2.1
Analgetika, Antirheumatika, Myotonolytika und Gichttherapeutika
2.1.1
Paracetamol
Pharmakologie und Toxikologie.
Paracetamol (z.B. ben-u-ron®, Enelfa®) wirkt analgetisch und antipyretisch und ist
gut verträglich. In therapeutischer Dosis hemmt es die Prostaglandinsynthese nicht.
Die Wirkung wird über einen zentralen Angriffspunkt im Bereich des Hypothalamus vermittelt.
Wie die meisten anderen Medikamente ist auch Paracetamol plazentagängig. Anfänglich
wurde aufgrund einzelner Fallberichte ein terato-genes Potenzial beim Menschen vermutet.
Auch in den vergangenen Jahren wurden toxische Auswirkungen auf das Ungeborene diskutiert:
Eine Assoziation von Gastroschisis mit einer mütterlichen Kombinationsmedikation aus
Paracetamol und Pseudoephedrin im 1. Trimenon fanden Werler und Mitarbeiter (2002)
bei retrospektiver Auswertung von 206 erkrankten Säuglingen. Kein Zusammenhang konnte
zwischen mütterlicher Paracetamoleinnahme und Ventrikelseptumdefek-ten festgestellt
werden (Cleves 2004). Eine neuere Studie diskutiert ein möglicherweise erhöhtes Risiko
von Paracetamol in der Spätschwangerschaft für Asthma bronchiale erhöhte IgE-Spiegel
im Vorschulalter (Shaheen 2005, Shaheen 2002). Abgesehen von methodischen Mängeln
der Studie erscheint dieser Zusammenhang biologisch wenig plausibel. Alle vorliegenden
Daten zusammengefasst, gibt es beim Menschen keine ernsthaften Hinweise auf Teratogenität
(Übersicht in Briggs 2005). Zur Überdosis bei Suizidversuchen siehe Kapitel 2.22.4.10.
Die an Lymphozyten beobachteten diskreten genotoxischen Effekte (Hongslo 1991) scheinen
keine klinische Relevanz zu besitzen.
Empfehlung für die Praxis:
Paracetamol ist das Analgetikum und Antipyreti-kum der Wahl. Es kann in jeder Phase
der Schwangerschaft innerhalb des üblichen Dosisbereichs eingesetzt werden.
2.1.2
Acetylsalicylsäure
Pharmakologie.
Acetylsalicylsäure (ASS; z.B. Aspirin®, ASS ratio-pharm®) hemmt in Abhängigkeit von
der Dosis die Synthese sowohl von Thromboxan als auch von Prostaglandinen und Vitamin-K-abhän-gigen
Gerinnungsfaktoren. Daraus ergeben sich unterschiedliche Behandlungsindikationen.
Bei niedriger Dosis bis etwa 300 mg/Tag kommt es zu einer Hemmung der Thromboxansynthese
mit Verminderung der Thrombozytenaggregation. Dieser Wirkmechanismus wird für die
Thrombembolieprophylaxe genutzt. Die analgetische, antipyreti-sche und antiphlogistische
Wirkung erfolgt über eine Hemmung der Prostaglandinsynthese bei Einzeldosen ab 500
mg. Aufgrund der geringen therapeutischen Breite im antiphlogistischen Bereich (Tagesdosen
von 3.000 mg und darüber) wurde Acetylsalicylsäure als Antirheumati-kum weitgehend
durch die neueren, nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) verdrängt.
Salicylate sind lipophil, sie werden nach oraler Gabe rasch resorbiert und gelangen
leicht über die Plazenta zum Fetus. Die Metabolisierung und Eliminierung durch Kopplung
an Glucuronsäure in der Leber erfolgt beim Fetus und beim Neugeborenen nur langsam
wegen der noch verminderten Enzymaktivität und der geringen glomerulären Filtrationsrate.
„Low-dose”-Therapie.
Niedrig dosiert mit 80–300 mg pro Tag wird Acetyl-salicylsäure als Thrombozytenaggregationshemmer
zur Thrombembo-lie-Prophylaxe eingesetzt und in manchen Fällen zur Prävention einer
Präeklampsie verordnet. Außerdem diskutiert man den Nutzen niedriger Dosen zur Prävention
von Abortneigung und anderen Schwangerschaftskomplikationen bei Frauen mit Anti-Kardiolipin-
oder Anti-Phospholipid-Antikörpern mit oder ohne systemischem Lupus erythe-matodes
(Backos 1999). In einer prospektiven Studie mit jeweils 101 Schwangeren in Fall- und
Kontrollgruppe, mit mindestens 2 Aborten in der Anamnese bzw. nachweisbaren Autoantikörpern
konnte keine Verringerung der Abortrate unter Acetylsalicylsäure in Kombination mit
Prednison im Vergleich zu Placebo festgestellt werden. Es fand sich jedoch in der
Behandlungsgruppe ein signifikant höheres Risiko für eine Frühgeburt (Laskin 1997).
Eine Meta-Analyse fand gegenüber Placebo ebenfalls keine Reduzierung des Abortrisikos,
aber ein signifikant geringeres Risiko für eine Frühgeburt (Kozer 2003, Kozer 2002
A). Eine Erhöhung der Schwangerschaftsrate durch eine kombinierte Therapie mit Prednison
und Acetylsalicylsäure konnte bei Kinderwunschpatient-innen mit nachweisbaren Autoantikörpern
und wiederholt erfolglosen In-vitro-Fertilisationen (IVF) erzielt werden (Geva 2000,
Geva 1998). Die Untersuchung einer vergleichbaren Therapie bei Patientinnen mit intrauteriner
Insemination (IUI) konnte dieses Ergebnis beim Vergleich mit einer nicht behandelten
Gruppe bestätigen (Hsieh 2000).
Viele Untersuchungen haben sich mit dem Nutzen einer „Low-dose”-Behandlung zur Prävention
einer Plazentationsstörung mit daraus resultierendem Schwangerschaftshochdruck und
intrauteriner Wachstumsverzögerung beschäftigt. Umfassend wurde dieses Thema von der
„Collaborative low-dose Aspirin in Pregnancy study” (CLASP 1994) an insgesamt 9.000
Frauen untersucht. Im Gegensatz zu früheren Ergebnissen sind eindeutige Vorteile wohl
nur bei Schwangeren mit einer sich früh entwickelnden Präeklampsie – vor 20 Schwangerschaftswochen
(SSW) – und mit pathologischer Vorgeschichte zu erwarten.
In dieser Patientinnengruppe entwickelten sich sowohl der mütterliche Blutdruck als
auch das kindliche Wachstum günstiger, und zwar ab einer täglichen Dosis von 80 mg
und einem frühzeitigen Therapiebeginn vor 16 SSW. Für andere Schwangere ließ sich
der Nutzen einer solchen Behandlung – auch wenn sie vor 20 SSW gestartet wurde – nicht
eindeutig belegen (Heyborne 2000, Knight 2000, Cartis 1998, Golding 1998, Rotchell
1998). Dies gilt auch für die Therapie bei bereits bestehender Präeklampsie.
Toxikologie.
Salicylate können bei einigen Tierspezies in hoher Dosis Fehlbildungen erzeugen. Einige
Untersucher haben in z.T. sehr kleinen Fall-Kontrollstudien auch beim Menschen teratogene
Effekte beschrieben, beispielsweise ein erhöhtes Gastroschisis-Risiko als Disruptions-folge
im Bereich der embryonalen Arteria omphalomesenterica (Martinez-Frias 1997, Torfs
1996). Eine retrospektive Untersuchung von 206 Säuglingen mit Gastroschisis fand im
Vergleich zur Kontrollgruppe einen höheren Anteil mütterlicher ASS-Medikationen (Werler
2002). Eine Meta-Analyse zur ASS-Therapie im 1. Trimenon zeigte ein leicht erhöhtes
Risiko für Gastroschisis bei nicht erhöhtem Gesamtfehlbil-dungsrisiko (Kozer 2002
B). In einer Studie zu renalen Anomalien gaben in der Fallgruppe mehr Mütter eine
ASS-Einnahme im 1. Trime-non an. Daraus wurde ein leicht erhöhtes Risiko für Nierenfehlbildun-gen
abgeleitet (Abe 2003), das erscheint jedoch wegen der geringen Fallzahl an Exponierten
fraglich. Eine retrospektive Untersuchung mit Daten des schwedischen Geburtsregisters
fand keinen Zusammenhang zwischen dem Auftreten von kardiovaskulären Fehlbildungen
und der ASS-Einnahme in der Schwangerschaft (Källén 2003). In vielen anderen Publikationen
wurden keine entwicklungstoxischen Effekte beim Menschen beobachtet (Übersicht in
Briggs 2005, Slone 1976). Zusam-mengefasst erscheint das teratogene Pontenzial dieses
weit verbreiteten und bewährten Arzneimittels minimal. Auch die frühkindliche Intelligenzentwicklung
bei Kindern bis zum Alter von 4 Jahren war in einer Untersuchung an über 19.000 Schwangeren
mit ASS-Therapie im 1. oder 2. Trimenon nicht beeinträchtigt (Klebanoff 1988). Zur
Überdosis bei Suizidversuchen siehe Kapitel 2.22.4.1.
Eine Studie beschreibt ein erhöhtes Abortrisiko für die Einnahme von ASS zum Zeitpunkt
der Konzeption (Li 2003), es fehlen jedoch Angaben zur Dosis. Die Anzahl der ASS-exponierten
Schwangeren (22 von 1.055) und jener, die einen Abort erlitten (5 von 22), war jedoch
so gering, dass diese Studie sehr zurückhaltend zu bewerten ist, auch wenn die Rolle
der Prostaglandine bei der Implantation den postulierten Effekt theoretisch erklären
könnte.
Präpartalphase.
Da Prostaglandinsynthesehemmstoffe die Kontraktilität des Uterus vermindern, können
Salicylate die Dauer der Schwangerschaft und den Geburtsvorgang durch Herabsetzung
der Wehentätigkeit verlängern. Früher hat man deshalb Salicylate zur Tokolyse benutzt.
Unter der Geburt wurde außerdem ein erhöhter mütterlicher Blutverlust nach Salicylateinnahme
beobachtet.
Die Hemmung der Prostaglandinsynthese kann etwa ab SSW 28–30 zu einer Verengung bzw.
einem verfrühten Verschluss des Ductus arte-riosus Botalli führen. Dieser zeit- und
dosisabhängige Effekt wurde zuerst unter Indomethacintherapie dokumentiert (siehe
Abschnitt 2.1.11), ist aber unter ASS (allerdings nicht bei „Low-dose”-Therapie!)
ebenso möglich.
Bei Frühgeborenen, nicht jedoch bei gesunden, reifen Neugeborenen, wurden vermehrt
intrakranielle Blutungen beschrieben, wenn die Mutter innerhalb der letzten Schwangerschaftswoche
ASS in analgeti-scher oder antiphlogistischer Dosis eingenommen hatte (Rumack 1981).
Die „Low-dose”-Behandlung bewirkt keinen vorzeitigen Schluss des Ductus arteriosus
und beeinträchtigt offenbar weder die Gesundheit der Mutter noch die fetale oder neonatale
Gerinnung (Vetter 1995, CLASP 1994, Di Sessa 1994, Sibai et al., 1993, Sibai et al.,
1989, Veille 1993). Es findet sich nur ein Fallbericht mit Low-dose-ASS und leichter
intrakrani-eller Blutung bei einem reif geborenem Kind. Die kindliche Prothrom-binzeit
sowie INR waren erhöht. Eine neurologische Symptomatik war nicht nachweisbar (Sasisharan
2001).
Empfehlung für die Praxis:
ASS ist in der Schwangerschaft Analgetikum und Antipyretikum der zweiten Wahl. Paracetamol
ist vorzuziehen. Salicylate sollten im letzten Drittel der Schwangerschaft nicht regelmäßig
und nicht in antiphlogistischer Dosis angewendet werden. Analgetische Einzeldosen
sind jedoch akzeptabel. Für die längerfristige antiphlogistische Behandlung sind nichtsteroidale
Antirheumatika (NSAR), wie z. B. Ibuprofen, zu bevorzugen (cave Ductus-arterio-sus-Verschluss
ab 28–30 Wochen!). Wird dennoch im letzten Drittel der Schwangerschaft regelmäßig
mit Acetylsalicylsäure in hoher Dosis behandelt, muss der fetale Ductus arteriosus
dopplersonographisch kontrolliert werden. Ferner ist zu bedenken, dass insbesondere
bei Frühgeborenen schon eine analgetische Einzeldosis von 500 mg die Blutungsbereitschaft
des Fetus unter der Geburt erhöhen kann. Eine „Low-dose”-Behandlung mit ASS kann bei
entsprechender Indikation uneingeschränkt durchgeführt werden.
2.1.3
Pyrazolon-und Phenylbutazonverbindungen
Pyrazolonverbindungen
Pharmakologie und Toxikologie.
Metamizol (Dipyron) (z.B. Novalgin®, Novaminsulfon®), Phenazon (z. B. Migräne-Kranit®)
und Propyphena-zon (z.B. DEMEX®) haben als Analgetika und Antipyretika wegen unerwünschter
Wirkungen auf die Hämatopoese an Bedeutung verlo -ren und wurden durch Paracetamol
und andere Analgetika verdrängt. Pyrazolon- und Phenylbutazonverbindungen besitzen
eine prostaglan-dinantagonistische Wirkung, die ab Schwangerschaftswoche 28–30 einen
vorzeitigen Ductus-arteriosus-Verschluss beim Fetus auslösen kann.
Ein Fallbericht beschreibt eine Schwangere, die aufgrund einer Nierenkolik kurz vor
Ende der Schwangerschaft hoch dosiert mit Metamizol behandelt wurde und darunter ein
Oligohydramnion entwickelte (Catalan 1995). Eine brasilianische Studie berichtet über
einen von anderen Autoren bisher nicht bestätigten Zusammenhang zwischen Metamizol-Einnahme
durch die Mutter und dem vermehrten Auftreten von Wilms-Tumoren bei den Kindern (Sharpe
1996). In einer retrospektiven Studie hatte bei Kindern mit akuter Leukämie im Alter
von < 18 Monaten ein höherer Anteil der Mütter Metamizol in der Schwangerschaft eingenommen
als in der gesunden Kontrollgruppe. Daraus wurde ein signifikant erhöhtes Risiko für
eine frühkindliche Leukämie nach Metamizol-Therapie in der Schwangerschaft abgeleitet
(Alexander 2001). Diese Schlussfolgerung sollte jedoch aufgrund der geringen Fallzahl
und der unzureichenden Informationen über den Zeitpunkt der Exposition sehr kritisch
bewertet werden. Im Übrigen liegen keine Hinweise auf embryotoxische Eigenschaften
beim Menschen vor. Eine prospektive Untersuchung von 108 im 1.Trimenon mit Metamizol
behandelten Schwangeren fand im Vergleich zur Kontrolle kein signifikant erhöhtes
Risiko für große Fehlbildungen (Bar-Oz 2005). Dieses Ergebnis kann nach Sichtung von
154 eigenen prospektiv erfassten Metamizol-Expositionen im 1. Trimenon bestätigt werden.
Zu Propyphenazon liegen in unserer eigenen Datenbank 34 prospektiv erfasste Fälle
mit mütterlicher Therapie im 1. Trimenon vor. Von diesen Schwangerschaften endeten
3 mit Abbruch, 8 mit einem Spontanabort und 23 mit einer Lebendgeburt. Es fand sich
eine große Fehlbildung (Neuralrohrdefekt) bei einem abortierten Fetus. Insgesamt ergibt
sich daraus kein Anhalt für ein teratogenes Risiko.
Zu Phenazon und Propyphenazon liegen keine ausreichend dokumentierten Erfahrungen
zur Anwendung in der Schwangerschaft vor.
Phenylbutazonverbindungen
Phenylbutazon (z.B. Ambene®) und verwandte Verbindungen wie Famprofazon, Kebuzon,
Mofebutazon (z. B. Mofesal®) und Oxyphen-butazon sind schwache Analgetika und Antipyretika,
die über eine Hemmung der Prostaglandinsynthese stark antiphlogistisch wirken. Phenylbutazon
ist bei Morbus Bechterew indiziert. Phenylbutazonverbindungen können die Blutbildung
schädigen, sie führen zu einer Flüs-sigkeitsretention und kumulieren stark (Halbwertszeit
30–170 Stunden). Diese Eigenschaften sind in der Schwangerschaft unerwünscht.
Im Tierversuch wirkt Phenylbutazon teratogen. Zur Beurteilung embryotoxischer Effekte
beim Menschen liegen keine ausreichenden Daten vor, ein erhebliches teratogenes Potenzial
erscheint unwahrscheinlich. Durch den Prostaglandinantagonismus können Phenylbutazonverbin-dungen
ebenso wie Acetylsalicylsäure und andere NSAR einen vorzeitigen Verschluss des Ductus
arteriosus verursachen, wenn nach Woche 28–30 behandelt wird (Überblick in Briggs
2005).
Empfehlung für die Praxis:
Auf den Einsatz von Metamizol, Phenazon und Pro-pyphenazon sollte verzichtet werden.
Analgetikum der Wahl ist Paracetamol, in bestimmten Fällen auch in Kombination mit
Codein. Nach heutiger Kenntnislage ergibt sich aus einer dennoch erfolgten Exposition
mit einem der genannten Mittel im 1. Trimenon keine Risikosituation, die weitergehende
Diagnostik erfordert oder in der ein risikobegründeter Abbruch einer gewünschten und
intakten Schwangerschaft erwogen werden müsste (siehe Kapitel 1.15). Zusätzliche Untersuchungen
wie dopplersonographische Kontrollen des Ductus arteriosus sollten eingeplant werden,
wenn mit diesen Medikamenten nach Woche 30 behandelt wurde.
2.1.4
Analgetische Mischpräparate
Empfehlung für die Praxis:
Analgetische Mischpräparate sollten nicht eingenommen werden. Eine Ausnahme bildet
in begründeten Fällen die Kombination von Paracetamol plus Codein (z.B. talvosilen®).
Konkrete Hinweise auf embryotoxische Wirkungen beim Menschen gibt es zwar nicht, die
Unwägbarkeit des toxischen Risikos steigt aber mit der Zahl der Inhaltsstoffe. Außerdem
genügen die meisten Kombinationspräparate nicht den Anforderungen einer rationalen
Arzneitherapie und verteuern die Behandlung. Nach heutiger Kenntnislage ergibt sich
aus einer dennoch erfolgten Exposition im 1. Trimenon keine Risikosituation, die weitergehende
Diagnostik oder einen risikobegründeten Abbruch einer gewünschten und intakten Schwangerschaft
erfordert (siehe Kapitel 1.15).
Eine äußere Behandlung bei Gelenkschmerzen mit Kombinationen aus Nonivamid und Nicoboxil
oder anderen Nicotinaten (z. B. Finalgon®, Rubriment®) ist zwar nicht systematisch
in der Schwangerschaft untersucht, ein entwicklungstoxisches Risiko ist beim bestimmungsgemäßen
Gebrauch jedoch kaum zu erwarten.
2.1.5
Morphin, Hydromorphon und Opioidanalgetika allgemein
Opiate sind zentral wirksame, starke Analgetika, die in ihrer Wirkung dem Morphin,
dem Hauptalkaloid des Opiums, vergleichbar sind und ebenfalls zur Abhängigkeit und
beim Neugeborenen zu Atemdepression und Entzugssymptomatik führen können. Bei den
Opiaten unterscheidet man reine Agonisten (Endorphine, Morphin und therapeutisch ähnliche
Opiate) von reinen Antagonisten (Naloxon) und Stoffen, die sowohl agonistische als
auch antagonistische Eigenschaften besitzen (Pentazocin).
Hinsichtlich des toxischen Potenzials in der Schwangerschaft ist die kurzfristige
therapeutische Gabe von Opiaten, z.B. in der Perinatal-phase, anders zu bewerten als
der Opiatabusus (siehe auch Abschnitt 2.21.10).
Körpereigene Endorphine reagieren spezifisch mit Opiatrezeptoren und können Morphinwirkungen
auslösen.
