Einleitung
Durch den Krieg in der Ukraine haben bereits mehr als 3 Mio. Menschen, überwiegend
Frauen und Kinder, das Land verlassen. Schätzungen des UN-Flüchtlingshilfswerks zufolge
werden weitere Millionen Menschen aus der Ukraine fliehen oder innerhalb des Landes
ihren Aufenthaltsort verlagern. Die EU hat am 04.03.2022 beschlossen, dass Kriegsflüchtlinge
aus der Ukraine einen Antrag auf vorübergehenden Schutz bei der zuständigen Ausländerbehörde
stellen können. Ein Asylantrag zur Sicherung eines Aufenthaltsrechts oder zur Inanspruchnahme
sozialer und medizinischer Leistungen (auch Impfungen) ist nicht erforderlich, kann
aber zu einem späteren Zeitpunkt noch erfolgen.
Neben all dem humanitären Leid durch Krieg und Flucht stellen auch Infektionskrankheiten
für die Geflüchteten eine zusätzliche Gefährdung dar. Die Flüchtenden sollten so gut
wie möglich davor geschützt werden. Das ECDC hat Präventionsmaßnahmen (u. a. Krankheitsüberwachung,
Impfung, Kommunikation) zusammengestellt und empfiehlt den europäischen Ländern diese
in der aktuell sehr herausfordernden Situation zu stärken.
Poliomyelitis in der Ukraine
Zu den Erkrankungen, die besonders beobachtet werden sollen, gehört neben COVID-19
und Masern auch die Poliomyelitis. Hintergrund dafür ist der Nachweis zirkulierender,
vom Impfvirus abgeleiteter Polioviren Typ 2 („circulating vaccine derived poliovirus“,
cVDPV-2) bei zwei Kindern mit akuten schlaffen Paresen (AFP) und 18 Kontaktpersonen
in der Westukraine im Oktober und Dezember 2021. Alle Kinder waren ungeimpft.
Die Sequenzanalysen zeigten eine hohe Übereinstimmung mit einem Isolat aus Tadschikistan
(auch WHO Region Europa), wo es 2021 insgesamt 32 AFP-Fälle mit Nachweis von cVDPV2
gab. Dorthin wurden die Polioviren aus Pakistan eingeschleppt.
Fälle von cVDPV treten immer wieder in Gebieten mit unzureichenden Impfquoten auf.
Die abgeschwächten, aber vermehrungsfähigen Viren in der Schluckimpfung (OPV) können
lange Zeit unerkannt in der Bevölkerung zirkulieren, sich dabei verändern (Mutationen)
und schließlich bei Weitergabe an ungeimpfte Menschen wieder Lähmungen verursachen.
Impfung gegen Poliomyelitis in der Ukraine
Nach einem Abfall der Impfquote im Jahr 2014 auf regional unter 50 %, steigerte sich
die landesweite Durchimpfungsrate in der Ukraine laut WHO/UNICEF über die letzten
Jahre wieder und erreichte im Jahr 2020 ca. 84 % bei den unter einjährigen Kindern.
In einigen Regionen des Landes (insbesondere Westukraine) liegt sie jedoch weiterhin
unter 50 %. Als Reaktion auf den o. g. Polioausbruch sollten im Februar 2022 im Rahmen
einer Impfaktion 140.000 Kinder geimpft werden. Diese Impfaktion musste aber aufgrund
der militärischen Invasion russischer Truppen in die Ukraine unterbrochen werden.
Es muss ebenfalls davon ausgegangen werden, dass die Überwachung zur Erkennung und
Meldung neuer Poliofälle nicht mehr verlässlich funktioniert, was das Risiko einer
unentdeckten Ausbreitung der Krankheit erhöht. Das Polio-Impfschema der Ukraine sieht
im Alter von 2 und 4 Monaten je eine Dosis des inaktivierten Polioimpfstoffs (IPV)
vor, der gegen alle drei Poliovirustypen einen Immunschutz vermittelt. Im Alter von
6 und 18 Monaten sowie mit 6 und 14 Jahren wird jeweils mit Lebendimpfstoff (bOPV)
geimpft, der nur noch Schutz gegen Polioviren Typ 1 (PV1) und Typ 3 (PV3) vermittelt.
