stimmt auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung in diesen Chor ein. Die Bildungsoffensive für die "Digitale Wissensgesellschaft" erscheint als Nonplusultra jeder Zukunftsplanung: Es wird der Eindruck erweckt, dass Studierende, die auf einen solchen "IT-Ready Technical Support" auch nur teilweise verzichten, Karriere und fachliches Ansehen riskieren. Dem soll hier nicht widersprochen werden. Problematisch ist jedoch, dass das digitale Know-how plötzlich als wichtigstes Bildungswissen gilt, das die traditionelle Schul- und Universitätsbildung obsolet erscheinen lässt. Im Gegensatz zu früheren Studien wird plötzlich behauptet, digital basierte Lernprozesse seien - unabhängig vom Fach - höchst effektiv. Zudem wird darauf verwiesen (und das ist gefährlich!), wie sich so Räume, Personal und Geld einsparen lassen. Als "guter" Professor dürfte künftig gelten, wer nicht nur seine Vorlesungsunterlagen ins Netz stellt und seine Publikationen öffentlich macht, sondern zunehmend, wer mit Studenten möglichst häufig digital verkehrt. Nicht nur die Präsidentin der Fernuniversität Hagen lobt die Entwicklung zum komplett digitalen Unterricht; auch zahlreiche Vorstände "normaler" Universitäten und Hochschulen zeigen sich begeistert. Vieles spricht dafür, dass die Corona-bedingte Form des Medizinstudiums aus dem Homeoffice für künftige Reformen Modell stehen soll. Schon in der Schule soll darauf vorbereitet werden. Das Fehlen von Laptops für alle Schüler gilt deshalb vielen Schulkritikern bereits als größeres Übel als der marode Zustand mancher Schulgebäude. Akademischer Diskurs ohne persönlichen Austausch? Dabei gibt es gute Gründe, die Vorrangstellung der IT in der Lehre in Frage zu stellen. Dies gilt auch für die ärztliche Ausbildung. Georg Krausch, Präsident der Universität Mainz, schrieb vor kurzem, für den akademischen Diskurs sei der persönliche Austausch unerlässlich. Bloße Wissensvermittlung könne digital zwar funktionieren, zum Verständnis komplexerer wissenschaftlicher Sachverhalte reiche das aber nicht aus. Sein Kollege Christian Kirchmeier, Medienwissenschaftler an der Universität Groningen, verweist ebenfalls darauf, dass Übertragungen in Video-Lehrveranstaltungen niemals Gespräche ersetzen können, die seit der Antike eine Grundbedingung wissenschaftlich kritischen Denkens sind. Der Dialog zwischen Lehrenden und Lernenden, der beide Seiten inspiriert, erreiche in einer Videokonferenz niemals die Qualität und Spannung traditioneller Lehrveranstaltungen. Es fehle die Spontaneität und jener aus dem Augenblick heraus geborene Mut, der bei Lehrenden und Lernenden die Phantasie, kritisches Denken und unerwartete "Geistesblitze" fördere. Ziel: umfassende Vernetzung Wohlgemerkt, es geht hier nicht um die Nutzung von Laptops durch das studentische Publikum, das längst zum Alltagsphänomen geworden ist. Die Bildungsplanung von heute zielt vielmehr auf eine umfassende Video-Welt und Vernetzung. Viele Professoren sind dank Corona schon heute die Portrait-Videos der Studierenden gewöhnt, die persönliche Grundstimmungen (Neugier, Faszination, Amüsiertheit, Skepsis, Zweifel, Resignation usw.) kaum vermitteln. Dies scheint viele Bildungsplaner genausowenig zu stören wie die Tatsache, dass es in der Praxis immer wieder technische Probleme gibt. Selbst in den mit öffentlichen Geldern perfektionierten öffentlich-rechlichen Medien staunt man über quälende zeitliche Verzögerungen zwischen Frage und Antwort, bis die befragten Persönlichkeiten (im Fernsehen in der Regel per Video zugeschaltete Politiker oder Korrespondenten vor Ort, im Video-Unterricht Studierende und Professoren) antworteten können. Erfahrene Studierende verzichten darum auf Fragen und Diskussionen oft ganz und klinken sich früh aus Bild und Ton aus. Um effektiv zu lernen, sammelt man lieber die zur Verfügung gestellten Folien, die später zu Hause durchgearbeitet werden. Falls man per Skype zugeschaltet ist, zerstören auch noch die häufig unvorteilhaften, oft zum Spott reizenden Portraits das Gespräch zwischen Dozenten und Studenten. Viele Studenten navigieren sich daher im aktuellen Sommersemester, das doch digital in die Zukunft weisen soll, eher stumm und unsichtbar durch die Universität. Von einer Gleichwertigkeit zu Lehrveranstaltungen mit präsenten Dozenten kann nicht ernsthaft gesprochen werden. Noch mehr gilt dies übrigens für Video-Veranstaltungen in den Geisteswissenschaften, in denen kluge Planer das Problem der "Massenveranstaltung" digital kompensieren wollen: Ob 500 oder 1.000 Zuhörer "online" macht aus ihrer Sicht keinen Unterschied. Sehnsucht nach analogen Veranstaltungen Kein Wunder, dass nach jüngsten Umfragen eine Mehrheit der Studenten in Deutschland (56,7 %) eine Rückkehr zur Präsenzlehre herbeiwünscht (studentenrabatt.com) und nur 43,7 % ein digitales Lernen auch für das kommende Wintersemester befürworten. Corona-bedingt dürften vielerorts jedoch "Hybridlösungen" angestrebt werden. Gespräche mit den Betroffenen machen freilich schnell klar, warum diese sich - entgegen dem öffentlichen Eindruck - nach "analogen" Lehrveranstaltungen zurücksehnen: Nicht, dass hier alles Gold war, was glänzte - didaktisch unbegabte Wissenschaftler gab es und wird es immer geben und demonstrierte Routine nahm schon früher mancher Lehrveranstaltung ihren Glanz. Aber es dürfte außer Zweifel stehen, dass der Lerneffekt ungleich größer war. Lernprozesse sind kompliziert und von der Persönlichkeit und Rhetorik der Lehrenden über die Aura des Hörsaals bis hin zur eingestreuten Anekdote und zum passenden Witz, von dem die Studierenden noch Jahrzehnte später erzählen können spielen dabei viele Faktoren eine eminent wichtige Rolle. In der Video-Veranstaltung wird das weitgehend erschwert, zumal man - ein Phänomen der neuen westlichen Universität - schnell am Pranger stehen kann. Nicht zuletzt ändert sich an der Video-geprägten Universität auch die akademische Gemeinschaft, die vom spontanen Austausch über das eben Gehörte und Erfahrene lebt. Der Sinn eines akademischen Campus (der das eigentliche Geheimnis vieler anglo-amerikanischen Eliteuniversitäten ist), die Nähe zu Professoren und Kommilitonen sowie zur Bibliothek, die Bildung von Hörsaal-Freundschaften, die Möglichkeit, spontan über wissenschaftliche Fragen zu diskutieren oder Gastvorträge zu hören und dergleichen mehr ist in Deutschland allerdings schon seit Jahren abhandengekommen. Michel Houllebecq hat die These aufgestellt, dass das Coronavirus einen seit Jahren laufenden Prozess beschleunigt, in dem physische Kontakte abgebaut werden. Dieser direkte zwischenmenschliche Kontakt, der Blick in das Gesicht des Gegenübers, wird aktuell schon durch das Tragen der leider notwendigen Schutzmasken gestört. Gerade hier spüren wir schmerzlich, was dieser direkte physische Kontakt bewirkt, auf den das klassische Gespräch nicht verzichten kann - aber eben auch nicht der klassische Unterricht. Die Persönlichkeit des Lehrenden geht im virtuellen Gespräch oftmals unter oder eine schauspielerische Begabung, die mangelnden Inhalt verschleiert, bricht sich hier Bahn (was noch schlimmer ist), sodass sich die Videosequenz einem Videospiel angleicht. Fazit Die Online-Übertragung von Lehrveranstaltungen sollte gerade in der Medizin die Ausnahme bleiben. Diese bleibt trotz aller naturwissenschaftlichen Komponenten eine Humanwissenschaft. Das ändert natürlich nichts daran, dass digitale Techniken im ärztlichen Alltag unverzichtbar sind. Telemedizinische Anwendungen, die etwa eine bessere Versorgung von Menschen auf dem Land ermöglichen, sowie die intensive Forscherkooperation, die seit Jahren vom digitalen Kontakt auf vielen Ebenen profitiert, gehören - um nur zwei Beispiele anzuführen - zu den unbestreitbaren positiven Folgen der Digitalisierung. Diese darf aber nicht zur zentralen Technik im Studium werden. Dass zwei Mainzer Studentinnen aus Vietnam in diesem Sommer zu Hause die digitalen Vorlesungen ihrer Universität verfolgen konnten, ist ein nettes Aperçu, rechtfertigt aber nicht die Verteidigung des Video-Unterrichts per se. Noch schöner wäre es gewesen, sie hätten in Mainz studieren können. Prof. em. Dr. med. Dr. phil. Klaus Bergdolt Uniklinikum Köln Institut für Geschichte und Ethik der Medizin Joseph-Stelzmann-Str. 20 50931 Köln E-Mail: bergdolt@uni-koeln.de

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          Springer Medizin (Heidelberg )
          0938-0221
          2196-6451
          23 September 2020
          2020
          : 36
          : 5
          : 68-69
          Affiliations
          Uniklinikum Köln, Institut für Geschichte und Ethik der ­Medizin, Schillerstr. 75, 50968 Köln, Germany
          Article
          4106
          10.1007/s15012-020-4106-1
          7495139
          2c477a41-19eb-48bb-a995-93ca4fb3364b
          © Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020

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