Systematische Untersuchungen zur Teratogenität von Morphin (z.B. Capros®) oder Hydromorphon
(z. B. Dilaudid®) liegen nicht vor. Es gibt jedoch bislang keine Hinweise, dass diese
Substanzen Fehlbildungen beim Menschen verursachen.
Ein Fallbericht mit intrathekaler Langzeitbehandlung mit Morphin wegen chronischer
Schmerzen beschreibt ein gesundes Neugeborenes mit normalen Apgar-Werten, ohne Entzugssymptomatik
und normaler Entwicklung im Alter von 18 Monaten (Oberlander 2000). Bei 5 pro-spektiv
erfassten Fällen mit Langzeitbehandlung aus dem eigenen Datenbestand finden sich 3
Frühgeborene sowie ein reif geborenes Kind mit Entzugssymptomatik. Fehlbildungen waren
nicht nachweisbar. Die einmalige intramuskuläre Applikation von 10–15 mg Morphin nach
18 Schwangerschaftswochen führte zu einer Reduzierung der fetalen Atembewegungen bei
insgesamt nicht reduzierten Kindsbewegungen. Es wurde ein fetal-mütterlicher Plasmaquotient
von 0,6 ermittelt (Kopecky 2000).
2.1.6
Pethidin
Pharmakologie.
Pethidin (Dolantin®) wurde wegen seiner unübertroffenen spasmoanalgetischen Wirkung
unter der Geburt lange Zeit als Analgetikum der Wahl angesehen. Es verlängert weder
den Geburtsvorgang, noch vermindert es die Wehenstärke.
Auch die Stärke von Nachblutungen und die Rückbildung der Gebärmutter im Wochenbett
werden nicht ungünstig beeinflusst. Pethidin kann im Fetus höhere Konzentrationen
als im mütterlichen Serum erreichen. Beim Neugeborenen wird Pethidin aufgrund der
verminderten Stoffwechselleistung nur langsam abgebaut und hat eine verlängerte Halbwertszeit
(bis 18 Stunden gegenüber 3–4 Stunden beim Erwachsenen, aktiver Metabolit Norpethidin
29–85 Stunden; Caldwell 1978).
Toxikologie.
Für Pethidin gibt es keine systematischen Untersuchungen zur Anwendung im 1. Trimenon.
Bislang liegen keine Hinweise auf teratogene Effekte vor.
Pethidin gehört zu den am besten untersuchten Spasmoanalgetika für die Geburtsphase.
Die nach parenteraler Applikation beschriebene metabolische Azidose (de Boer 1987,
Kariniemi 1986) ist wahrscheinlich mit individueller Überdosierung und nachfolgender
hypotoner Kreislaufreaktion der Mutter zu erklären. Bei Neugeborenen können Atemdepression
und Adaptationsstörungen mit neurophysiologischen Auffälligkeiten auftreten, die über
die ersten Lebenstage hinausreichen. Der atemdepressive Effekt hängt vor allem vom
Zeitintervall zwischen Injektion und Entbindung und von der Reife des Kindes ab. Frühgeborene
sind gefährdeter. In einer Gruppe von 13 Erstgebärenden zeigte sich, dass Neugeborene
in den ersten 45 Minuten schwächer saugten, wenn die Pethidindosis innerhalb von 5
Stunden vor der Entbindung verabreicht wurde. Das Saugverhalten korrelierte mit der
Konzentration von Pethidin im Plasma der Neugeborenen, nicht aber mit der des Metaboliten
Norpethidin (Nissen 1997). Saugstärke und Saugfrequenz bei 9 reif geborenen Neugeborenen,
deren Müttern 1 bis 12,5 Stunden vor der Entbindung 75–100 mg Pethidin intramuskulär
verabreicht wurde, waren in den ersten 3 Tagen nach der Geburt deutlich geringer als
bei nicht exponierten Kontrollen (Hafström 2000). Dies wurde auf die verlängerte Eliminationshalbwertszeit
von Pethidin bei Neugeborenen zurückgeführt. Videoaufnahmen von 10 Pethidin exponierten
Neugeborenen gaben gegenüber nicht analgesierten Kontrollen ebenfalls Hinweise für
eine Trinkschwäche sowie auf eine reduzierte Hand-Finger-Beweglichkeit. Außerdem hatten
die Kinder in der behandelten Gruppe eine leicht erhöhte Körpertemperatur und schrien
mehr (Ransjö-Arvidson 2001).
Beim Vergleich der Wirksamkeit von Pethidin und Meptazinol unter der Geburt fanden
sich keine wesentlichen Unterschiede. Eine Studie beschreibt eine etwas bessere Analgesie
unter Meptazinol (Nicholas 1982). In einer weiteren randomisierten Studie und einer
Meta-Analyse der Cochrane Database fand sich kein Unterschied in der Wirksamkeit beider
Substanzen (Elbourne 2000, Morrison 1987). Generell wurde eine bessere Verträglichkeit
von Pethidin im Vergleich zu Meptazinol beschrieben.
Empfehlung für die Praxis:
Das Spasmoanalgetikum Pethidin kann bei kritischer Indikationsprüfung unter der Geburt
eingesetzt werden. Bei Frühgeburten ist es relativ kontraindiziert. Eine Anwendung
im 1. Trimenon ist bei entsprechender Indikation akzeptabel.
2.1.7
Codein und Oxycodon
Pharmakologie und Toxikologie.
Codein (z.B. Codicaps®, Codipront®) ist ein Morphinderivat mit geringerer analgetischer
und sedierender Wirkung als Morphin. Codein wird allein, vorwiegend als Antitussivum,
oder in analgetischen Kombinationspräparaten mit Paracetamol und Acetylsalicylsäure
angeboten. Da Codein abhängig machen kann, gibt es Schwangere, die einen Abusus mit
täglich 300–600 (bis zu 2.000) mg betreiben oder Codein als Ersatzdroge für Heroin
erhalten.
In den 70er Jahren gab es einige Veröffentlichungen, die der Behandlung mit Codein
Fehlbildungen der Atemwege, Veränderungen am Herz-Kreislauf-System sowie Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten
anlasteten. Dieser Verdacht bestätigte sich später nicht (Übersicht in Briggs 2005).
Eigene Untersuchungen von 124 Codeinexpositionen im 1.Tri-menon ergaben keinen Hinweis
auf ein erhöhtes Risiko für große Fehlbildungen. Auch bei 12 Langzeitexpositionen
fanden sich keine Fehlbildungen, jedoch Entzugssymptome bis hin zu Krampfanfällen
bei 4 Neugeborenen nach mütterlichem Abusus. Eine Untersuchung von Kindern, die an
einem Neuroblastom erkrankten, fand im Gegensatz zu gesunden Kontrollen einen höheren
Anteil an mütterlicher Codeinme-dikation in Schwangerschaft oder Stillzeit (Cook 2004).
Ein ursächlicher Zusammenhang sollte u.a. aufgrund der kleinen Fallzahl sehr zurückhaltend
bewertet werden.
Etwa 100 ausgewertete Schwangerschaften mit Oxycodon-Therapie (OXYGESIC®) im 1. Trimenon
erbrachten keine Hinweise auf Terato-genität (Schick 1996).
Eine Therapie bis zum Geburtstermin kann - wie bei allen Opiatabkömmlingen-beim Neugeborenen
zur Atemdepression und ein Abusus auch zum Entzug führen (siehe Abschnitt 2.21.10).
Empfehlung für die Praxis:
Codein darf bei Schwangeren als Analgetikum (in Kombinationspräparaten mit Paracetamol)
eingesetzt werden. Bei quälendem, trockenem Husten und Versagen physikalischer Maßnahmen
kann es als Antitussivum verwendet werden. In jedem Fall muss das Suchtpotenzial beachtet
werden. Bei strenger Indikationsstellung ist auch Oxycodon akzeptabel. In Abhängigkeit
von Dosis und Zeitpunkt der Anwendung sind Atemdepression und Entzugserscheinungen
beim Neugeborenen möglich. Eine länger dauernde Gabe ist außergewöhnlichen Indikationen
vorbehalten. Zur Substitution bei Heroinabhängigkeit siehe Abschnitt 2.21.10.
2.1.8
Fentanyl, Alfentanil, Remifentanil und Sufentanil
Pharmakologie und Toxikologie.
Fentanyl (z.B. Fentanyl-Janssen®) wird in der Geburtshilfe häufig eingesetzt. Es wird
intravenös und epidural appliziert. In der Nabelschnur finden sich 30–50% der mütterlichen
Plasmakonzentration. Bei ausreichendem zeitlichem Abstand zur Entbindung scheint das
Risiko einer neonatalen Atemdepression gering zu sein. Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe
fanden sich bei den Kindern von 137 mit Fentanyl behandelten Müttern keine Unterschiede
bei Atemdepression, Apgar-Score, Naloxonbedarf sowie verschiedenen neurologischen
Parametern bis zu 24 Stunden nach Geburt (Rayburn 1989). Die letzte Fentanyldosis
wurde in dieser Untersuchung im Durchschnitt 112 Minuten vor der Entbindung gegeben.
In einer weiteren Publikation waren in einer Gruppe von 15 Neugeborenen ebenfalls
weder Atemdepression noch neurologische Abweichungen in den ersten 24 Stunden nach
der Geburt zu beobachten. Die Applikation von Fentanyl erfolgte jeweils etwa 10 Minuten
vor der Schnittentbindung (Eisele 1982). Die reif geborenen, gesunden Neugeborenen
von 101 Frauen, die unter der Geburt Fentanyl epidural erhielten, zeigten keine Atemdepression.
Die Autoren diskutieren, dass eine Epiduralanästhesie mit Fentanyl im Hinblick auf
den Stillerfolg der Kinder wahrscheinlich günstiger ist als eine i.v.-Applikation
im Rahmen einer Allgemeinnarkose (Jordan 2005). Andere Untersucher beobachteten, dass
eine patientenkontrollierte Analgesie mit Fentanyl i.v. unter der Geburt gleich gut
verträglich für das Neugeborene ist wie eine Epiduralanästhesie (Nikkola 1997).
Ein Fallbericht beschreibt die Anwendung von Fentanylpflastern mit einer transdermalen
Dosis von ca. 125 μg/Stunde während der gesamten Schwangerschaft. Das gesunde reif
geborene Kind wies normale Apgar-Werte auf. Nach 24 Stunden entwickelte sich jedoch
eine leichte Entzugssymptomatik mit Übererregbarkeit und Schreiattacken, die nach
4 Tagen abgeklungen war. Die kindlichen Blutspiegel wiesen unmittelbar nach der Geburt
ein Drittel der mütterlichen Werte auf und einen Tag nach Entbindung nur noch 9 %
(Regan 2000).
Weder unsere eigenen Daten zu 22 Frauen mit Fentanylexposition im 1. Trimenon noch
Beobachtungen anderer Autoren ergeben Hinweise auf Teratogenität. Fentanyl wurde in
fetalen Organen in der Frühschwangerschaft nachgewiesen (Cooper 1999).
Mehrere Veröffentlichungen beschreiben die intravenöse und epidu-rale Anwendung von
Alfentanil (Rapifen®) in der Geburtshilfe (Übersicht bei Briggs 2005, Gin 2000). Die
Verträglichkeit für das Neugeborene scheint der des Fentanyls zu gleichen. Ein Untersucher
hat geringe neuromuskuläre Funktionsabweichungen in den ersten 30 Minuten nach Geburt
ermittelt, in der Nabelschnur betrug die Konzentration ca. 30 % der mütterlichen Werte.
In einigen neueren Studien wurde Remifentanil zur Schmerzreduktion unter der Geburt
eingesetzt. Dabei wurde in einer der Studien über häufige Therapieabbrüche wegen starker
Nebenwirkungen bei der Mutter berichtet, wie z.B. Übelkeit, Erbrechen, Atemdepression
oder Juckreiz. Nebenwirkungen beim Neugeborenen fanden sich in keiner der Studien
(Übersicht in Briggs 2005).
Die Anwendung von Sufentanil zur Analgesie bei 351 Frauen unter der Geburt ergab eine
deutlich geringere Rate an Hypotonien im Vergleich zu anderen Analgesieverfahren,
aber signifikant mehr Schwankungen der fetalen Herzfrequenz bzw. eine häufiger auftretende
fetale Bradykardie (van de Velde 2001).
Berichte über teratogene Effekte liegen weder für Alfentanil vor noch für Remifentanil
(Ultiva®) und Sufentanil (Sufenta®). Für eine endgültige Bewertung des teratogenen
Risikos sind die vorliegenden Daten jedoch unzureichend.
Empfehlung für die Praxis:
Bei gegebener Indikation dürfen Fentanyl und ggf. auch die anderen Präparate in jeder
Phase der Schwangerschaft eingesetzt werden. Bei Verabreichung kurz vor der Entbindung
muss wie bei allen Analgetika vom Opiattyp mit einer atemdepressiven Wirkung beim
Neugeborenen gerechnet werden. Bei Rückenmark-nahen Analgesieverfahren sind Auswirkungen
auf den Kreislauf der Mutter (Hypotonie) zu vermeiden.
2.1.9
Andere Narkoanalgetika und zentral wirksame Analgetika
Pharmakologie und Toxikologie.
Pentazocin ( Fortral®) wurde (in den USA) in Kombination mit dem Antihistaminikum
Tripelenamin unter dem Namen T's and Blues als intravenös injizierbare Droge gehandelt.
Tierexperimentell erwies sich diese Kombination als nicht teratogen. Intrauterine
Wachstumsverzögerung und Verhaltensauffälligkeiten sind jedoch bei Ratten nach pränataler
Applikation gehäuft aufgetreten. Vergleichbare Effekte haben sich auch beim Menschen
nach Gebrauch dieser Droge gezeigt. Berichte zur therapeutischen Anwendung fehlen.
Bei wiederholter Einnahme bis zum Ende der Schwangerschaft muss mit opiattypischen
Entzugssymptomen gerechnet werden, wie z.B. Unruhe, Zittrigkeit, Muskelhypertonus,
Diarrhö und Erbrechen. Pentazocin kann den Uterustonus erhöhen (Übersicht in Briggs
2005).
Pentazocin hat sich ebensowenig wie Tilidin (in Valoron N®) gegenüber Pethidin in
der Geburtshilfe durchsetzen können. Hinweise auf ein teratogenes Potenzial beim Menschen
gibt es zu beiden Substanzen bisher nicht.
Tramadol (z. B. Tramal®) ist in Deutschland eines der meistverschriebenen Opioidanalgetika.
Seine analgetische Wirkung entspricht der von Codein und liegt damit bei einem Zehntel
der Wirkstärke vom Morphin. Im Gegensatz zu Morphin hat es in äquianalgetischen Dosen
jedoch keine deutliche atemdepressive Wirkung. Tramadol wird von Drogenabhängigen
missbraucht. Bei der Anwendung unter der Geburt war Tramadol sowohl hinsichtlich der
Schmerzreduktion als auch der mütterlichen Nebenwirkungen dem Pethidin unterlegen.
Unterschiede in der neonatalen Entwicklung fanden sich jedoch nicht (Keskin 2003).
In einer Meta-Analyse der Cochrane Database gab es keinen Unterschied in der Wirksamkeit
beider Substanzen (Elbourne 2000). In unserer Datenbank befinden sich 94 prospektiv
erfasste Schwangerschaften mit Tramadoltherapie im 1. Trimenon. Unter den 78 Lebendgeborenen
hatten 5 Kinder große Fehlbildungen (6,4%), davon 2 Vorhofseptum-defekte, eine Transposition
der großen Gefäße, eine Meningomyelozele mit Hydrozephalus und Spina bifida und ein
Kind mit angeborenem Katarakt und Mikrophthalmus. In mindestens einem Fall hatte die
Mutter zusätzlich teratogene Medikamente (u. a. Carbamazepin) eingenommen. Ein Verdacht
auf embryotoxische Effekte lässt sich mit diesen Daten nicht untermauern, zumal von
anderer Seite bisher weder zu Tra-madol noch zu anderen Opioidanalgetika substantielle
Hinweise auf Teratogenität beim Menschen geäußert wurden.
Über Embryotoxizität wurde bisher auch nicht im Zusammenhang mit Buprenorphin (Temgesic®;
siehe Kapitel 2.21.10), Dextropropoxy-phen, Flupirtin (Katadolon®), Meptazinol (Meptid®),
Nalbuphin (Nubain®), Nefopam (z.B. Silentan®) und Piritramid (Dipido-lor®) berichtet.
Systematische Untersuchungen zur Teratogenität fehlen jedoch.
Alle morphinähnlichen Opiate können abhängig von Behandlungsintervall und Dosis zur
Atemdepression beim Neugeborenen und zu Entzugserscheinungen führen. Dies gilt insbesondere
für die Substitution nach Drogenabusus (siehe auch Abschnitt 2.21.10). Neonatale Entzugserscheinungen
können ebenso wie beim Heroin ggf. erst verzögert einsetzen.
Empfehlung für die Praxis:
Bei entsprechender Indikation kann mit erprobten Vertretern aus dieser Arzneigruppe
wie Tramadol oder auch Buprenorphin in der Schwangerschaft behandelt werden. Als Schmerzmittel
sollten jedoch Paracetamol (ggf. mit Codein) oder (bis Woche 30) Ibuprofen bevorzugt
werden. Nach heutiger Kenntnislage ergibt sich aus einer Exposition mit anderen in
diesem Abschnitt genannten Mitteln keine Risikosituation, die weitergehende Diagnostik
erfordert oder einen risikobegründeten Abbruch einer gewünschten und intakten Schwangerschaft
(siehe Kapitel 1.15).
2.1.10
Naloxon
Pharmakologie und Toxikologie.
Naloxon (z.B. Narcanti®) ist in der Lage, die atemdepressorische Wirkung von Opiaten
aufzuheben. Bei Kindern, deren Mütter in der Schwangerschaft Opiatabusus betrieben
haben, kann Naloxon Entzugserscheinungen verursachen. Ein terato-genes Potenzial wurde
beim Menschen bisher nicht beschrieben.
Empfehlung für die Praxis:
Naloxon darf bei entsprechender Indikation eingesetzt werden.
2.1.11
Klassische nichtsteroidale Säureantiphlogistika/Antirheumatika (NSAR)
Pharmakologie.
Zu dieser Arzneimittelgruppe gehören Acemetacin (Rantudil®), Azapropazon, Dexketoprofen
(Sympal®), Diclofenac (z.B. Diclac®, Voltaren®), Etofenamat (z.B. Rheumon®), Fenbufen,
Flufenaminsäure, Flurbiprofen (z.B. Dobrofen®, Ocuflur), Ibuprofen (z.B. Dolgit®),
Indometacin (z.B. Indo-CT®), Indoprofen, Ketoprofen (z. B. Alrheumun®, Orudis®), Ketorolac,
Lonazolac (z. B. Argun), Lor-noxicam (Telos®), Mefenaminsäure (z.B. Ponalar®, Parkemed®),
Meloxicam (Mobec®), Nabumeton, Naproxen (z.B. Proxen®), Niflu-minsäure, Nimesulid,
Piroxicam (z.B. Felden®), Proglumetacin (Pro-taxon®), Sulindac, Suprofen, Tenoxicam
und Tiaprofensäure (z.B. Surgam®). Die antiphlogistische Wirkung dieser großen Arzneimittelgruppe
beruht auf der Synthesehemmung der Prostaglandine, die beim Entzündungsvorgang ausgeschüttet
werden. Meloxicam und Nimesulid hemmen vorwiegend, aber nicht selektiv, die Cyclooxygenase-2
(COX-2). Ibuprofen und Indometacin sind die am besten untersuchten NSAR (Norton 1997).
Als Indiz für wirksame Konzentrationen von Diclofenac beim Fetus mögen die Ergebnisse
von Siu (2000) gelten: Vor einem Schwangerschaftsabbruch zwischen Woche 8 und 12 erhielten
30 Frauen zweimal 50 mg, welches in verschiedenen fetalen Geweb-sproben in ähnlichen
Konzentrationen nachweisbar war wie im mütterlichen Blut. Bei zweimal 500 mg Naproxen
erreichten die Konzentrationen in fetalen Gewebsproben dagegen durchschnittlich nur
ein Zehntel der mütterlichen Blutspiegel. Ein leicht steigender plazentarer Transfer
war bei Naproxen mit fortschreitender Schwangerschaft nachweisbar.