Ein großes Problem bleibt die hohe Zahl an ungeimpften Personen in der Ukraine. Deshalb
ist es ratsam, allen Flüchtenden eine Dosis IPV anzubieten, wenn Impfungen durchgeführt
werden sollen.
Konsequenzen für Deutschland
Bei der Versorgung der geflüchteten Personen und Familien soll berücksichtigt werden,
dass sie möglicherweise Schreckliches erlebt haben und die hier geschilderten infektiologischen
Probleme in ihrem Erleben von geringer Bedeutung sind. Da von den Geflüchteten im
Allgemeinen keine akute infektiologische Gefahr ausgeht, soll die Versorgung einfühlsam
erfolgen, ohne die infektiologischen Ziele aus den Augen zu verlieren.
Vor allem in bereits poliofreien Regionen gilt es, Infektionen frühzeitig zu erkennen,
um die weitere Verbreitung schnell unterbinden zu können. Anders als SARS-CoV‑2 und
Masernviren zeigen Polioviren eine sehr geringe Manifestationsrate (ca. 1 AFP-Fall
auf 100 bis 200 Infizierte), sodass bereits ein AFP-Fall als Ausbruch definiert wird,
weil von einer größeren Verbreitung ausgegangen werden muss. Da die Mehrzahl der Poliovirusinfektionen
asymptomatisch oder mit leichten, unspezifischen, teils grippeähnlichen oder auch
meningitischen Symptomen einhergeht, sollte auch hier, insbesondere beim Vorliegen
zusätzlicher Risikofaktoren (Aufenthalt in Gebieten mit aktuellen Poliovirusnachweisen,
unklarer Impfstatus) eine Enterovirusdiagnostik in Betracht gezogen werden und eine
Typisierung zum Poliovirusausschluss veranlasst werden.
Im Rahmen der bundesweiten Enterovirus-Surveillance (EVSurv), die zur Überwachung
der Poliofreiheit in Deutschland aufgebaut wurde, steht allen Kliniken eine kostenlose
Enterovirusdiagnostik zur differenzialdiagnostischen Abklärung viraler Meningitiden/Enzephalitiden
und akuter schlaffer Lähmungen (AFP) der Extremitäten zur Verfügung. Informationen
und Einsendescheine für die Teilnahme an der EVSurv können per E‑Mail (EVSurv@rki.de);
Telefon: 03018754 2865 oder Fax: 030 1810754 2617 angefordert werden. Als Untersuchungsmaterial
eignen sich insbesondere Stuhl-, aber auch Liquorproben.
Darüber hinaus bleibt weiterhin die Polio-Impfung die wichtigste Schutzmaßnahme. Jeder
Arztbesuch sollte zur Überprüfung des Impfstatus und ggf. Schließen von Impflücken
genutzt werden. Als geschützt gilt bei Erwachsenen, wer im Laufe seines Lebens eine
Grundimmunisierung (mind. 3 Impfungen) plus eine Auffrischungsimpfung erhalten hat.
Kinder erhalten in Deutschland mit 2, 4 und 11 Monaten je eine Dosis IPV im Kombinationsimpfstoff.
Zusammenfassung: Was ist medizinisch in Bezug auf Poliomyelitis zu beachten?
Es sollte der Impfstatus überprüft und Impfungen angeboten werden, IPV (meist als
Kombinationsimpfstoff).
Bei aseptischer Meningitis und vor allem beim Auftreten von Lähmungen ist eine Entervirusdiagnostik
anzustreben: Kontakt: EVSurv@rki.de; Telefon: 0187542865.
Für den Verdacht einer Erkrankung, die Erkrankung sowie den Tod an Poliomyelitis besteht
eine Meldepflicht gemäß Infektionsschutzgesetz (IfSG).