Zur Tokolyse mit NSAR siehe Abschnitt 2.14.8.
Fehlbildungen.
Hinweise auf ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko beim Menschen liegen zu dieser Medikamentengruppe
nicht vor. Eine retrospektive Analyse mit Daten des schwedischen Geburtsregisters
zu 2.557 Lebendgeborenen mit mütterlicher NSAR-Einnahme im 1. Trime-non diskutiert
bei nicht erhöhtem Gesamtfehlbildungsrisiko eine leicht erhöhte Rate an kardiovaskulären
Defekten ohne Spezifizierung der Arzneisubstanzen (Ericson 2001).
Zu Ibuprofen liegen uns eigene Daten von 188 prospektiv erfassten Schwangerschaften
mit Therapie im 1. Trimenon vor. In 21 Fällen endete die Schwangerschaft mit einem
Abbruch, in 18 Fällen mit einem Spontanabort und in 149 Fällen mit einer Lebendgeburt.
Insgesamt fan den sich 6 große Fehlbildungen, darunter 3 Vorhofseptumdefekte, einmal
kombiniert mit einer Pulmonalklappenstenose, sowie eine Spina bifida, eine Lippen-Gaumen-Spalte
und eine komplexe Skelettfehlbildung. Zusammenfassend ergibt sich daraus kein Anhalt
für ein erhöhtes Abort- oder Gesamtfehlbildungsrisiko.
Systematische Studien zur Anwendung von Indometacin im 1. Tri-menon liegen nicht vor.
Eigene Daten umfassen 172 prospektiv erfasste Schwangerschaften mit Diclofenac-Therapie
im 1. Trimenon, von denen 22 mit einem Abbruch, 15 mit einem Spontanabort und 135
mit einer Lebendgeburt endeten. Große Fehlbildungen fanden sich in 6 Fällen, darunter
2 Vorhofseptumdefekte, ein Hydrozephalus, eine Doppelanlage der Niere, eine Nierenagenesie
und beidseitiger Klumpfuß. Daraus lässt sich kein Anhalt für ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko
ableiten.
Für Naproxen im 1. Trimenon fand sich in retrospektiven Analysen mit Daten des schwedischen
Geburtsregisters ein leicht erhöhtes Risiko für Spaltbildungen bei nicht erhöhtem
Gesamtfehlbildungsri-siko (Ericson 2001) und ein ebenfalls leicht erhöhtes Risiko
für kardiovaskuläre Fehlbildungen (Källén 2003). Ein Fallbericht beschreibt ein Neugeborenes
mit großer beidseitiger Lippen- und Gaumen-Spalte, Hypertelorismus, breiter Nasenwurzel,
tiefem Ohransatz sowie asymmetrischem Fehlen von Endphalangen beider Füße nach mütterlicher
Therapie mit Bisoprolol, Naproxen und Sumatriptan bis Woche 5 (Kajantie 2004). Der
Expositionszeitraum spricht gegen einen ursächlichen Zusammenhang. Von den durch uns
prospektiv erfassten 10 Fällen mit Naproxentherapie im 1. Trimenon endeten 2 Schwangerschaften
mit einem Spontanabort, die 8 Lebendgeborenen waren gesund.
Spontanaborte.
Zwei Studien beschreiben ein erhöhtes Abortrisiko durch die Einnahme nichtsteroidaler
Antiphlogistika (Li 2003, Nielsen 2001). Die geringe Fallzahl beider Studien lässt
deren Aussage jedoch fraglich erscheinen. Des Weiteren werden in einer dieser Arbeiten
lediglich Rezeptierungen registriert ohne Angabe zur tatsächlichen Einnahme des Medikamentes.
Eine genaue Angabe der Substanzen fehlt in beiden Publikationen.
Auswirkungen auf den Kreislauf und andere Organsysteme beim Fetus.
Im letzten Drittel der Schwangerschaft können nichtsteroidale Antirheu-matika (NSAR)
zum vorzeitigen Verschluss des Ductus arteriosus beim Fetus führen (Mas 1999). Eine
Mekoniumanalyse bei Neugeborenen zur Klärung eines möglichen Zusammenhanges zwischen
NSAR und persistierendem pulmonalen Hypertonus (PPHN) fand bei Neugeborenen mit PPHN
mehr als doppelt so häufig NSAR im Mekonium (Ibu-profen, Naproxen, Indometacin sowie
Acetylsalicylsäure) als bei gesunden Kindern (Alano 2001).
Je reifer der Fetus, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich sein Ductus
arteriosus unter der antiphlogistischen Therapie schließt (Rasanen 1995). Schon von
Schwangerschaftswoche 27 an wurde dieser Effekt beobachtet (Bivins 1993). Vor Woche
32 soll der fetale Kreislauf nur in 5–10% der Fälle ansprechen, mit 32 Wochen in 50%
und ab Woche 34 in 100% der Fälle (Moise, 1993, Moise et al., 1988). Auch ein scheinbar
paradoxer Effekt wurde nach pränataler Exposition mit NSAR bei Neugeborenen beobachtet:
ein persistierender Ductus arte-riosus. Dieser musste operativ verschlossen werden
(Norton 1993). Von den Autoren wurde postuliert, dass Indometacin in diesem Fall die
Intima des Ductus geschädigt und damit den Spontanverschluss verhindert hat.
Aus einem vorzeitigen Ductusverschluss kann sich ein pulmonaler Hypertonus beim Neugeborenen
entwickeln, wie z.B. bei einem reifen Kind, dessen Mutter 2 Wochen vor Entbindung
wegen einer Thrombophlebitis außer Heparin täglich 75 mg Diclofenac für 5 Tage erhalten
hatte. Der pulmonale Hypertonus persistierte und musste 22 Tage lang mit hohen Dosen
NO-Inhalation behandelt werden. Ein offenbar ischämisch verursachter Trikuspidalklappenreflux
blieb auch danach bestehen (Zenker 1998). Ein weiterer Fall mit pulmonalem Hypertonus
wurde bei einem Neugeborenen mit geschlossenem Ductus arteriosus beschrieben, das
in Woche 39 auf Grund einer fetaler Bradykardie per Sectio entbunden wurde. Die Mutter
war drei Tage zuvor mit Diclofe-nac therapiert worden (Siu 2004). In einem weiteren
Fall mit zweimal täglich 220 mg Naproxen innerhalb der letzten 4 Tage vor Entbindung
entwickelte ein reif geborenes Kind 2 Stunden nach Geburt einen pul-monalen Hypertonus
bei Rechtsherzhypertrophie und geschlossenem Ductus arteriosus. Die Symptomatik normalisierte
sich unter Sauerstofftherapie bis zum 2. Lebenstag. Nach 5 Monaten war das Kind klinisch
gesund, bei leichter echokardiographisch noch nachweisbarer Rechtsherzhypertrophie
(Talati 2000).
Auch die fetale und neonatale Nierenfunktion kann bis zur Anurie gehemmt werden, wenn
im letzten Drittel der Schwangerschaft mit einem NSAR behandelt wurde. Dieser Effekt
wird auf eine Minderperfusion der Niere und einen Anstieg des zirkulierenden Vasopressin
zurückgeführt (van der Heijden 1994, Walker 1994). Ebenfalls durch Minderperfusion
beim Fetus werden die bei Neugeborenen nach präna-taler NSAR-Exposition beobachteten
Fälle von nekrotisierender Ente-rokolitis (NEC) erklärt (Ojala 2000, Parilla 2000,
Major 1994, Norton 1993). Nierenfunktionsstörungen und NEC traten auch bei Neugeborenen
auf, bei denen man den persistierenden Ductus arteriosus nach der Geburt mit Indometacin
verschließen wollte.
Schließlich wurden auch intrakranielle Blutungen besonders bei Frühgeborenen beschrieben,
möglicherweise als Folge einer durch Indometacin induzierten Hemmung der Thrombozytenaggregation
(Norton 1993).
Es ist anzunehmen, dass die exemplarisch beschriebenen Organstörungen beim Fetus nach
Gabe aller NSAR auftreten können (z.B. Ductusverschluss bei Ketoprofen und Nifluminsäure;
Radi 1999, Llanas 1996).
Beim vorwiegend als COX-2-Hemmstoff wirkenden Nimesulid wurde in zwei Kasuistiken
über (dialysepflichtiges) Nierenversagen beim Kind berichtet, nachdem die Mutter in
der Spätschwangerschaft behandelt worden war. Im zweiten Fall waren es 200 mg/Tag
zur Toko-lyse von Woche 26 bis 32 (Balasubramaniam 2000, Peruzzi 1999). Bei einem
in Woche 33 geborenen Kind wurde ein akutes Nierenversagen beschrieben nach Feststellung
eines Oligohydramnions in Woche 30 und bereits im 1. Trimenon, also vor der „sensiblen
Phase” erfolgter Therapie mit Nimesulid, Diclofenac und Paracetamol (Benini 2004).
Eine weitere Kasuistik beschreibt ein Kind mit chronischer Nierenschädigung nach vierwöchiger
Nimesulidtherapie der Mutter ab Woche 30, bei der bereits 2 Wochen nach Therapiebeginn
ein Oligohydramnion diagnostiziert wurde. Eine konservative Therapie war noch im Alter
von 20 Monaten erforderlich (Magnani 2004). Holmes und Mitarbeiter (2000) berichten
ebenfalls über ein Oligohydramnion, welches 3 Wochen nach einer in Woche 24 begonnenen
Nimesulidtherapie zur Wehenprophylaxe auffiel und sich nach Ende der Therapie wieder
normalisierte. Das reif geborene Kind war gesund. Ein ähnliches Ergebnis fand sich
in einem Bericht über 5 Schwangerschaften mit Nimesulid-therapie wegen vorzeitiger
Wehen. Alle Frauen entwickelten ca. 3 Tage nach Therapiebeginn ein Oligohydramnion,
welches sich nach Behandlungsende zurückbildete. Keines der Kinder wies eine manifeste
Nierenschädigung auf (Locatelli 2001). In einer prospektiven Studie entwickelte rund
die Hälfte der 44 Frauen, die eine Nimesulidtherapie zur Prophylaxe vorzeitiger Wehen
erhielten, nach ca. vierwöchiger Therapie ein Oligohydramnion, welches sich nach Therapieende
wieder zurückbildete. In einem Fall mit akutem Nierenversagen des Frühgeborenen hatte
die Mutter die vorgeschriebenen Kontrolluntersuchungen nicht wahrgenommen. In keinem
Fall war eine Beendigung der Therapie wegen Verschluss des Ductus arteriosus erforderlich
(Sawdy 2004). Paladini (2005) beschreibt 10 Fälle mit Verschluss des Ductus ateriosus
beim Neugeborenen nach Einnahme von maximal 2 analgetischen Einzeldosen kurz vor der
Geburt (Paladini 2005).
Andere Untersucher fanden keine Nebenwirkungen beim Neugeborenen nach Tokolyse mit
Sulindac bei 10 Schwangeren in Woche 28–32 (Sawdy 2003). Sulindac soll aufgrund der
geringen Plazentagängigkeit seines aktiven (Sulfid-)Metaboliten keine dopplersonographisch
feststellbaren Veränderungen auf den fetalen Kreislauf besitzen (Carlan et al., 1995,
Carlan et al., 1992, Kramer 1995). Dieser Vorzug gegenüber anderen NSAR wird in anderen
Publikationen nicht bestätigt (Kramer 1999).
Empfehlung für die Praxis:
Gut erprobte NSAR wie Ibuprofen und Diclofenac dürfen als Analgetika oder zur antiphlogistischen
Therapie in den ersten zwei Dritteln der Schwangerschaft verwendet werden. Ab Woche
30 sind diese Mittel zu meiden. Bei dennoch erfolgter Behandlung in der Spätschwangerschaft
soll der fetale Kreislauf regelmäßig (1- bis 2-mal wöchentlich) sonographisch auf
Veränderungen der Hämodynamik im Ductus arteriosus kontrolliert und ein Oli-gohydramnion
ausgeschlossen werden. Die Tokolyse mit Prostaglandinantago-nisten kann nicht empfohlen
werden. Keines dieser Mittel erfordert nach Therapie im 1. Trimenon invasive Diagnostik.
Ein risikobegründeter Abbruch einer gewünschten und intakten Schwangerschaft ist nicht
indiziert (siehe Kapitel 1.15).
2.1.12
Selektive Cyclooxygenase-2 (COX-2)-Inhibitoren
Pharmakologie und Toxikologie.
Von dieser Stoffgruppe erwartete man eine deutlich bessere Verträglichkeit aufgrund
ihrer selektiven Hemmung der für Entzündungsprozesse entscheidenden Cyclooxygenase
des Typs 2. Man erhoffte sich ein geringeres Risiko von Gastrointestinal- und Nierenschäden,
die bei den klassischen NSAR durch unspezifische Hemmung der Typ-1-Cyclooxygenase
verursacht werden. Zu den neuen COX-2-Inhibitoren zählen Celecoxib (Celebrex®), Etoricoxib
(Arcoxia®), Lumiracoxib, Parecoxib (Dynastat®), Rofecoxib (VIOXX) und Valdecoxib (Bextra®)
mit Halbwertszeiten von 8 bis 17 Stunden. Rofecoxib wurde bereits wegen schwerer kardialer
Nebenwirkungen vom Markt genommen. Ebenso wurde der Verkauf von Valdecoxib wegen schwerwiegender
Hautreaktionen bis auf weiteres gestoppt. Wegen möglicher kardialer und gastrointestinaler
Nebenwirkungen sollten „Coxibe” nicht zum Einsatz kommen. Für Vorteile der COX-2-Inhibitoren
bei Schwangeren gegenüber den klassischen NSAR gibt es keine Hinweise.
Es liegen kaum Daten zur Anwendung der COX-2-Inhibitoren in der Schwangerschaft vor.
Tierversuche zeigten bisher keine spezifischen embryotoxischen Schäden, die über erwartete
prostaglandinantagonis-tische Effekte hinausgingen.
Bei eigenen prospektiven Untersuchungen von 21 Schwangerschaften mit Celecoxib-Exposition
im 1. Trimenon fanden sich keine großen Fehlbildungen. Von 19 beim Hersteller gesammelten
Schwangerschaften mit Rofecoxib-Exposition im 1. Trimenon endeten 17 mit der Geburt
eines gesunden Kindes und 2 mit Spontanabort (Merck & Co 2004). Von 40 eigenen prospektiv
dokumentierten Rofecoxib-Behandlungen im 1. Trimenon endeten 2 mit einem Schwangerschaftsabbruch,
5 mit einem Spontanabort und 32 mit einer Lebendgeburt. Zwei Kinder wiesen Fehlbildungen
auf: ein kleiner Vorhofseptumdefekt und eine Transposition der großen Gefäße. Von
5 mit Valdecoxib behandeltenr Schwangerschaften wurde eine abgebrochen und 4 endeten
mit der Geburt eines gesunden Kindes (eigene Daten).
Eine kleine randomisierte Studie fand keine Unterschiede beim toko-lytischen Effekt
zwischen Celecoxib und Indometacin. Im Gegensatz zu Indometacin waren unter Celecoxib
kein partieller vorzeitiger Ver-schluss des Ductus arteriosus und auch keine Verminderung
der Amni-onflüssigkeit nachweisbar (Stika 2002). Beim randomisierten Vergleich von
Rofecoxib und Magnesiumsulfat war weder in der Effektivität der Tokolyse noch hinsichtlich
neonataler Nebenwirkungen ein Unterschied feststellbar (McWorther 2004). Für eine
endgültige Aussage sind die Fallzahlen zu gering. Man kann davon ausgehen, dass die
bei den klassischen NSAR und Acetylsalicylsäure beschriebenen fetotoxischen Wirkungen
in der Spätschwangerschaft auch bei den COX-2-Inhibito-ren zu erwarten sind.
In einer kleinen randomisierten Studie fand man nach Rofecoxib- Einnahme im Vergleich
zu Placebo eine verspätete Follikelruptur. Das könnte ein Hinweis für eine mögliche
Herabsetzung der Fertilität bei Einnahme von Rofecoxib zum Konzeptionszeitpunkt sein
- ein Effekt, der auch im Zusammenhang mit anderen NSAR schon erörtert wurde (Pall
2001).
Die vorliegenden Daten zu Coxiben in der Schwangerschaft erlauben keine differenzierte
Risikobewertung.
Empfehlung für die Praxis:
Selektive COX-2-Inhibitoren sind aufgrund mangelnder Erfahrung in der Schwangerschaft
zu meiden. Nach heutiger Kenntnis ergibt sich aus einer dennoch erfolgten Exposition
im 1. Trimenon keine Risikosituation, die eine invasive Diagnostik erfordert oder
einen risikobegründeten Abbruch einer gewünschten und intakten Schwangerschaft (siehe
Kapitel 1.15). Eine Ultraschallfeinuntersuchung sollte zur Bestätigung der normalen
Entwicklung des Fetus angeboten werden.
2.1.13
Migränebehandlung
Man unterscheidet zwischen der medikamentösen Migräneprophylaxe und der Behandlung
einer Migräneattacke. Die Pathophysiologie der Attacke verläuft in drei Phasen:
▪
Prodromalstadium mit Vasokonstriktion der Gefäße der betroffenen Hirnhälfte,
▪
Schmerzstadium mit Vasodilatation,
▪
Ödemstadium, das mit einer erhöhten Gefäßpermeabilität einhergeht und lange anhalten
kann.
Zur medikamentösen Therapie gibt es unterschiedliche Ansätze. Die im Folgenden angeführten
Mittel werden zum Teil an anderer Stelle in diesem Buch detailliert erörtert.
Generell werden zur medikamentösen Prophylaxe und Therapie der Migräne die folgenden,
mit Einschränkungen auch in der Schwangerschaft akzeptablen Mittel empfohlen (Göbel
1999). Keines der angegebenen Medikamente steht in Verdacht, beim Menschen teratogen
zu wirken. Allerdings sind beispielsweise Cyclandelat und Flunarizin bisher unzureichend
untersucht. Die zur Migräneprophylaxe empfohlenen Dosen von Betarezeptorenblockern
(Metoprolol und Propranolol) können auch beim Fetus zu einer relativen Bradykardie
führen. Diese ist nicht bedrohlich, kann aber falsch interpretiert werden, wenn die
Medikation nicht bekannt ist.
Migräneprophylaxe
Metoprolol, Propranolol, Cyclandelat, Flunarizin, Acetylsalicylsäure, Magnesium, Ami-triptylin,
Naproxen (nicht nach Woche 30)
Therapie der leichten Migräneattacke
Prokinetisches Antiemetikum bei Attackenbeginn: Metoclopramid, Domperidon Analgetikum
nach 15 Minuten: Paracetamol, bis Woche 30 auch Ibuprofen und ASS
Therapie der schweren Migräneattacke
Sumatriptan (die anderen Triptane sollen nur bei Versagen oder Unverträglichkeit von
Sumatriptan genommen werden)
Analgetika
Pharmakologie und Toxikologie.
Paracetamol (z.B. ben-u-ron®, Enelfa®) (siehe Abschnitt 2.1.1) reicht zur Migränetherapie
allein oft nicht aus. Eine Kombination mit Coffein oder Codein (z.B. Prontopyrin®
plus, talvosilen®) kann hilfreich sein. Acetylsalicylsäure (siehe Abschnitt 2.1.2)
und Antiphlogistika wie Ibuprofen (siehe Abschnitt 2.1.11) können von Woche 30 an
den fetalen Ductus arteriosus vorzeitig verengen. Acetylsalicylsäure beeinträchtigt
außerdem die Blutgerinnung. Dies ist besonders bei drohender Frühgeburt von Bedeutung.
Antiemetika und Prokinetika
Pharmakologie und Toxikologie.
Das Antiemetikum Metoclopramid (siehe Abschnitt 2.4.6) wirkt gegen die begleitende
Übelkeit und begünstigt ebenso wie Domperidon die Resorption der Analgetika durch
Beschleunigung der Magenpassage.
Ergotaminabkömmlinge
Pharmakologie und Toxikologie.
Das gefäßtonisierende Dihydroergot-amin (DHE; z.B. DET MS®, Dihydergot®) galt früher
wegen seiner Verwandtschaft zum Mutterkornalkaloid Ergotamin in der Schwangerschaft
als kontraindiziert. Aufgrund der Hydrierung kann Dihydroer-gotamin jedoch Biomembranen
schlecht überwinden und wird nach oraler Gabe nur in geringem Maß resorbiert. Der
Wirkungsgipfel ist nach 2 Stunden erreicht. DHE wird in der Leber abgebaut, die Metabo-liten
werden über die Galle ausgeschieden. Es ist in manchen Fällen hilfreich, darf aber
in den letzten Wochen vor der Geburt nur oral und bei Wehenbereitschaft überhaupt
nicht verabreicht werden. Nach oraler Anwendung in therapeutischer Dosis sind embryotoxische
Effekte nicht zu erwarten. Ein Risiko ist jedoch bei Überdosis und parenteraler Behandlung
nicht auszuschließen. Eine Auswertung von Daten des schwedischen Geburtsregisters
fand bei 52 im 1. Trimenon behandelten Schwangeren keine großen Fehlbildungen bei
den Kindern (Källén 2001). Eigene Daten umfassen 44 prospektiv erfasste Schwangerschaften
mit Behandlung im 1. Trimenon, von denen 37 zu Lebendgeburten führten. Dabei fanden
sich 2 große Fehlbildungen (Ventrikelseptumde-fekt, Neuralrohrdefekt).
Nichthydrierte Ergotalkaloide wie Ergotamintartrat (z.B. Ergo-Kra-nit® akut) sind
aufgrund ihrer pharmakokinetischen Eigenschaften theoretisch eher als DHE in der Lage,
Uteruskontraktionen und eine Perfusionsstörung der Plazenta zu verursachen, mit der
Folge einer Fruchtschädigung oder eines Fruchttodes (Übersicht in Briggs 2005). Allerdings
sind bisher nur Einzelfälle von Fehlbildungen (Disruptions-anomalien) und Totgeburten
beobachtet worden (Hughes 1988; eigene Beobachtungen). Epidemiologische Studien zeigten
bisher keinen eindeutigen Anstieg der Gesamtfehlbildungsrate (Raymond 1995). Es gibt
2 Fallberichte mit einer Möbius-Sequenz (Entwicklungsstörung der Hirnnerven) nach
Exposition in der Frühschwangerschaft (Smets 2003, Graf 1997). Bei 191 Müttern mit
Ergotaminexposition im 1. Trimenon war kein erhöhtes Fehlbildungsrisiko nachweisbar
(Källén 2001). In einer Fall-Kontroll-Studie zu Kindern mit Neuralrohrdefekten hatten
die Mütter erkrankter Kinder häufiger Ergotamin eingenommen (Medveczky 2004). Da die
Einnahme allerdings nicht im sensiblen Zeitraum erfolgte, ist der Autor bei der Interpretation
seiner Ergebnisse zurückhaltend.
Die anderen oral verfügbaren Ergotaminabkömmlinge Lisurid (z.B. Dopergin®) und Methysergid
(Deseril® retard) sind hinsichtlich ihrer Verträglichkeit in der Schwangerschaft nicht
so gut untersucht wie DHE und Ergotamintartrat.
Triptan-Serotonin-Agonisten
Pharmakologie und Toxikologie.
Sumatriptan (z.B. Imigran®) hilft bei schweren Migräneattacken. Insgesamt mehr als
700 Schwangerschaften wurden vom Hersteller und im Rahmen von Studien prospektiv ausgewertet.
Bei Exposition vorwiegend im 1. Trimenon ergaben sich keine Hinweise auf ein teratogenes
Potenzial beim Menschen (Glaxo Wellcome 2005, Reiff-Eldridge 2000, O'Quinn 1999, Shuhaiber
1998, Eldrige 1997). Ein Fallbericht beschreibt ein Neugeborenes mit großer beidseitiger
Lippen- und Gaumenspalte, Hypertelorismus, breiter Nasenwurzel, tiefem Ohrenansatz
sowie asymmetrischem Fehlen von Endphalangen beider Füße nach mütterlicher Therapie
mit Sumatrip-tan, Bisoprolol und Naproxen bis Woche 5 (Kajantie 2004). Der frühe Expositionszeitraum
spricht gegen einen ursächlichen Zusammenhang. Bei der retrospektiven Analyse von
Daten des schwedischen Geburtsregisters fanden sich 658 Sumatriptan-Expositionen im
1. Trimenon. Es war weder ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko nachweisbar, noch ergaben
sich Hinweise auf spezifische teratogene Effekte (Källén 2001). Bei 34 pränatal exponierten
Kindern aus dem dänischen Geburtsregister fanden sich keine Fehlbildungen. Allerdings
beobachtete man ein leicht erhöhtes Risiko für eine Frühgeburt (Olesen 2000). Diese
Aussage konnte in den anderen größeren Studien zu Sumatriptan nicht bestätigt werden.
Zu Naratriptan (Naramig®) wurden bisher 38 im 1. Trimenon exponierte Schwangerschaften
dokumentiert, auch hier ergaben sich keine Hinweise auf ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko
(Glaxo Wellcome 2005). Tierexperimentell wurden Skelett- und Gefäßanomalien bei Plasmakonzentrationen
beobachtet, die nur um das 2,5fache über den therapeutisch empfohlenen lagen.
Zu Rizatriptan (Maxalt®) gibt es 32 prospektiv und 11 retrospektiv erfasste Fälle
aus dem Schwangerschaftsregister des Herstellers sowie weitere 41 Fälle des schwedischen
Geburtsregisters, die bisher kein erhöhtes teratogenes Risiko erkennen lassen (Fiore
2005). Unsere Daten zu 15 im 1. Trimenon behandelten Schwangeren wiesen keine Fehlbildungen
auf.
Von der 28 mit Zolmitriptan (AscoTop®) im 1. Trimenon behandelten Schwangeren unserer
prospektiven Datenbank wiesen 2 von 21 Lebendgeborenen eine große Fehlbildung auf
(Ventrikelseptumdefekt, Mikrophthalmus mit Katarakt).
Zu Almotriptan (Almogran®), Eletriptan (Relpax®) und Frovatrip-tan (Allegro®), liegen
keine Daten vor.
Zusammengefasst ist außer zu Sumatriptan keine differenzierte Bewertung möglich. Ein
erhebliches teratogenes Risiko ist bisher jedoch nicht zu erkennen.
Andere Migränemittel
Pharmakologie und Toxikologie.
Zu Cyclandelat (z.B. Natil®), Ethaverin, Iprazochrom (Divascan®) und Pizotifen (Sandomigran,
Mosegor®) liegen keine ausreichenden Erfahrungen vor.
Für eine Intervallprophylaxe der Migräne wird auch eine Änderung von Ernährung und
Lebensführung empfohlen.
Empfehlung für die Praxis:
Migräneleiden werden durch eine Schwangerschaft häufig günstig beeinflusst. Die meisten
der allgemein empfohlenen Arzneimittel zur Prophylaxe und Therapie der Migräne sind
auch in der Schwangerschaft akzeptabel und zu Beginn dieses Abschnitts in einer Übersicht
zusammengestellt. Kombinationen von Paracetamol mit Coffein oder Codein können bei
Beachtung des Suchtpotenzials für die Mutter und des atemdepressiven Effekts beim
Neugeborenen unter der Geburt in der gesamten Schwangerschaft verwendet werden, Ibuprofen
bis Woche 30. Mit Ausnahme der späteren Schwangerschaft bzw. bei Wehenbereitschaft
kann auch Dihydroergotamin per os als Vasotonikum eingesetzt werden. Kontraindiziert
in den letzten Schwangerschaftswochen ist die parenterale Gabe von Ergotalkaloiden
und insbesondere jede Ergotalkaloidan-wendung bei wehenbereitem Uterus. Natürlich
sind auch in der Schwangerschaft nichtmedikamentöse Verfahren wie Akupunktur und Akupressur
sowie Umstellungen von Lebensstil und Ernährung in Erwägung zu ziehen. Wurde ein von
uns nicht empfohlenes Mittel genommen, erfordert dies keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch
(siehe Kapitel 1.15). Nach versehentlicher Injektion von Ergotaminabkömmlingen im
letzten Trimenon können Auswirkungen auf Wehentätigkeit und fetales Befinden kardiotokographisch
ausgeschlossen werden. Nach Applikation von Triptanen während der Organogenese (mit
Ausnahme des hinreichend gut untersuchten Sumatriptan) sollte zur Bestätigung einer
normalen Entwicklung des Fetus eine Ultraschallfeindiagnostik angeboten werden.
2.1.14
Myotonolytika und andere Analgetika
Pharmakologie und Toxikologie.
Zur Behandlung von Muskelverspannungen werden Baclofen (z.B. Lioresal®), Carisoprodol,
Chininethylcar-bonat, Chlormezanon, Clostridium botulinum Toxin (z. B. BOTOX®, Dysport®;
siehe Abschnitt 2.16.7), Dantrolen (z.B. Dantamacrin®), Fe-nyramidol, Mephenesin (DoloVisano®),
Methocarbamol (Ortoton®), Orphenadrin (Norflex®), Pridinol (z.B. Myoson®), Tetrazepam
(z.B. Mobiforton®), Tizanidin (Sirdalud®) und Tolperison (z.B. Mydo-calm®) angeboten.
Zur Behandlung von neuropathischen Schmerzen steht seit neuestem Pregabalin (Lyrica®)
zur Verfügung (siehe Abschnitt 2.10.13).
Zur intrathekalen Anwendung von Baclofen, z.B. bei spastischer Lähmung, gibt es Berichte
über 5 Schwangerschaften. In 3 Fällen wurde Baclofen während der gesamten Schwangerschaft
verabreicht. Alle Kinder waren gesund und wiesen keine Entzugssymptomatik auf (Roberts
2003, Munoz 2000). Zur Baclofen-Therapie per os über den gesamten Zeitraum der Schwangerschaft,
bei der wesentlich höhere Dosierungen benötigt werden, gibt es 2 Kasusistiken (Dosis
20–80 mg/Tag). Beide Neugeborenen wiesen keine Fehlbildungen, aber eine Entzugssymptomatik
auf. Diese äußerte sich in einem Fall in Krampfanfällen am 7. Lebenstag (Ratnayaka
2001). Beim anderen Neugeborenen wurden kurz nach der Entbindung Übererregbarkeit
und Atembeschwerden beschrieben (Moran 2004). Aus eigener Beobachtung können wir über
2 gesunde Neugeborene nach oraler Baclofen-Therapie im 1. Trimenon berichten.
Nach Behandlung mit Chlormezanon in der Schwangerschaft wird über eine fulminant verlaufende
Hepatitis mit Lebertransplantation und der anschließenden Geburt eines gesunden Kindes
berichtet (Bourliere 1992). Eigene Daten zur Chlormezanon-Therapie im 1. Trimenon
umfassen 6 Fälle. Von den 5 lebend geborenen Kindern wiesen 2 große Fehlbildungen
auf (Arthrogryposis, Klumpfuß).
Die Analyse von 36 prospektiv erfassten Schwangerschaften mit Te-trazepam-Exposition
im 1. Trimenon ergab keinen Hinweis auf ein erhöhtes Risiko für große Fehlbildungen
(eigene Daten).
Zu Tolperison (z.B. Mydocalm®) können wir über 22 prospektiv erfasste Schwangerschaften
berichten. Davon wies 1 Kind multiple Skelettfehlbildungen auf.
Ausreichende Erfahrungen über die Anwendung in der Schwangerschaft liegen zu keinem
dieser teilweise recht alten und therapeutisch überholten Mittel vor.
Empfehlung für die Praxis:
Abgesehen von der Notfallbehandlung mit Dantro-len bei maligner Hyperthermie sind
Myotonolytika in der Schwangerschaft Ausnahmesituationen vorbehalten. Physiotherapeutische
Maßnahmen und Anti-phlogistika/Antirheumatika sind vorzuziehen. Falls erforderlich,
kann kurzzeitig die spannungslösende Wirkung des besser untersuchten Diazepam genutzt
werden. Eine Exposition mit den genannten Myotonolytika rechtfertigt weder einen risikobegründeten
Schwangerschaftsabbruch noch invasive Diagnostik (siehe Kapitel 1.15).
2.1.15
Gicht-Intervallbehandlung
Pharmakologie und Toxikologie.
Gicht ist auf eine erhöhte Harnsäurekonzentration im Blut und in den Geweben zurückzuführen.
Bei der Therapie unterscheidet man die Intervallbehandlung mit Urikosurika und Allopurinol
von der des akuten Anfalls mit Colchicin und nichtsteroi-dalen Antiphlogistika (NSAR).
Gicht tritt selten vor der Menopause auf. Bei Frauen im gebärfähigen Alter spielt
die Therapie der Gicht daher nur eine untergeordnete Rolle.
Die zur Intervalltherapie der Gicht eingesetzten Urikosurika Benz-bromaron (Benzbromaron
AL®) und Probenecid (Probenecid Wei-mer®) fördern über die Hemmung der renalen Rückresorption
die Ausscheidung der Harnsäure.
Allopurinol (z.B. Zyloric®) ist ein Urikostatikum, das eine Senkung der Harnsäurekonzentration
im Blut über die Hemmung des Enzyms Xanthinoxidase bewirkt.
Harnsäure ist ein Endprodukt des Purinstoffwechsels. Da Allopuri-nol strukturell diesen
Nukleinsäuren ähnlich ist, besteht theoretisch die Möglichkeit, dass das Arzneimittel
oder seine Metaboliten in Nukleinsäuren des Embryos eingebaut werden. Im Tierversuch
erwies sich Allo-purinol bei Ratten als nicht teratogen, bei Mäusen wurden u.a. vermehrt
Gaumenspalten beobachtet. Erfahrungen beim Menschen beschränken sich auf wenige Fallberichte.
Diese erlauben wegen zusätzlicher mütterlicher Risikofaktoren (Grunderkrankung, andere
Medikamente) keine differenzierte Bewertung der pränatalen Verträglichkeit von Allopurinol
(Übersicht in Briggs 2005). Bei Anwendung im 3. Trimenon wurden keine Auffälligkeiten
bei den Neugeborenen beobachtet (Gulmezoglu 1997). Eigene Daten umfassen 20 prospektiv
erfasste Schwangerschaften mit Allopurinoltherapie im 1. Trimenon. Von den 17 Lebendgeborenen
wies ein Kind multiple Fehlbildungen auf (Retrognathie, Nierenhypoplasie, Anophthalmie
beidseits, Osteo-penie, Kryptorchismus).
Probenecid geht auf den Embryo über und hat sich als gut verträglich für Mutter und
Kind erwiesen (Übersicht in Briggs 2005). Da Probene-cid weder analgetische noch antiphlogistische
Wirkungen hat, ist es beim akuten Gichtanfall wirkungslos.
Zu Benzbromaron gibt es keine ausreichenden dokumentierten Erfahrungen in der Schwangerschaft.
Neu ist Febuxostat, ein „Nicht-Purin-Hemmer” der Xanthinoxidase, für den noch keine
Erfahrungen in der Schwangerschaft vorliegen.
Empfehlung für die Praxis:
Probenecid ist in der Schwangerschaft das Mittel der Wahl, um eine komplikationslose
Harnsäureelimination zu erreichen. Allopu-rinol ist in der Schwangerschaft relativ
kontraindiziert, da mit Probenecid ein erwiesenermaßen sicheres Arzneimittel als therapeutische
Alternative zur Verfügung steht. Eine Verabreichung von Allopurinol oder von Benzbromaron
im 1. Tri-menon ist jedoch kein Grund, die Schwangerschaft abzubrechen. Die Behandlung
sollte aber umgestellt und eine Ultraschallfeindiagnostik zur Bestätigung der normalen
Entwicklung des Fetus angeboten werden.
2.1.16
Gicht-Anfallsbehandlung, Colchicin
Pharmakologie und Toxikologie.
Neben den nichtsteroidalen Säureanti-phlogistika (NSAR) wie Ibuprofen ist Colchicin
das klassische Mittel für den akuten Gichtanfall. Colchicin passiert die Plazenta,
besitzt als Mitosehemmstoff mutagene und genotoxische Eigenschaften und wirkt tierexperimentell
in verschiedenen Spezies embryotoxisch. Bei Dauertherapie mit täglich 1 mg wurde bei
der Geburt ein mütterlicher Plasmaspiegel von 3,15ng/ml gemessen, im Nabelschnurblut
waren es 0,47ng/ml (Amoura 1994). Bei Patienten, die mit Colchicin behandelt wurden,
sind mutagene Effekte an den Lymphocyten beschrieben worden. Colchicin ist die einzige
wirksame Behandlung zur Vorbeugung von Attacken beim Familiärem Mittelmeerfieber (FMF)
und der sich bei FMF-Patienten chronisch entwickelnden Amyloidose der Niere.
Interessant ist, dass das Abortrisiko bei unbehandelten Frauen mit FMF fast doppelt
so hoch ist wie bei Patientinnen mit Colchicin-Thera-pie (Rabinovitch 1992).
Teratogene Schäden wurden auch nach länger dauernder Behandlung des FMF nicht beobachtet
(Übersicht in Briggs 2005). Eine kürzlich publizierte große Studie einer israelischen
Arbeitsgruppe, die offenbar früher veröffentlichte Arbeiten (Barkei 2000, Rabinovitch
1992) einschließt, umfasst 628 Schwangerschaften mit Colchicin-Expo-sition der Mutter
und 236, bei denen der Vater behandelt wurde. Insgesamt wurden 777 Lebendgeborene
registriert (Berkenstadt 2005). Wie bereits in älteren Arbeiten diskutiert (Barkei
2000, Rabinovitch 1992), fand sich bei nicht erhöhter Gesamtfehlbildungsrate ein statistisch
nicht signifikanter Anstieg der Häufigkeit chromosomaler Anomalien (6 Aneuploidien
(davon u.a. 2 Trisomien 21, 1 Turner-Syndrom, 1 Kli-nefelter-Syndrom) sowie 1 balancierte
Y-Chromosom-Translokation bei mütterlicher Erkrankung).
Einige Arbeiten (Ben-Chetrit 2004, Ben-Chetrit 2003) zitieren eine Publikation von
Rabinovitch und Mitarbeitern (1992) mit 2.000 Geburten nach Colchicin-Exposition und
4 Fällen einer Trisomie21 bei den Neugeborenen. Dieses Zitat war jedoch weder in der
Originalpublikation nachvollziehbar, noch ließ es sich nach persönlicher Kommunikation
mit dem Autor bestätigen. Es führte jedoch zu der anhaltenden Diskussion über die
Notwendigkeit einer Amniozentese bei mütterlicher Colchicin-Therapie. Ein leicht erhöhtes
Risiko für Chromosomenaberrationen und Aneuploidien wurde zwar immer wieder diskutiert,
war aber bisher nicht eindeutig belegbar. Aus unserer Sicht ist deshalb eine invasive
Diagnostik, wie z.B. eine Amniozentese, primär nicht indiziert.
Eine neuere Arbeit beschäftigt sich explizit mit dem Risiko der väterlichen Erkrankung
an FMF und dem Risiko einer Therapie des Vaters mit Colchicin zum Zeitpunkt der Befruchtung.
Bei 60 Frauen von erkrankten Männern mit insgesamt 222 Schwangerschaften wurden keine
chromosomalen Anomalien gefunden. Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe war weder ein
erhöhtes Risiko für Fehlbildungen noch für Aborte nachweisbar (Ben-Chetrit 2004).
Auch Phenylbutazon (z.B. Ambene®) wird zur Therapie des akuten Gichtanfalls eingesetzt.
Immuntoxisches Potenzial, flüssigkeitsretinie-rende Wirkung und die lange Halbwertszeit
von 30–170 Stunden sind jedoch während der Schwangerschaft ungünstig (siehe Abschnitt
2.1.3).
Empfehlung für die Praxis:
Ibuprofen ist das Medikament der Wahl beim in der Schwangerschaft seltenen Gichtanfall.
Mittel der zweiten Wahl sind Phenyl-butazon und Colchicin. Beim familiären Mittelmeerfieber
ist eine Dauerbehandlung mit Colchicin auch während der Schwangerschaft erforderlich.
Eine Colchi-cin-Therapie im 1. Trimenon erfordert keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch
(siehe Kapitel 1.15). Hoch auflösender Ultraschall und Labordiagnostik sollten zur
Bestätigung einer normalen Entwicklung des Fetus angeboten werden. Eine primäre Chromosomenuntersuchung
wird derzeit nicht empfohlen; sie kann nach Durchführung der nichtinvasiven Diagnostik
im Zweifelsfall empfohlen werden.
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2.2
Antiallergika und Hyposensibilisierung
Sowohl Antihistaminika als auch Glucocorticoide haben sich bei der Behandlung allergischer
Symptome in der Schwangerschaft als nicht toxisch erwiesen. Einige Antihistaminika
werden auch erfolgreich bei Hyperemesis gravidarum (siehe Kapitel 2.4) und als Schlafmittel
(siehe Kapitel 2.11) eingesetzt. Zu Glucocorticoiden siehe Abschnitt 2.3.2 und 2.15.9.
2.2.1
Antihistaminika (H1-Blocker)
Pharmakologie.
Antihistaminika hemmen die Wirkung von Histamin an den Histamin-Rezeptoren kompetitiv.
Die Freisetzung von Histamin erregt einerseits die an der glatten Muskulatur vieler
Organe vorkommenden H1-Rezeptoren und führt über die in der Magenschleimhaut lokalisierten
H2-Rezeptoren zu einer Steigerung der Magensekretion. Für die antiallergische Therapie
ist die Hemmung der H1-Rezeptoren entscheidend.
H1-Antihistaminika werden oral gut resorbiert, in der Leber oxidativ meta-bolisiert
und nur in Spuren unverändert über die Nieren ausgeschieden.
Die älteren, heute noch in der Allergologie verwendeten Wirkstoffe haben eine geringe
und teilweise erwünschte sedierende Wirkung. Zu dieser Gruppe gehören Alimemazin,
Azelastin (z.B. Allergodil®), Ba-mipin (Soventol®), Brompheniramin, Carbinoxamin,
Chlorphen-amin (z.B. in Grippostad® C), Chlorphenoxamin (Systral®), Clemas-tin (Tavegil®),
Cyproheptadin (Peritol®), Dexchlorpheniramin (Polaronil®), Dimetinden (Fenistil®),
Hydroxyzin, Levocabastin (z.B. Livo-cab® Augentropfen), Mebhydrolin, Meclozin, Mequitazin
(Metaple-xan®), Mizolastin (z.B. Mizollen®), Oxatomid, Pheniramin, Triproli-din und
Tritoqualin (Inhibostamin®).
Zu den neueren, praktisch nicht sedierenden Antihistaminika gehören Acrivastin, Astemizol,
Cetirizin (z.B. Zyrtec®), Desloratadin (AERIUS®), Ebastin (Ebastel®), Fexofenadin
(Telfast), Levocetirizin (XUSAL®), Loratadin (z.B. Lisino®) und Terfenadin (z.B. Terfedura®).
Astemizol und Terfenadin haben mit 20–26 Stunden (Astemizolmeta-boliten über 9 Tage!)
sehr lange Halbwertszeiten.
Neuere Lokaltherapeutika aus dieser Arzneimittelgruppe sind Epi-nastin (Relestat®
Augentropfen) und Olopatadin (Opatanol® Augentropfen).
Toxikologie.
Umfangreiche Untersuchungen haben für keines der schon lange gebräuchlichen Antihistaminika
wie Brompheniramin, Chlor-phenamin, Chlorphenoxamin, Clemastin, Dexchlorpheniramin,
Dimetinden, Diphenhydramin, Hydroxyzin, Mebhydrolin und Phe-niramin den früher geäußerten
Verdacht auf teratogene Effekte beim Menschen bestätigt (Källén 2002, Übersicht in
Schardein 2000, Lione 1996).
Bei insgesamt 66 Behandlungen mit Acrivastin und 35 mit Alime-mazin in der Frühschwangerschaft
wurden keine Fehlbildungen beobachtet (Källén 2002, Wilton 1998).
Epidemiologische Untersuchungen an insgesamt 187 im 1. Trimenon mit Astemizol exponierten
Schwangeren ergaben weder eine erhöhte Fehlbildungsrate noch andere Abweichungen im
Schwangerschaftsverlauf (Diav-Citrin 2003, Pastuszak 1996).
Daten zur Einnahme von Cetirizin im 1. Trimenon finden sich in drei prospektiven Studien
mit über 300 und einer retrospektiven Studie mit 917 Schwangerschaften. Hinweise für
ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko ergeben sich daraus nicht (Weber-Schöndorfer 2005,
Paulus 2004, Källén 2002, Einarson 1997).
Cyproheptadin (Peritol®) hat tierexperimentell eine diabetogene Wirkung auf die Inselzellen
des fetalen Pankreas. Hinweise auf vergleichbare Wirkungen beim Menschen gibt es bisher
nicht. Im schwedischen Geburtsregister finden sich bei 8 Fällen nach Behandlung mit
Cypro-heptadin im 1. Trimenon keine Hinweise auf eine fruchtschädigende Wirkung (Källén
2002).
Bei 39 Schwangeren mit Ebastin und 16, die Fexofenadin im 1. Tri-menon eingenommen
hatten, fanden sich keine Fehlbildungen (Källén 2002). 26 eigene Fälle mit Fexofenadinbehandlung
geben ebenfalls keine Hinweise auf Teratogenität.
Zur Therapie mit Hydroxyzin liegen zwei Studien mit insgesamt 80 Schwangerschaften
vor, ohne Auffälligkeiten im Schwangerschaftsverlauf oder beim Neugeborenen (Diav-Citrin
2003, Einarson 1997). In einem Fallbericht zur anxiolytischen Therapie mit täglich
150 mg Hydroxyzin am Ende der Schwangerschaft entwickelte das in Woche 39 geborene
Kind 4 Stunden nach Geburt tonisch-klonische Anfälle. Die Plasmakonzentration 6 Stunden
nach Geburt war identisch mit den mütterlichen Werten. Die Anfälle wurden als Entzugssymptomatik
gewertet. Nach 6 Monaten war die neurologische Entwicklung des Kindes normal (Serreau
2005).
Nach der Anwendung von Loratadin in der Frühschwangerschaft wurde im schwedischen
Geburtsregister nach Auswertung von 2.780 Fällen der Verdacht auf ein erhöhtes Risiko
für das Auftreten von Hypospadien bei männlichen Nachkommen geäußert. Das Gesamt-fehlbildungsrisiko
war nicht erhöht (Källén 2002, Källén 2001). Dabei handelte es sich meist um leichte
Formen der Hypospadie (Grad 1). Bei späterer Analyse der Daten von inzwischen 4.251
Loratadinexpositio nen wurde der ursprüngliche Verdacht nicht erhärtet (pers. Mitteilung
Källén 2003). In anderen Studien fanden sich ebenfalls keine Hinweise auf einen möglichen
Zusammenhang zwischen Loratadintherapie in der Frühschwangerschaft und Hypospadien.
Moretti und Mitarbeiter (2003) berichten über 161 Schwangerschaften mit Loratadinexposition
im 1. Trimenon und fanden kein erhöhtes Fehlbildungsrisiko gegenüber einer Kontrollgruppe.
In einer weiteren prospektiven Studie mit 210 Frauen mit Loratadintherapie, 163 davon
im 1. Trimenon, gab es ebenfalls keinen Hinweis auf teratogene Effekte (Diav-Citrin
2003). Hypo-spadien wurden in beiden Studien nicht beobachtet. In einer neuen retrospektiven
Studie wurden 563 Kinder mit Hypospadien und 1.441 männliche Kontroll-Kinder ohne
Fehlbildungen auf eine mütterliche Loratadineinnahme im 1. Trimenon verglichen (Werler
2004). Ein Zusammenhang konnte auch hier nicht nachgewiesen werden. Bei weiteren 83
prospektiv erfassten Schwangerschaften mit Loratadinexposi-tion zwischen Schwangerschaftswoche
5 und 15 wurden keine Hypo-spadien gefunden (unveröffentlichte Daten des European
Network of Teratology Information Services – ENTIS 2004). Die Analyse eigener Daten
von 70 Schwangerschaften mit Loratadintherapie, davon 56 im 1. Trimenon behandelt,
ergab keine Hinweise auf teratogene Effekte. Keiner der 26 männlichen Nachkommen hatte
eine Hypospadie.
Im Zusammenhang mit Meclozin therapie im 1. Trimenon bei 16.536 Schwangeren des schwedischen
Geburtsregisters war kein signifikant erhöhtes Fehlbildungsrisiko nachweisbar (Källén
2003). Es fanden sich jedoch deutlich häufiger Mehrlingsschwangerschaften.
Bei 22 eigenen Fällen mit Mizolastin exposition gab es keine Hinweise auf Teratogenität.
Die Analysen von insgesamt 292 Schwangeren mit Terfenadin behandlung (Diav-Citrin
2003, Loebstein 1999, Schick 1994) und weiteren 1164 im 1. Trimenon exponierten Schwangeren
des schwedischen Geburtsregisters (Källén 2002) ließen kein erhöhtes Fehlbildungsrisiko
erkennen.
In einer Untersuchung wurde beobachtet, dass sich nach Anwendung von Antihistaminika
in den letzten beiden Schwangerschaftswochen die Häufigkeit schwerwiegender Augenhintergrundsveränderungen
bei Frühgeborenen, der so genannten retrolentalen Fibroplasie, verdoppelte (Zierler
1986). Andere Untersucher konnten diesen Effekt nicht bestätigen.
Bei Neugeborenen wurden Entzugssymptome wie Zittrigkeit und Diarrhö nach langfristiger
Antihistaminikabehandlung bis zur Geburt (z.B. mit Diphenhydramin und Hydroxyzin)
beschrieben.
Bei 22 Fällen mit lokaler Anwendung von Levocabastin fanden sich keine Fehlbildungen
(eigene Daten).
Zu den anderen Antihistaminika einschließlich Desloratadin (AERI-US®) und Levocetirizin
(XUSAL
®) sowie zu den neueren Lokalthera-peutika Epinastin (Relestat® Augentropfen) und
Olopatadin (Opata nol® Augentropfen) liegen keine Erfahrungen in der Schwangerschaft
vor.
Empfehlung für die Praxis:
In der Schwangerschaft können H1-Antihistaminika zur Behandlung allergischer Erkrankungen
eingesetzt werden. Ältere Präparate mit umfangreicher Markterprobung, wie z. B. Clemastin
und Dimetinden, stellen kein Problem dar. Von den neueren, nicht sedierenden Antihistaminika
sollten Loratadin und Cetirizin bevorzugt werden. Die Einnahme weniger gut dokumentierter
Medikamente erfordert weder einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch noch invasive
Diagnostik (siehe Kapitel 1.15).
2.2.2
Glucocorticoide
Siehe Abschnitte 2.3.2 und 2.15.9
2.2.3
Hyposensibilisierunq
Pharmakologie und Toxikologie.
Bei der Hyposensibilisierung appliziert man einschleichend und kontinuierlich ansteigend
Dosen des Allergens subkutan. Das Immunsystem bildet daraufhin blockierende Antikörper,
die das Allergen binden sollen, noch bevor es mit sensibilisier-ten Mastzellen reagieren
kann. Kommt es nach Abschluss der Behandlung zu einer Exposition mit dem Allergen,
ist die Histaminausschüt-tung der Mastzellen deutlich verringert und damit die allergische
Reaktion schwächer. Die Hyposensibilisierung hat sich bei Heuschnupfen und Insektenstichallergien
gut bewährt; bei ausgeprägtem Asthma ist sie weniger erfolgreich.
Spezifische embryo- oder fetotoxische Effekte sind nicht zu erwarten (Metzger 1978).
Eine seltene anaphylaktische Reaktion kann jedoch den Embryo/Fetus mittelbar schädigen
(Luciano 1997).
Empfehlung für die Praxis:
Eine vor Eintritt der Schwangerschaft begonnene Hyposensibilisierung kann bei guter
Verträglichkeit fortgesetzt werden. Auf Dosissteigerungen sollte wegen möglicher Unverträglichkeiten
verzichtet werden. Eine Hyposensibilisierung sollte aus demselben Grund nicht während
der Schwangerschaft begonnen werden, es sei denn, die Situation, z.B. bedrohliche
Reaktionen auf Insektenstiche, erfordert diese Therapie. Ein risikobegründeter Schwangerschaftsabbruch
ist aufgrund einer Hyposensibilisierung ebenso wenig indiziert wie zusätzliche diagnostische
Maßnahmen (siehe Kapitel 1.15).
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2.3
Antiasthmatika und Hustenmittel
Asthma bronchiale muss auch bei Schwangeren ausreichend therapiert werden, um neben
dem Wohlergehen der Mutter eine ausreichende Oxygenierung im fetoplazentaren Bereich
zu gewährleisten. Schweres, unzureichend therapiertes Asthma ist mit einem höheren
Risiko für Frühgeburtlichkeit, intrauterine Wachstumsverzögerung und Präeklampsie
assoziiert (Beckmann 2003, Bracken 2003, Johnson 2002, Olesen 2001). Alle bisher untersuchten
Antiasthmatika haben sich als verträglich für den Embryo bzw. Fetus erwiesen (Schatz
2004).
Dieser Abschnitt orientiert sich an der aktuellen, vom Schweregrad abhängigen Stufentherapie
des Asthmas, geht aber auch auf nicht mehr aktuelle Arzneimittel ein. Am Ende des
Abschnitts werden Expektoran-zien und Antitussiva besprochen.
Schweregrad 1: Leichte intermittierende Symptomatik, wenn Symptome seltener als ein-
oder zweimal pro Woche auftreten, wird ein inhalierbares, kurzwirksames β
2-Sympathomimetikum bei Bedarf eingenommen.
Schweregrad 2: Persistierendes leichtes Asthma, definiert durch gelegentliche nächtliche
Symptome oder Symptome tagsüber, die aber noch nicht täglich auftreten, wird mit einer
Basistherapie behandelt. Dies sind in der Regel ein inhalatives Corticoid oder bei
allergischem Asthma Cromoglicinsäure. Bedarfsweise kann zusätzlich ein inhalierbares,
kurzwirksames β
2-Sympathomimetikum genommen werden.
Schweregrad 3: Persistierendes mittelgradiges Asthma mit täglichen Beschwerden und
nächtlichen Symptomen einmal pro Woche und häufiger sollte mit einem langwirksamen
β
2-Sympathomimetikum zusätzlich zum inhalativen Corticoid (ggf. Dosissteigerung gegenüber
Schweregrad 2!) therapiert werden. Bedarfsweise kann wieder ein kurzwirksames β
2-Sympathomimetikum eingenommen werden. Sollte das nicht ausreichen, kommen auch Theophyllin
und/oder Anticholinergika in Frage, außerhalb der Schwangerschaft auch Leukotrien-Rezeptor-Ant-agonisten.
Schweregrad 4: Persistierendes schweres Asthma mit ständigen Symptomen wird oral mit
Glucocorticoiden (z.B. Prednisolon) therapiert oder mit einer Kombination aus drei
oder mehr Substanzen aus Stufe 3; selten sind orale Glucocorticoide in Kombination
mit mehreren anderen Substanzen erforderlich.
2.3.1
Selektiv wirkende β
2-Sympathomimetika
Pharmakologie.
Beim vegetativen Nervensystem unterscheidet man im Bereich des Sympathikus α- und
β-Rezeptoren, letztere werden in β
1-und β
2-Rezeptoren unterteilt. Stimulierung der β
1-Rezeptoren bewirkt am Herzen eine Aktivitätssteigerung. β
2-Rezeptoren vermitteln hingegen ein Erschlaffen der glatten Muskulatur an den Gefäßen
(Vasodila-tation), an den Bronchien (Bronchodilatation) und am Uterus (Toko-lyse)
und führen zum Anstieg der Konzentration von Glucose, Fettsäuren und Ketonkörpern
im Blut. Darüber hinaus fördern β
2-Agonisten an den Bronchien die mukoziliäre Clearance und reduzieren die Gefäßpermeabilität.
Ein Sympathomimetikum, das ausschließlich β
2-sympathomimetisch wirkt, ohne gleichzeitig andere adrenerge Rezeptoren zu aktivieren,
gibt es bisher nicht. Sympathomimetika mit vorwiegender β
2-Wirksam-keit haben in der Asthmatherapie aber inzwischen solche Mittel ersetzt,
die noch deutliche β
1-Aktivität aufwiesen.
β
2-Sympathomimetika wirken nach Inhalation ebenso schnell wie nach intravenöser Injektion
und erreichen ihr Wirkungsmaximum nach 10–20 Minuten. Durch die Depotfunktion der
Bronchialschleimhaut verlängert sich zudem der therapeutische Effekt gegenüber einer
par-enteralen Anwendung, obwohl die Plasmakonzentration nur bei 20 % liegt. Entsprechend
geringer fallen die unerwünschten Wirkungen im Vergleich zur systemischen Applikation
aus.
Nach oraler Gabe von β
2-Sympathomimetika werden 30–55 % resorbiert. Unabhängig von der Applikationsart werden
diese Mittel nach Metabolisierung in der Leber und Kopplung an Sulfat mit dem Urin
ausgeschieden.
Fenoterol (z.B. Berotec®), Reproterol (in Bronchospasmin®), Salbutamol (z.B. Sultanol®)
und Terbutalin (z.B. Bricanyl®) sind Pharmaka, die ein günstiges Verhältnis zwischen
β
2- und β
1-Stimulierung aufweisen und daher seit vielen Jahren mit Erfolg zur Behebung der
Broncho-konstriktion bei Asthma eingesetzt werden. Sie gehören zu den kurzwirksamen
Vertretern dieser Arzneimittelgruppe. Ihre Wirkung ist auf 4–6 Stunden begrenzt. Einige
Untersuchungen legen nahe, dass die Anwendung von Fenoterol mit einem erhöhten Risiko
für bedrohliche kardiopulmonale Nebenwirkungen verbunden ist.
Demgegenüber sind Formoterol (z.B. Oxis®) und Salmeterol (z.B. Serevent) länger als
12 Stunden wirksam. Sie sind nicht zur Behandlung akuter Asthmasymptome geeignet und
stellen keinen Ersatz für eine Basistherapie dar, vielmehr sollten sie nur kombiniert
mit z.B. inhalierbaren Glucocorticoiden gegeben werden (Bekanntmachung des Bundesinstituts
für Arzneimittel und Medizinprodukte 9/2003). Einer noch unveröffentlichten Studie
des Herstellers GlaxoSmithKline zufolge kann die langfristige Einnahme von Salmeterol
zu einem gerin gen, aber signifikanten Anstieg der durch Asthma bedingten Todesfälle
führen (Arzneimittelbrief 2005).
Sympathomimetika hemmen im 2. und 3. Trimenon die Kontraktilität der Uterusmuskulatur.
Sie werden daher auch als Tokolytika eingesetzt.
Toxikologie.
Es gibt keine Hinweise darauf, dass β
2-Sympathomimetika Fehlbildungen hervorrufen oder das fetale Wachstum beeinträchtigen
(z.B. Bakhireva 2004). Alle Sympathomimetika können jedoch in entsprechend hoher Dosis
nicht nur bei der Mutter, sondern auch beim Fetus eine Tachykardie oder andere Rhythmusstörungen
verursachen. Eine Kasuistik beschreibt eine fetale Tachykardie mit Vorhofflattern
in Woche 33, nachdem die Mutter versehentlich über 24 Stunden inhala-tiv Überdosen
von Albuterol erhalten hatte und selbst eine Herzfrequenz von 90–100/min aufwies.
Die Symptomatik sistierte spontan nach Absetzen der Medikation (Baker 1997). β
2-Sympathomimetika können die Kohlenhydrattoleranz beeinträchtigen. Das ist bei einer
diabetogenen Stoffwechsellage der Schwangeren zu berücksichtigen (Källén 2000).
Für Clenbuterol (z. B. Spiropent®), Pirbuterol und Tulobuterol (z.B. Brelomax®), Bambuterol
(Bambec) liegen keine für eine spezifische Risikobewertung ausreichenden Erfahrungen
zur Anwendung im 1. Trimenon vor. Es gibt jedoch auch bei diesen Wirkstoffen bislang
keine Hinweise auf teratogene Effekte beim Menschen.
Empfehlung für die Praxis:
Sympathomimetika gehören auch in der Schwangerschaft zur Asthmatherapie, sie dürfen
gemäß den Empfehlungen des Asthmastufenplans angewendet werden. Salbutamol ist Mittel
der 1. Wahl unter den kurz wirksamen Sympathomimetika. Am Ende der Schwangerschaft
müssen Wehenhemmung und β
2-spezifische Effekte beim Fetus bedacht werden (siehe oben).
2.3.2
Glucocorticoide
Inhalierbare Corticosteroide sind Mittel der Wahl in der Asthmabasis-Therapie der
Schweregrade 2 bis 4. Sie wirken antiinflammatorisch, d.h. antiphlogistisch, antiallergisch
und immunsuppressiv Außerdem haben sie einen günstigen Effekt auf die Ansprechbarkeit
der Betarezeptoren an den Bronchien. In der Asthma-Therapie werden als inhalierbare
Glucocorticoide Budesonid (Pulmicort®) und folgende haloge-nierte Derivate bevorzugt
verwendet: Beclometason (z.B. Beconase®, Sanasthmyl®), Flunisolid (Syntaris®), Fluticason
(z.B. atemur®) und Mometason (z.B. Asmanex). Seit 2005 ist der Wirkstoff Ciclesonid
(Alvesco®) in Deutschland als inhalatives Corticoid zur Asthma-Therapie bei Erwachsenen
zugelassen.
Theoretische Bedenken gegen die Anwendung von inhalierbaren Glucocorticoiden in der
Schwangerschaft beruhten auf Ergebnissen einiger Studien bei systemischer Anwendung,
in denen eine erhöhte Rate an Lippen-Gaumen-Spalten bei den Kindern diskutiert wird,
sowie auf der Beobachtung, dass eine dauerhafte Cortisontherapie in der Schwangerschaft
bei entsprechender Dosierung zur fetalen Wachstumsverzögerung führen kann.
Studien zur Anwendung von inhalierbaren Corticosteroiden in der Schwangerschaft konnten
diese Zweifel beseitigen (Martel 2005, Bakhireva 2004, Schatz 2004). Budesonid ist
mit mehr als 6000 Schwangeren (Gluck 2005) das am besten untersuchte Mittel, gefolgt
von Beclo-metason (ca. 500 Schwangere) und Fluticason (ca. 130). Auch bei Tri-amcinolon
(ca. 100) und Flunisolid (ca. 25) gibt es bisher keinen Hinweis auf ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko
oder auf unerwünschte fetale Effekte (Namazy 2004, Norjavaara 2003, Källén 1999).
Das gilt auch für das am schlechtesten untersuchte Mometason (eigene Beobachtungen).
Bei schwerem Asthma oder zur Therapie des Asthmaanfalls dürfen Glucocorticoide auch
systemisch appliziert werden.
Empfehlung für die Praxis:
Inhalierbare Glucocorticoide sind gemäß Asthmastufenplan auch in der Schwangerschaft
Mittel der Wahl, wobei besser untersuchte Substanzen zu bevorzugen sind. Bei systemischer
Anwendung von Glucocorticoiden (siehe Kapitel 2.15.9) ist die Dosis, sofern es klinisch
möglich ist, rasch zu reduzieren, um unerwünschte Wirkungen (auch auf die Mutter)
zu verhindern. Wird bis zur Geburt systemisch behandelt, müssen Geburtshelfer und
Pädiater über die Medikation informiert werden, um mögliche Stoffwechselauswirkungen
beim Neugeborenen zu beachten. Es gibt keine wissenschaftlich belegte Corticosteroiddosis,
die einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch erforderlich macht (siehe Kapitel
1.15).
2.3.3
Mastzellinhibitoren
Cromoglicinsäure und Nedocromil
Pharmakologie und Toxikologie.
Durch regelmäßige Zufuhr von Cromoglicinsäure (z.B. DNCG Mundipharma, Intal®) verlieren
die Mastzellen des Bindegewebes ihre Fähigkeit, das in ihnen gespeicherte Hist-amin
freizusetzen. Da Histamin zur Bronchialverengung führt, kann Cromoglicinsäure (DNCG)
zur vorbeugenden Behandlung asthmatischer Beschwerden verwendet werden. Einen direkten
bronchodilata-torischen Effekt besitzt Cromoglicinsäure nicht. Bei Behandlung eines
Asthmaanfalls ist es unwirksam. Cromoglicinsäure ist auch zur Therapie allergischer
Beschwerden der Nase, des Auges und bei Nahrungsmittelallergien zugelassen.
Zur Prävention des allergischen Asthmas und des Belastungsasthmas wird Cromoglicinsäure
als Pulver oder Lösung vorbeugend inhaliert. Nur 1–2 mg einer 20-mg-Dosis erreichen
die Alveolen, der Rest wird verschluckt. Ein Prozent hiervon wird im Darm resorbiert
und unverändert mit dem Urin ausgeschieden. Die Halbwertszeit beträgt 60–90 Minuten.
Die Wirkung tritt erst nach 3–5 Tagen ein.
Cromoglicinsäure wirkt nicht embryotoxisch, wie sich bei einer großen Zahl behandelter
Schwangerer bestätigt hat (Überblick bei Briggs 2005).
Nedocromil (z.B. Tilade®), dessen Wirkungsmechanismus dem von Cromoglicinsäure ähnelt,
ist in der Schwangerschaft noch nicht ausreichend untersucht. Hinweise auf Unverträglichkeiten
beim Ungeborenen liegen nicht vor.
Empfehlung für die Praxis:
Cromoglicinsäure kann zur Prävention eines allergisch bedingten Asthmas auch Schwangeren
gegeben werden. Es darf auch als Augen- und Nasentropfen verwendet werden. Eine Anwendung
von Nedocromil erfordert keine Konsequenzen.
Andere Mastzellinhibitoren
Pharmakologie und Toxikologie.
Substanzen wie Ketotifen (z. B. Zaditen®) und Oxatomid sind bezüglich ihrer pränatalen
Verträglichkeit bisher nicht ausreichend untersucht. Hinweise auf embryotoxische Wirkungen
beim Menschen liegen nicht vor.
Empfehlung für die Praxis:
Ketotifen und Oxatomid gehören nicht zum Standardtherapieschema bei Asthma und sollten
in der Schwangerschaft nicht angewendet werden. Eine dennoch erfolgte Applikation
stellt weder eine Indikation zum risikobegründeten Abbruch der Schwangerschaft noch
für zusätzliche Diagnostik dar (siehe Kapitel 1.15).
2.3.4
Theophyllin
Pharmakologie.
Theophyllin ist ein natürlich vorkommendes Methyl-xanthin, das stark bronchodilatatorisch
wirkt. Außer Theophyllin (z. B. Bronchoretard®, duraphyllin®) wird das verwandte Aminophyllin
(z.B. Aminophyllin®) angeboten.
Die therapeutische Wirkung von Theophyllin an der Bronchialmuskulatur wird auf eine
unspezifische Hemmung des Enzyms Phospho-diesterase zurückgeführt, das zyklisches
AMP (cAMP) inaktiviert. Die daraus resultierende Erhöhung der intrazellulären cAMP-Konzen-tration
bewirkt eine Erschlaffung der Bronchialmuskulatur.
Die Plasmakonzentration des Theophyllins korreliert gut mit der Bronchodilatation,
aber auch mit den unerwünschten Wirkungen. Bei mäßiggradiger Obstruktion wirkt Theophyllin
weniger bronchodilata-torisch als β
2-Sympathomimetika.
Theophyllin wirkt am Herzen gering positiv inotrop und stimuliert verschiedene Abschnitte
des Zentralnervensystems. Es steigert die Empfindlichkeit des Atemzentrums gegenüber
CO2 und verursacht auf diese Weise eine Zunahme der Atemfrequenz und -tiefe. Diesen
Effekt nutzt man zur Behandlung der Apnoeneigung bei Frühgeborenen.
Wie andere Methylxanthine wird Theophyllin nach oraler Gabe rasch resorbiert und in
der Leber demethyliert und oxidiert. Nur etwa 10% werden unverändert über die Nieren
ausgeschieden. Theophyllin ist plazentagängig (Arwood 1979). Seine Halbwertszeit beträgt
etwa 5 Stunden. Bei Schwangeren ist sie mit etwa 8 Stunden verlängert (Sutton 1978).
Aufgrund der veränderten Proteinbindung sind bei Schwangeren in der Regel Serumspiegel
von 8–12 μg/ml therapeutisch ausreichend und führen außerdem zu einer geringeren Nebenwirkungsrate
bei den Neugeborenen (Schatz 1993). Kinder metabolisieren Theophyllin rascher als
Erwachsene, bei Frühgeborenen sind jedoch Halbwertszeiten bis zu 30 Stunden gemessen
worden (Aranda 1976).
Toxikologie.
Obwohl Theophyllin im Tierversuch in hohen Konzentrationen teratogen wirkt, wurden
beim Menschen keine embryotoxischen Effekte beobachtet (Überblick bei Briggs 2005).
Während der Spätschwangerschaft wurde unter Theophyllin eine Zunahme der fetalen Atembewegungen
(ohne pathologische Relevanz) beobachtet (Ishikawa 1996). Früher behauptete Zusammenhänge
zwischen mütterlicher Therapie und erhöhtem Risiko für eine nekrotisierende Enteroko-litis
(NEC) beim Neugeborenen wurden unter anderem in einer Studie an 59 Schwangeren widerlegt,
die Theophyllin als Tokolytikum oder zur Surfactantbildung vor Woche 34 erhalten hatten
(Zanardo 1996). Nach zwei neueren Arbeiten (Dombrowski 2004, Schatz 2004) gab es keine
nennenswerten Unterschiede hinsichtlich der Geburtsparameter bei inhalierbaren β
2-Sympathomimetika, inhalativen Corticoiden und Theophyllin. Nur bei den Schwangeren
selbst war die Nebenwirkungsrate unter Theophyllin höher. Beschrieben sind vor allem
Zittrigkeit, Tachykardie und Erbrechen.
Empfehlung für die Praxis:
Theophyllin kann in der gesamten Schwangerschaft bei Asthma gemäß Stufenplan angewendet
werden. Die niedrigste therapeutisch sinnvolle Serumkonzentration sollte angestrebt
werden, um Nebenwirkungen bei Mutter und Neugeborenem zu minimieren.
2.3.5
Anticholinergika
Ipratropiumbromid und Oxitropiumbromid
Pharmakologie und Toxikologie.
Da eine Bronchokonstriktion auch über den Nervus vagus induzierbar ist, können anticholinerg
wirkende Substanzen therapeutisch wirksam sein. Ipratropiumbromid (z.B. Atro-vent®)
ist in der Lage, eine vollständige pulmonale Vagolyse zu bewirken. Seine bronchodilatatorische
Aktivität kann zwei Drittel der Aktivität von β
2-Sympathomimetika erreichen. Es wird allein (z.B. Atro-vent®) oder in Kombination
mit Fenoterol (Berodual®) angeboten. Hinweise auf pränatale Toxizität liegen nicht
vor.
Oxitropiumbromid und Tiotropiumbromid (Spiriva®) sind bezüglich einer Anwendung in
der Schwangerschaft unzureichend untersucht.
Empfehlung für die Praxis:
Ipratropiumbromid darf in der Schwangerschaft zur Bronchodilatation verwendet werden.
Die Anwendung von Oxitropiumbromid rechtfertigt weder einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch
noch zusätzliche Diagnostik (siehe Kapitel 1.15).
2.3.6
Antileukotriene
Pharmakologie und Toxikologie.
Die Leukotrien-Rezeptor-Antagonisten Montelukast (Singulair®), Zafirlukast und Pranlukast
sowie der Lip-oxygenase-Inhibitor Zileuton werden zur Vorbeugung asthmatischer Beschwerden
eingesetzt.
Der Hersteller Merck berichtet über 137 abgeschlossene prospektiv erfasste Schwangerschaften
unter Montelukast. Von den Lebendgeborenen waren 116 im 1. Trimenon exponiert, es
fanden sich 4 Kinder mit Anomalien, darunter ein Mädchen mit fehlender linker Hand.
Diese als „Amnionband-Syndrom” klassifizierte Anomalie wurde nicht dem Medikament
zugeschrieben. Eine weitere Extremitätenanomalie (Hypoplasie des rechten Daumens)
wurde bei 33 prospektiv dokumentierten Schwangerschaften des schwedischen medizinischen
Geburtsregisters beobachtet. Unter den 8 retrospektiven Fallberichten des Herstellers
befand sich ein Neugeborenes mit fehlender Anlage von Unterarm und Hand. Unsere eigenen
Daten umfassen 20 prospektiv erfasste Schwangerschaften mit Exposition im 1. Trimenon
ohne Hinweise auf Extremitätenfehlbildungen. Auch die Ergebnisse von 96 in nordamerikanischen
teratologischen Zentren beobachtete Schwangerschaften (Montelukast = 73, Zafirlukast
= 23; Bakhireva 2006) sprechen nicht für ein substantiell erhöhtes Gesamtfehlbildungsrisiko,
reichen aber nicht für eine differenzierte Risikoeinschätzung. Weder können daraus
teratogene Eigenschaften noch eine Unbedenklichkeit für die Anwendung Schwangerer
gefolgert werden.
Empfehlung für die Praxis:
Die Leukotrien-Rezeptor-Antagonisten sind nicht Mittel der Wahl in der Schwangerschaft.
Wenn konventionelle Mittel des Asthmastufenplans nicht ausreichend wirken, kann Montelukast
im Ausnahmefall auch in der Schwangerschaft verordnet werden. Nach Anwendung dieser
Mittel im 1.Trimenon sollte ein hoch auflösender Ultraschall zur Bestätigung einer
normalen vorgeburtlichen Entwicklung angeboten werden.
2.3.7
Monoklonale Antikörper und sonstige Asthmamittel
Pharmakologie und Toxikologie.
Ein neues Wirkprinzip für die Behandlung des allergischen Asthma bronchiale sind monoklonale
Antikörper gegen IgE. Dieses Immunglobulin ist für die Auslösung der Asthmasymptomatik
verantwortlich. Omalizumab (Xolair®) wurde 2005 eingeführt, Erfahrungen in der Schwangerschaft
gibt es noch nicht.
Der so genannte PDEH-Typ-4-Wirkstoff Roflumilast ist noch in der Erprobungsphase.
Er hat keine bronchodilatorische Wirkung, muss oral eingenommen werden und wirkt antiinflammatorisch
bei chronisch obstruktiver Lungenerkrankung. Erfahrungen zur Anwendung in der Schwangerschaft
liegen weder für Roflumilast noch für Cilomilast
Empfehlung für die Praxis:
Die hier genannten Substanzen sind nicht Mittel der Wahl in der Schwangerschaft. Nach
(versehentlicher) Anwendung dieser Mittel im 1. Trimenon sollte ein hoch auflösender
Ultraschall zur Bestätigung einer normalen vorgeburtlichen Entwicklung angeboten werden.
2.3.8
Expektoranzien
Acetylcystein und andere Mukolytika
Pharmakologie und Toxikologie.
Expektoranzien und Mukolytika, wie z.B. Acetylcystein (ACC; z.B. Fluimucil®, Mucret®),
Ambroxol (z.B. Ambrohexal, Mucosolvan®) und Bromhexin (z.B. Bisolvon®, Brom-hexin-ratiopharm®),
können in der Schwangerschaft nach bisherigen Erfahrungen ohne erkennbares teratogenes
Risiko eingesetzt werden. Das gilt auch für hohe Dosen von N-Acetylcystein als Antidot
bei Para-cetamolintoxikation (siehe Kapitel 2.22.2).
Zu Carbocistein (z.B. Transbronchin®), Guaifenesin (z.B. Fagu-san®), Guajacol und
Mesna (z.B. Uromitexan®) sowie zu ätherischen Ölen und diversen Phytopharmaka (Efeublütter
trockenextrakt, Thymianblätter trockenextrakt) liegen ebenfalls keine Hinweise auf
terato gene Wirkungen beim Menschen vor, andererseits fehlen systematische Studien
zur Verträglichkeit in der Schwangerschaft (siehe auch Kapitel 2.19).
Empfehlung für die Praxis:
Falls Inhalationsbehandlung und ausreichende Flüssigkeitszufuhr ungenügend wirken,
können auch in der Schwangerschaft Expektoranzien und Mukolytika eingesetzt werden.
Iodsalze
Pharmakologie und Toxikologie.
Iodsalze, z. B. Iodkalium (Kalium ioda-tum) können in der Schwangerschaft in sekretolytischer
Dosis beim Fetus und Neugeborenen die Schilddrüsenfunktion beeinträchtigen (therapeutische
Einzeldosis beim Erwachsenen 250–500 mg). Dies ist nicht zu verwechseln mit der für
Schwangere empfohlenen Iodsubstitution (200 μg/Tag). Eine versehentliche Gabe von
Kalium iodatum zur Sekretolyse in der Schwangerschaft führt bei kurzfristiger Anwendung
nicht zur Strumaentwicklung (Schardein 2000). Die Reifung des Zentralnervensystems,
die von einer ausreichenden Versorgung mit Schilddrüsenhormons abhängig ist, kann
jedoch gestört werden, wenn ab Ende des 1.Trimenon eine hohe Ioddosis die dann bereits
aktive Schilddrüse des Fetus supprimiert.
Empfehlung für die Praxis:
Die Gabe von Iodsalzen als Expektorans ist in der Schwangerschaft kontraindiziert.
Eine versehentliche Sekretolyse mit Iod erfordert aber weder einen risikobegründeten
Schwangerschaftsabbruch noch zusätzliche vorgeburtliche Diagnostik (siehe Kapitel
1.15).
2.3.9
Antitussiva
Codein und andere Antitussiva
Pharmakologie und Toxikologie.
Codein (Methylmorphin; z.B. Codicaps®, Codipront®) ist ein Morphinderivat mit stark
hemmender Wirkung auf das Hustenzentrum. Die antitussive Wirkung wird von keinem anderen
Arzneimittel übertroffen. Wegen seiner analgetischen Eigenschaft ist Codein auch Bestandteil
von Schmerzmitteln. Der früher geäußerte Verdacht des Anstiegs oraler Spaltbildungen
hat sich nicht bestätigt. Eine längere und hoch dosierte Einnahme kann, wenn sie bis
zur Geburt dauert, Atemdepression und opiattypische Entzugssymptome beim Neugeborenen
verursachen (Überblick bei Briggs 2005; siehe auch Kapitel 2.21.10).
Dextromethorphan (z. B. NeoTussan®) hat keine analgetische Komponente und ein offenbar
geringeres (aber dennoch vorhandenes!) Suchtpotenzial. Der antitussive Effekt ist
vergleichbar mit dem von Codein (Reynolds 1989). Ausgehend von tierexperimentellen
Befunden wurde Dextromethorphan Ende der 90er Jahre ein teratogenes Potenzial unterstellt.
Aufgrund der Erfahrungen an über 500 Schwangerschaften hat sich dieser Verdacht für
den Menschen nicht bestätigt (Martinez-Frias 2001, Einarson 1999, Andaloro 1998).
Andere Antitussiva wie Benproperin (Tussafug®), Clobutinol (z.B. Silo mat®), Dropropizin
(Larylin®), Eprazinon (Eftapan®), Isoaminil, Noscapin (z.B. Capval®), Pentoxyverin
(Sedotussin®) und Pipazetat sind hinsichtlich pränataler Risiken beim Menschen unzureichend
untersucht.
Empfehlung für die Praxis:
In begründeten Fällen darf Codein bei hartnäckigem, trockenem Husten oder in Kombination
mit Paracetamol als Analgetikum in allen Phasen der Schwangerschaft verordnet werden.
Auch Dextromethorphan kann als Antitussivum eingesetzt werden. Falls Codein präpartal
oder regelmäßig in hoher Dosis als Suchtmittel oder zur Substitutionsbehandlung Heroinabhängiger
genommen wird, muss beim Neugeborenen mit Atemdepression und im Fall hoher Dosen auch
mit bedrohlichen Entzugserscheinungen gerechnet werden. Wurden die nicht empfohlenen
Mittel verwendet, erfordert dies weder einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch
noch invasive Diagnostik (siehe Kapitel 1.15).
2.3.10
Unspezifisch wirkende Sympathomimetika
Die im Folgenden besprochenen Arzneimittel gehören nicht zum aktuellen Asthma-Therapiestufenplan.
Einige der Sympathomimetika finden sich in Kombination mit anderen Wirkstoffen in
rezeptfreien Mitteln gegen Erkältungen, deren Anwendung nicht erwünscht ist.
Orciprenalin und Hexoprenalin
Pharmakologie und Toxikologie.
Orciprenalin (Alupent®) wirkt stimulierend auf β-Rezeptoren, allerdings nicht so selektiv
wie die β
2-Sympa-thomimetika. Entsprechend stärker fallen die unerwünschten Wirkungen am Herzen
und im Stoffwechsel aus. Das gilt auch für die stimulierende Wirkung auf das Zentralnervensystem
und die Verminderung von Tonus und Motilität im Magen-Darm-Trakt. Hinweise auf spezifische
embryo- oder fetotoxische Wirkungen liegen weder zu Orciprenalin noch zu Hexoprenalin
vor.
Empfehlung für die Praxis:
Orciprenalin und Hexoprenalin gehören nicht zur Standardtherapie des Asthmas. Spezifische
β
2-Sympathomimetika sind vorzuziehen. Eine dennoch erfolgte Therapie rechtfertigt weder
einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch noch zusätzliche Diagnostik (siehe
Kapitel 1.15).
Adrenalin (Epinephrin)
Pharmakologie und Toxikologie.
Adrenalin (Epinephrin; z.B. Suprare-nin®) ist ein Katecholamin, das natürlicherweise
im Körper vorkommt und sowohl α- als auch β-adrenerge Wirkung besitzt. Bei Asthma
bronchiale trägt zwar die schwache Stimulierung der ct-Rezeptoren über eine Vasokonstriktion
zur Verminderung des Ödems der Bronchialschleimhaut bei, allerdings sind die ct-sympathomimetischen
Herz-Kreislauf-Wirkungen (Tachykardie, Extrasystolen, Hypertonie) so stark, dass selektive
β
2-Sympathomimetika vorgezogen werden.
Adrenalin ist Notfallsituationen vorbehalten und wird dann i.v oder endotracheal appliziert
bzw. inhalativ als Aerosol gegeben (z. B. zum Abschwellen der oberen Atemwege). Nach
oraler Gabe ist es unwirksam, weil es im Magen-Darm-Trakt inaktiviert wird. Katecholamine
sind plazentagängig, sie werden dort aber teilweise enzymatisch inaktiviert (Morgan
1972).
Im Gegensatz zu tierexperimentellen Ergebnissen haben sich beim Menschen keine Hinweise
auf teratogene Effekte ergeben (Heinonen 1977). Eine systemische Anwendung kann die
Durchblutung von Uterus und Plazenta beeinträchtigen und zur fetalen Hypoxie führen.
Empfehlung für die Praxis:
Adrenalin ist vitalen Indikationen vorbehalten. Es gehört nicht zur Asthma-Standardtherapie.
Eine Exposition rechtfertigt weder einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch
noch invasive Diagnostik (siehe Kapitel 1.15). Die einigen Lokalanästhetika beigefügten
Mengen sind als unbedenklich anzusehen.
Isoprenalin
Pharmakologie und Toxikologie.
Isoprenalin weist keine α-sympathomi-metische Wirkung, aber eine etwa gleich starke
β
1- und β
2-Aktivität auf. Die β1-Wirkung am Herzen schränkt die Verwendung auf Notfallsituationen
ein, z. B. zur Abschwellung der oberen Atemwege.
Spezifische embryo- oder fetotoxische Wirkungen wurden bisher nicht bekannt. Die systemische
Gabe von Isoprenalin könnte, ähnlich wie bei Adrenalin, eine verminderte utero-plazentare
Durchblutung mit fetaler Hypoxie verursachen. Bei kurzfristiger inhalativer Anwendung
oder in dermatologischen Präparaten ist dies aber nicht zu erwarten.
Ephedrin und andere Sympathomimetika
Pharmakologie und Toxikologie.
Ephedrin ist das älteste bronchodilatato-risch wirkende Asthmamittel. Es gehört zu
den indirekten Sympathomimetika, die über eine vermehrte Ausschüttung der körpereigenen
Katecholamine wirken. Ephedrin hat sowohl α- als auch β-Aktivität mit entsprechenden
unerwünschten Wirkungen, so dass es inzwischen als ungeeignet für die Asthmatherapie
erachtet wird. Heute findet man Ephedrin und andere (indirekte) Sympathomimetika wie
Pseudoephe-drin, Phenylephrin, Phenylpropanolamin in Kombinationsmitteln gegen Erkältungen.
Eine unveröffentlichte Studie aus Schweden untersuchte Erkältungspräparate auf mögliche
teratogene Effekte: Im 1. Tri-menon nahmen mehr als 2.000 Schwangere Phenylpropanolamin
ein, ca. 140 Phenylpropanolamin plus Cinnarizin und mehr als 20 Pseudo-ephedrin. Die
Fehlbildunsgrate war in keiner der Gruppen erhöht (Källén 2005, persönliche Kommunikation).
Auch in der Bundesrepublik Deutschland werden Produkte, die zusätzlich Dextromethorphan,
Doxylamin etc. enthalten, noch angeboten (z.B. Wick MediNait®). Zumindest bei unkontrolliertem
Gebrauch und höheren Dosen dieser Mittel sind embryotoxische Wirkungen durch Sympathomimetika
nicht auszuschließen, wie publizierte Fallberichte über Extremitätendefekte in Erinnerung
rufen (Gilbert-Barness 2000).
Empfehlung für die Praxis:
Ephedrin gehört nicht zur Asthma-Standardtherapie. Mittel gegen Erkältungen, die Ephedrin
und andere Sympathomimetika enthalten, sollen nicht genommen werden. Eine (versehentliche)
Exposition rechtfertigt jedoch weder einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch
noch invasive Diagnostik (siehe Kapitel 1.15).
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2.4
Antiemetika und Hyperemesis gravidarum
Morgendliche Übelkeit und Erbrechen gehören zu den unangenehmen Begleiterscheinungen
vieler Schwangerschaften. Man schätzt, dass 50–70% aller Schwangeren in den ersten
Wochen unter morgendlicher Übelkeit leiden und die Hälfte von ihnen zusätzlich unter
Erbrechen (Emesis gravidarum). Nur in sehr seltenen Fällen (0,3–2%) ist das Erbrechen
so stark, dass ein Klinikaufenthalt wegen Störungen des Energie- und Elektrolythaushaltes
erforderlich ist (Hyperemesis gravi-darum).
Während früher darüber diskutiert wurde, ob Übelkeit und Erbrechen prognostisch ungünstige
Faktoren für die Schwangerschaft darstellen, gibt es heute eine Debatte darüber, ob
das Fehlen von morgendlicher Übelkeit ein prognostisch ungünstiges Zeichen für die
Entwicklung des Kindes ist. Boskovic (2004) ging in einer kontrollierten prospektiven
Studie dieser Frage nach und verglich Kinder von Schwangeren ohne Übelkeit und Erbrechen
mit solchen, die daran litten und eine Standarddosis Doxylamin-Pyridoxin (Kontrollgruppe
1) bzw. eine höhere Dosis Doxylamin-Pyridoxin (Kontrollgruppe 2) erhielten. Es gab
keine Unterschiede zwischen den Kindern der verschiedenen Gruppen.
Bei jüngeren Schwangeren und denen, die schon mindestens ein Kind haben, sowie jenen,
die während der Schwangerschaft zu Hause bleiben, ermittelte Källén (2003) ein höheres
Risiko für Übelkeit und Erbrechen.
Über den Wert von Antiemetika wurde intensiv diskutiert, weil dieser Arzneimittelgruppe
ursprünglich ein embryotoxisches Potenzial unterstellt wurde und gleichzeitig die
Wirksamkeit der Therapie umstritten war. Umfangreiche Untersuchungen ergaben keinen
Anhalt für ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko der klassischen Antiemetika (Asker 2005,
Mazotta 2000, Seto 1997, Brent 1995, Heinonen 1977). Auch der von einer Untersuchergruppe
beschriebene Zusammenhang von retrolenta-ler Fibroplasie bei Frühgeborenen und Antihistaminika-Anwendung
in den letzten beiden Schwangerschaftswochen (Zierler 1986) konnte von anderen Autoren
nicht bestätigt werden.
2.4.1
Nichtmedikamentöse bzw. alternative Therapien
Morgendliche Übelkeit und Emesis gravidarum sind keine Krankheiten, die generell medikamentös
behandelt werden müssen. Es sollte versucht werden, der Schwangeren zu vermitteln,
dass es sich um normale, schwangerschaftstypische Vorgänge handelt. In der Regel verliert
sich die morgendliche Übelkeit von selbst. Bei gelegentlichem Erbrechen wird empfohlen,
öfter kleine Mahlzeiten einzunehmen und auf die Position nach dem Essen zu achten
(nicht hinlegen). In anderen Fällen kann es helfen, vor dem Aufstehen eine Kleinigkeit
zu essen, z.B. trockene Kekse oder Weißbrot. Akupressur oder Akupunktur wird in vielen
Fällen als hilfreich empfunden. Fugh-Berman (2003) fand diese Methode in 10 von 14
Studien erfolgreich. Auch Ingwer, ein altes Hausmittel gegen Übelkeit, zeigte in verschiedenen
Studien eine ähnliche Wirksamkeit wie Pyridoxin (Smith 2004) und kein teratogenes
Risiko (Portnoi 2003; siehe auch Kapitel 2.19).
2.4.2
Dimenhydrinat
Pharmakologie und Toxikologie.
Dimenhydrinat (z.B. Vomex A®) ist ein Salz aus dem Antihistaminikum Diphenhydramin
und 8-Chlortheo-phyllin, das bei Gabe in der Frühschwangerschaft keine embryotoxischen
Wirkungen zeigte (Mazotta 2000, Seto 1997, Lione 1996). Untersuchungsergebnisse berichten
über eine Besserung der Symptomatik bei 45 % der Behandelten, diese war bei 25 % komplett
(Übersicht in Broussard 1998). Dimenhydrinat soll ebenso wie Diphenhydramin einen
Wehen fördernden Effekt besitzen (Broussard 1998). Hinweise auf ein teratogenes Risiko
beim Menschen liegen nicht vor, dies wurde kürzlich in einer retrospektiven Fall-Kontroll-Studie
bestätigt (Czeizel 2005).
Empfehlung für die Praxis:
Dimenhydrinat ist akzeptabel, wenn kein Risiko für eine Frühgeburt vorliegt. Meclozin
ist jedoch Antiemetikum der Wahl in der Schwangerschaft.
2.4.3
Diphenhydramin
Pharmakologie und Toxikologie.
Diphenhydramin (z.B. Emesan®) ist ein altbewährtes Antihistaminikum mit deutlich sedierenden
Eigenschaf ten. Daher wird es heute als Beruhigungsmittel und bei Schlafstörungen
verwendet. In den 70er Jahren wurde neben anderen Antihistaminika auch Diphenhydramin
ein teratogenes Potenzial unterstellt. Dies ließ sich in späteren Untersuchungen nicht
bestätigen (Mazotta 2000, Seto 1997, Lione 1996). Bei ca. 150 im 1. Trimenon behandelten
Schwangeren wurde eine Fehlbildungsrate von 1,1 % gefunden (Asker 2005).
Diphenhydramin hat, ebenso wie Dimenhydrinat, einen oxytocinarti-gen, wehenfördernden
Effekt, der in den 50er und 60er Jahren unter der Geburt genutzt wurde (Broussard
1998, Brost 1996). Die klinische Relevanz wird durch eine neuere Kasuistik in Erinnerung
gerufen, die Uteruskontraktionen nach Überdosis in Schwangerschaftswoche 26 beschreibt,
welche sich unter Magnesium i.v. besserten (Brost 1996).
Ein Fallbericht beschreibt die Totgeburt eines reifen, organisch gesunden Kindes unmittelbar
nach Einnahme von Diphenhydramin in Kombination mit Temazepam (Kargas 1985). Über
Entzugssymptome mit Zittrigkeit wurde nach langfristiger Einnahme bis zur Geburt berichtet
(Lione 1996).
Empfehlung für die Praxis:
Diphenhydramin darf eingesetzt werden, wenn kein Risiko für eine Frühgeburt vorliegt.
Meclozin ist jedoch Antiemetikum der Wahl in der Schwangerschaft.
2.4.4
Doxylamin
Pharmakologie und Toxikologie.
Lenotan® und Bendectin® waren Mischpräparate aus Doxylaminsuccinat, Vitamin B6
(Pyridoxin) und dem Anticholinergikum Dicycloverin, die weltweit etwa 20 Jahre lang
bei mehreren Millionen Schwangeren mit Emesis und Hyperemesis gravi-darum eingesetzt
wurden. In den Jahren 1977/78 wurde in den USA und England ein Zusammenhang zwischen
der Einnahme dieser Medikamente und dem gehäuften Auftreten unterschiedlicher Fehlbildungen
an Extremitäten, Skelett und Magen-Darm-Trakt vermutet (Donnai 1978, Smithells 1978),
der sich in ausführlichen prospektiven und retrospektiven Studien jedoch nicht bestätigen
ließ (Zusammenfassung in Brent 1995, McKeigue 1994). Aufgrund der Kritik von Verbraucherverbänden
im In- und Ausland wurde Lenotan® 1984 auch in der Bundesrepublik Deutschland vom
Markt genommen. Vor einigen Jahren wurde dann das Risiko nochmals bewertet, dabei
gab es definitiv keinen Anhalt für einen teratogenen Effekt (Brent 2003, Kutcher 2003).
Auch eine Therapie mit höherer Dosierung hat nach einer vergleichenden Studie keine
negativen Auswirkungen auf die Schwangerschaft (Atanackovic 2001).
In der Bundesrepublik Deutschland wird Doxylamin heute als Monosubstanz vorwiegend
in Schlafmitteln (z.B. Sedaplus®), aber auch noch als Antiallergikum (z. B. Mereprine)
angeboten. In Nordamerika ist es wieder das wichtigste Mittel bei Schwangerschaftsübelkeit.
Empfehlung für die Praxis:
Doxylamin darf in der Schwangerschaft verwendet werden.
2.4.5
Meclozin
Pharmakologie.
Meclozin (z.B. Postadoxin®) ist ein Antihistaminikum mit anticholinerger Aktivität,
das die Erregbarkeit von Labyrinth und Kleinhirn vermindert und zentral sowohl dämpfend
als auch erregend wirkt. Es wird nach oraler Gabe gut resorbiert. Meclozin verteilt
sich rasch im Körper und erreicht auch den Embryo. Obwohl seine Halbwertszeit mit
3 Stunden angegeben wird, hält die Wirkung bis zu 24 Stunden an. In einer Doppelblindstudie
wurde schon 1962 die Wirksamkeit von Meclozin bei Übelkeit und Erbrechen in der Schwangerschaft
bestätigt (Diggory 1962). Spätere Studien fanden in 98% der Fälle eine Besserung der
Symptomatik, bei 82% war diese komplett (Übersicht in Broussard 1998).
Cyclizin ähnelt als Piperazinderivat dem Meclozin. Obwohl seine Halbwertszeit wesentlich
länger ist, beträgt die Wirkdauer nur vier Stunden.
Toxikologie.
Obwohl Meclozin und Cyclizin im Tierversuch bei Ratten teratogen wirken, haben mehrere
Studien mit großer Fallzahl keine Hinweise auf ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko beim
Menschen ergeben (Källén 2003, Seto 1997, Lione 1996, Heinonen 1977). In einer schwedischen
Studie fanden sich bei mehr als 18.000 im 1. Trimenon mit Meclozin und bei mehr als
1.200 mit Cyclizin behandelten Schwangeren keine erhöhten Fehlbildungsraten (Asker
2005). Die Food and Drug Administration (FDA) der USA hat deshalb nach zwischenzeitlichem
Widerruf Meclozin 1979 wieder zur Therapie in der Schwangerschaft zugelassen.
Empfehlung für die Praxis:
Meclozin ist als altbewährtes und gut untersuchtes Medikament Mittel der Wahl bei
Übelkeit und Erbrechen in der Schwangerschaft.
2.4.6
Metoclopramid
Pharmakologie.
Metoclopramid (z.B. MCP®, Paspertin®) regt die Peris-taltik des oberen Gastrointestinaltraktes
an (siehe Kapitel 2.5) und blockiert Dopaminrezeptoren. Es besitzt deshalb einen zentralen
antiemetischen Effekt durch Beeinflussung der Area postrema und fördert, ebenfalls
über einen zentralen Angriffspunkt, die Entleerung des Magens. Zu den unerwünschten
Wirkungen zählen extrapyramidale Symptome. Metoclopramid wird nach oraler Gabe gut
resorbiert und erreicht den Fetus rasch.
Toxikologie.
Metoclopramid wurde vergleichsweise wenig bezüglich seiner Wirkung bei Schwangerschaftserbrechen
untersucht. Dennoch wird es in vielen Ländern zu diesem Zweck benutzt (Bsat 2003,
Einarson 1998). Embryotoxische Effekte wurden bisher nicht beobachtet (Überblick bei
Broussard 1998). Zwei Studien mit 884 und 175 im 1.Trimenon behandelten Schwangeren
fanden keine Auffälligkeiten (Asker 2005, Berkovitch 2002). Eine weitere Untersuchung,
die auf Verordnungsprotokollen und Geburtsregisterdaten basierte, ergab ebenfalls
keine Hinweise auf entwicklungstoxische Wirkungen (Sørensen 2000). Pränatal exponierte
Kinder, die bis zum Alter von 4 Jahren untersucht wurden, entwickelten sich normal
(Martynshin 1981).
Obwohl Metoclopramid die Prolaktinsekretion stimuliert, wurden weder von den Müttern
noch bei den Feten unerwünschte Wirkungen registriert. Fetales Prolaktin wird nicht
in erhöhtem Maß freigesetzt.
Empfehlung für die Praxis:
Metoclopramid zählt zu den Mitteln der Wahl bei Übelkeit und Erbrechen und ist speziell
bei begleitendem gastroösophagealen Reflux, vor allem in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft,
wirksam. Im Übrigen ist Meclozin Antiemetikum der ersten Wahl in der Schwangerschaft.
2.4.7
Phenothiazin-Antiemetika
Siehe auch Kapitel 2.11.
Pharmakologie und Toxikologie.
Phenothiazine wirken hemmend auf das Brechzentrum. Ihre dämpfende und distanzierende
Wirkung kann bei Hyperemesis erwünscht sein. Chlorpromazin (Propaphenin), Prome-thazin
(z. B. Atosil®) u. a. haben sich bei schwerer Hyperemesis mit Störung des Energie-
und Elektrolythaushalts als gut wirksam erwiesen (Mazotta 2000).
Langjährige Erfahrungen haben weder bei Chlorpromazin noch bei Promethazin oder anderen
selten gebrauchten Phenothiazinen terato-gene Wirkungen offenbart (Mazotta 2000, Broussard
1998, Heinonen 1977). Dies bestätigt eine neuere schwedische Studie, die unter ande
rem 4.740 im 1. Trimenon mit Promethazin behandelte Schwangere untersuchte (Asker
2005). Auch Triflupromazin (das frühere Psyquil®) scheint nicht embryotoxisch zu wirken
(McElhatton 1992).
Thiethylperazin wird vor allem in der Schweiz und in Osteuropa als Antiemetikum genutzt,
ohne dass sich bisher Hinweise auf Risiken für den Fetus ergaben (Einarson 1998).
Czeizel (2003) findet in seiner retrospektiven Fall-Kontroll-Studie ebenfalls kein
erhöhtes Gesamt-fehlbildungsrisiko, allerdings deutet sich ein schwacher Zusammenhang
zwischen Thiethylperazin und dem vermehrten Auftreten von Lippen-Gaumen-Spalten beim
intrauterin exponierten Kind an. Dagegen findet eine schwedische Studie bei 137 im
1. Trimenon exponierten Fetus eine unauffällige Fehlbildungsrate von 1,1 % (Asker
2005).
Mit Nebenwirkungen wie Extrapyramidalsymptomatik muss bei Phe-nothiazinen gerechnet
werden, wenn bis zur Geburt behandelt wurde. Solche Symptome sind meist unerheblich
und nicht therapiepflichtig.
Empfehlung für die Praxis:
Phenothiazine, insbesondere Chlorpromazin und Promethazin, dürfen bei Hyperemesis
gravidarum eingesetzt werden. Eine Anwendung anderer Phenothiazine im 1. Trimenon
rechtfertigt weder einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch noch zusätzliche
Pränataldiagnostik (siehe Kapitel 1.15). Generell ist Meclozin das Antiemetikum der
Wahl in der Schwangerschaft.
2.4.8
Serotonin-Antagonisten
Pharmakologie und Toxikologie.
Dolasetron (Anemet®), Granisetron (Kevatril®), Ondansetron (Zofran®), Palonosetron
(Aloxi®) und Tropi-setron (Navoban®) sind Serotonin-(5-HT3-)Antagonisten, die in der
Onkologie bei Erbrechen nach Strahlentherapie oder Zytostatikabe-handlung Anwendung
finden.
Ondansetron wird auch bei Hyperemesis gravidarum eingesetzt (Sullivan 1996). Fallberichte
beschreiben die erfolgreiche intravenöse Anwendung nach Versagen anderer Arzneimittel
bei schwerer Hyperemesis gravidarum zwischen den Schwangerschaftswochen 6 und 30.
Die Neugeborenen waren unauffällig (Siu 2002, World 1993, Guikontes 1992). In einer
prospektiven Studie wurden 176 mit Ondansetron behandelte Schwangere mit zwei unterschiedlichen
Kontrollgruppen verglichen (Einarson 2004). Kontrollgruppe 1 umfasste Schwangere mit
anderen Antiemetika, vorwiegend Doxylamin plus Pyridoxin oder Metoclopramid, Phenothiazine
oder Ingwer. Kontrollgruppe 2 litt nicht an Übelkeit und nahm keine oder harmlose,
gut untersuchte Medikamente ein. Hinsichtlich des Schwangerschaftsausgangs und des
Befindens der Neugeborenen bestanden keine statistisch signifikanten Unterschiede
zwischen den Gruppen.
Empfehlung für die Praxis:
Serotonin-(5-HT3-)Antagonisten sollen nur bei Versagen besser untersuchter Antiemetika
und schwerer Symptomatik eingesetzt werden. In einem solchen Fall ist Ondansetron
als das am längsten eingeführte Mittel dieser Gruppe vorzuziehen. Bei üblicher Emesis
sind Serotonin-(5-HT3-)-Antagonisten u.a. wegen der hohen Kosten keine therapeutische
Alternative. Die Anwendung eines Serotonin-Antagonisten im 1. Trimenon rechtfertigt
weder einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch noch invasive Diagnostik (siehe
Kapitel 1.15). Eine Ultraschallfeindiagnostik sollte jedoch aufgrund der unzureichenden
Erfahrungen angeboten werden, wenn aus dieser Gruppe ein anderes Mittel als Ondansetron
verwendet wurde.
2.4.9
Andere Antiemetika
Pharmakologie und Toxikologie.
Zu Alizaprid (Vergentan®) liegen keine ausreichenden Erfahrungen vor.
Aprepitant (Emend®) ist ein neues, in der Tumortherapie eingesetztes Antiemetikum.
Es gehört zur Gruppe der Neurokinin-1-Rezeptor-Antagonisten. Erfahrungen zur Anwendung
in der Schwangerschaft liegen noch nicht vor.
Für Betahistin (z.B. Aequamen®), ein schon länger gebräuchliches Histaminderivat,
sowie für die Antihistaminika Cinnarizin (z.B. Cin-narizin forte R.A.N.®) und Flunarizin
(z.B. Flunavert®) ist kein nennenswertes teratogenes Potenzial beim Menschen bekannt,
es fehlen jedoch systematische Untersuchungen zu diesen Mitteln. Beide Medikamente
werden bevorzugt bei vestibulärem Schwindel eingesetzt, z.B. im Rahmen einer Menière-Erkrankung.
Droperidol, ein Butyrophenon (siehe auch Abschnitt 2.11), wird z.T. in Nordamerika
bei hospitalisierten Schwangeren mit Hyperemesis bevorzugt. Eine Untersuchung mit
81 Schwangeren ergab eine gute Wirksamkeit von Droperidol-Dauertropf plus Diphenhydramin
als i.v Bolus (Nageotte 1996). Für eine differenzierte Risikoabschätzung reichen die
Erfahrungen nicht aus.
Einige Fallserien sprechen für den therapeutischen Nutzen von Glu-cocorticoiden (siehe
auch Abschnitt 2.15) bei zentral bedingtem Erbrechen (Übersicht in Broussard 1998).
Eine vergleichende Untersuchung sieht Vorteile einer kurzzeitigen oralen Behandlung
mit Methylpredni-solon gegenüber Promethazin bei Hyperemesis gravidarum (Safari 1998).
Yost (2003) verglich den Schwangerschaftsverlauf und die Entwicklung der Neugeborenen
an zwei Gruppen von stationären Patientinnen mit Hyperemesis gravidarum. Alle 112
Patientinnen erhielten intravenöse Rehydrierung, Promethazin und Metoclopramid, eine
Hälfte der Schwangeren bekam 250 mg Methylprednisolon i.v. und anschließend eine absteigende
Dosierung per os, während die andere Hälfte als Kontrollgruppe ein Placebo erhielt.
Zwischen beiden Gruppen gab es keinerlei Unterschiede.
Zu Mirtazapin (Remergil®) siehe Abschnitt 2.11.
Pyridoxin (siehe auch Abschnitt 2.18) ist seit Jahrzehnten vor allem in Kombination
mit Doxylamin Antiemetikum der Wahl in den USA. Es hat sich in einer Studie mit 342
Frauen als Monotherapie bei Übelkeit in der Schwangerschaft als effektiv erwiesen,
nicht jedoch bei der Besserung von Erbrechen (Vutyavanich 1995). Eine weitere Untersuchung
ergab nur eine Wirksamkeit bei starker Übelkeit, bei leichter und mittlerer Symptomatik
war Pyridoxin Placebo nicht überlegen (Sahakian 1991).
Scopolamin (Scopoderm® TTS) ist ein Parasympatholytikum, das äußerlich als Pflaster
zur antiemetischen Behandlung eingesetzt wird. Bei 309 im 1. Trimenon behandelten
Schwangeren wurde keine erhöhte Fehlbildungsrate festgestellt (Heinonen 1977). Auch
andere Untersuchungen geben keine Hinweise auf teratogene Effekte (Überblick in Briggs
2005). Scopolamin kann, weil es plazentagängig ist, beim Fetus anticholinerge Symptome,
wie z.B. Tachykardien, verursachen, die zumindest theoretisch die Diagnose hypoxiebedingter
Bradykardien erschweren können.
In einer Falldarstellung wird diskutiert, dass bei Symptomen einer Hyperemesis, die
bis ins 2. Trimenon hinein fortbestehen, ein Helico-bacter-pylori-assoziiertes Ulkus
die Ursache der Beschwerden sein könne (Jacoby 1999).
Empfehlung für die Praxis:
Die in diesem Abschnitt besprochenen Antiemetika sollten nur bei Versagen der in den
vorangehenden Abschnitten empfohlenen Substanzen angewendet werden. Meclozin ist Antiemetikum
der Wahl in der Schwangerschaft. Die Gabe eines anderen Antiemetikums stellt weder
eine Indikation für invasive Diagnostik noch für einen risikobegründeten Abbruch der
Schwangerschaft dar (siehe Kapitel 1.15).
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2.5
Magen-Darm-Mittel, Lipidsenker und Spasmolytika
2.5.1
Antacida und Sucralfat
Pharmakologie.
Zu den chemisch definierten Antacida zählen Natrium-hydrogencarbonat (Alkala®), Aluminiumhydroxid
(z.B. Acidrine neu®), Aluminiumphosphat (z.B. Phosphalugel®), Calciumcarbonat (z.B.
Calcium-dura®), Kombinationspräparate aus Aluminium und Magnesium oder Carbonat (z.B.
Solugastril®) bzw. aluminiumfreie Kombinationen (z.B. Rennie®) sowie die strukturell
neueren Aluminium-Magnesium-Verbindungen Algeldrat (z.B. Aludrox®, Maalox®), Almasilat
(z.B. Simagel®), Hydrotalcit (z.B. Talcid®), Magaldrat (z.B. Riopan®), die Aluminium-Saccharose-Verbindung
Sucralfat (z.B. Ulcogant®) und alginsäurehaltige Kombinationen (z.B. Gaviscon® Advance).
Aluminiumhydroxid und Aluminiumphosphat neutralisieren die Salzsäure des Magens unter
Bildung von Aluminiumchlorid. Eine Resorption von bis zu 20% einer oral gegebenen
Aluminiumdosis ist möglich. Die Ausscheidung erfolgt vorwiegend über die Nieren. Eine
wiederholte Einnahme höherer Dosen kann obstipierend wirken. Im Tierversuch ist nachgewiesen,
dass resorbierte Aluminiumsalze auch den Fetus erreichen.
Alginsäure oder Alginat führen in Anwesenheit von Magensäure zu einem viskösen Gel,
das auf dem Mageninhalt „schwimmt”, wie eine mechanische Barriere wirkt und damit
den gastroösophagealen Reflux reduziert. Vor kurzem wurde eine Studie an 150 Schwangeren
veröffentlicht, die die Wirksamkeit und Sicherheit im 2./3. Trimenon untersucht hat
(Lindow 2003).
Calciumcarbonat neutralisiert die Salzsäure unter Bildung von Cal-ciumchlorid, Kohlendioxid
und Wasser. Etwa 15–30% der oral aufgenommenen Dosis werden resorbiert. Bei Patienten
mit normaler Nierenfunktion besteht nach Einnahme von calciumcarbonathaltigen Präparaten
in therapeutischer Dosierung keine Gefahr einer Hypercalcä-mie. Exzessive Calciumzufuhr
kann jedoch bei Schwangeren zu dem äußerst seltenen Milch-Alkali-Syndrom führen (Gordon
2005), so dass nicht mehr als 1,5 g elementares Calcium (entsprechend 3,75 g Calci-umcarbonat)
täglich eingenommen werden sollten. Bei einer Schwangeren, die einen Monat lang täglich
10 Rennie und ca. 600 ml Milch zu sich nahm, litt das Neugeborene an einer vorübergehenden
Hypercal-cämie. Eine andere Kasuistik beschreibt Krämpfe als Folge einer Hypo-calcämie
beim Neugeborenen, dessen Mutter exzessiv während der gesamten Schwangerschaft Antacida
eingenommen hatte (Robertson 2002). Im Gegensatz zu der o.g. Fallbeschreibung von
Gordon (2005) handelte es sich um eine langfristige Einnahme, bei der die mütterliche
Hypercalcämie vermutlich zur hormonellen Gegenregulation des Fetus mit Hypoparathyreoidismus
und Hypocalcämie führte.
Magnesiumsilikate reagieren mit der Salzsäure des Magens unter Bildung von Siliziumdioxid
und Magnesiumchlorid. Das Magnesium wird zu 5–10% resorbiert. Die wiederholte Einnahme
größerer Dosen kann laxierend wirken.
Aus Hydrotalcit entsteht in Gegenwart von Salzsäure Kohlendioxid und Magnesium- bzw.
Aluminiumchlorid.
Das in den vergleichsweise neueren Wirkstoffen wie Magaldrat gebundene Aluminium ist
im Vergleich zu klassischen Antacida aufgrund seiner Molekülstruktur schlechter resorbierbar.
Sucralfat, ein wasserunlösliches Aluminiumsalz von Saccharosesulfat, haftet auf der
Oberfläche von Ulzera und wirkt auf diese Weise schleimhautprotektiv Es wird praktisch
nicht resorbiert.
Toxikologie.
Obwohl gelegentlich diskutiert wird, dass aus Antacida resorbiertes Aluminium zu funktionellen
Störungen im Zentralnervensystem und in den Nieren des Fetus führen könnte, haben
sich dafür klinisch bisher keine Hinweise ergeben. Auch spezifische Fehlbildungen
wurden nicht beobachtet.
Empfehlung für die Praxis:
Antacida und Sucralfat können in der gesamten Schwangerschaft angewendet werden. Bei
Einnahme aluminiumhaltiger Präparate sind Mittel zu bevorzugen, denen eine geringere
Resorption unterstellt wird, wie z. B. Magaldrat und Sucralfat.
2.5.2
H2-Rezeptor-Antagonisten
Pharmakologie und Toxikologie.
Cimetidin (z.B. Tagamet®), Famotidin (z.B. Pepdul®), Nizatidin (Nizax®), Ranitidin
(z.B. Raniberl®, Sostril®, Zantic®) und Roxatidin fördern die Heilung von Magen- und
Duodenalulzera durch Blockierung der Histamin-H2-Rezeptoren in der Magenschleimhaut,
über die die Sekretion der Salzsäure induziert wird. Cimetidin zeigte experimentell
bei einigen Spezies schwache antian-drogene Effekte. Allerdings gibt es bisher keine
Berichte über Geschlechtsdifferenzierungsstörungen bei Kindern, die intrauterin exponiert
waren.
Die in den letzten Jahren veröffentlichten Studien zu Ranitidin und Cimetidin mit
ca. 1.500 bzw. 800 im 1. Trimenon Exponierten sprechen gegen ein teratogenes Potenzial
beim Menschen (Ruigomez 1999, Källén 1998, Magee 1996, Koren 1991). Anzahl und Muster
der Fehlbildungen waren gegenüber der jeweiligen Kontrollgruppe nicht auffällig. Auch
Frühgeburten und intrauterine Wachstumsretardierung traten nicht häufiger auf. Zu
vergleichbaren Ergebnissen kommt eine neuere multizentrische prospektive Studie des
European Network of Teratology Information Services (ENTIS) mit 553 Schwangeren, davon
wurden 501 im 1. Trimenon behandelt. Bei Ranitidin (n=335), Cimetidin (n=113), Famotidin
(n=75), Nizatidin (n=15) und Roxatidin (n=15) zeigte sich keine erhöhte Fehlbildungsrate.
Allerdings war die Frühgeburtenrate in der behandelten Gruppe höher, ohne dass sich
dafür eine Erklärung fand. Die 2 bei Famotidin beobachteten Neuralrohrdefekte sind
eher als zufällig zu betrachten (Garbis 2005).
Umfangreiche Erfahrungen gibt es zur Behandlung in der Spätschwangerschaft: Zur Senkung
des Aspirationsrisikos bei Sectio caesa-rea verabreichtes Cimetidin wird von Mutter
und Fetus gut toleriert.
Empfehlung für die Praxis:
In der Schwangerschaft dürfen H2-Rezeptor-Ant-agonisten verordnet werden, wenn Antacida
nicht ausreichend wirken. Ranitidin als die am besten untersuchte Substanz sollte
auch Cimetidin gegenüber bevorzugt werden, da bei diesem theoretische Bedenken wegen
eventueller antian-drogener Eigenschaften bestehen. Die Anwendung eines anderen H2-Rezeptor-Antagonisten
rechtfertigt weder einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch noch invasive Diagnostik
(siehe Kapitel 1.15).
2.5.3
Protonenpumpenhemmer
Pharmakologie und Toxikologie.
Protonenpumpenhemmer wie Omeprazol (z.B. Antra MUPS®), Esomeprazol (Nexium®), einem
Isomer des Omeprazol, Lansoprazol (Agopton®), Pantoprazol (Pantozol®, Rifun®) und
Rabeprazol (Pariet®) blockieren das für die Säuresekretion im Magen wichtige Enzym
H+/K+-ATPase.
Inzwischen wurden zu dieser Medikamentengruppe etwa 2.000 Schwangere in verschiedenen
Studien vorwiegend prospektiv dokumentiert (z.B. Nikfar 2002). Zu über 90% ging es
um Omeprazol im 1. Trimenon (Källén 2001) und in weit geringerem Umfang um Pantoprazol
und Lansoprazol (Diav-Citrin 2005). Ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko wurde in keiner
der Studien gefunden, auch andere präna-tale Schäden sind bisher nicht beschrieben.
Die Erfahrungen mit den anderen Protonenpumpenhemmern sind, insbesondere im 1. Trimenon,
noch spärlich und erlauben keine differenzierte Risikobewertung. Hinweise auf ein
teratogenes Potenzial beim Menschen haben sich bisher nicht ergeben.
Empfehlung für die Praxis:
Omeprazol ist Mittel der ersten Wahl für die Therapie einer Refluxösophagitis in der
Schwangerschaft. Für andere Indikationen sind Protonenpumpenhemmer Mittel der zweiten
Wahl, wenn Antacida oder Ranitidin nicht wirksam sind. Die Anwendung eines anderen
Protonenpumpen-hemmers rechtfertigt weder einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch
noch invasive Diagnostik (siehe Kapitel 1.15).
2.5.4
Bismutsalze
Pharmakologie und Toxikologie.
Mit der Entdeckung des Zusammenhanges zwischen dem Auftreten von Magen- und Darmulzera
und einer Infektion mit dem Bakterium Helicobacter pylori erlebten die Bismutsalze,
die schon früher als unspezifische Antidiarrhoika angewendet wurden, zunächst eine
Renaissance. Bismutverbindungen wirken anti mikrobiell gegen Helicobacter pylori.
Verfügbar ist nur noch basisches Bismutnitrat (z.B. Angass® S), bei dem eine Nitritbildung
möglich ist. Bisherige Erfahrungen zur Behandlung Schwangerer erlauben keine differenzierte
Risikobewertung. Hinweise auf eine spezifische terato-gene Wirkung beim Menschen haben
sich bislang nicht ergeben.
Empfehlung für die Praxis:
Bismutsalze sind in der Schwangerschaft relativ kontraindiziert. Wenn eine antimikrobielle
Behandlung gegen Helicobacter pylori erforderlich ist, sollten bevorzugt Makrolide
gegeben werden (siehe Abschnitt 2.5.6).
2.5.5
Weitere Ulkustherapeutika
Pharmakologie und Toxikologie.
Pirenzepin (z.B. Gastrozepin®) ist ein vermutlich selektiv am Magen wirkendes Anticholinergikum
(so genannter M1-Rezeptorenblocker), das zu etwa 25% resorbiert wird. Bisherige Erfahrungen
zur Behandlung Schwangerer erlauben keine differenzierte Risikobewertung. Hinweise
auf eine spezifische terato-gene Wirkung beim Menschen haben sich bislang nicht ergeben.
Proglumid, ein Gastrin-Rezeptorantagonist, reduziert die Magensaftsekretion. Bisherige
Erfahrungen zur Behandlung Schwangerer erlauben keine differenzierte Risikobewertung.
Hinweise auf eine spezifische teratogene Wirkung beim Menschen haben sich bislang
nicht ergeben.
Misoprostol (Cytotec®) kann als Prostaglandinderivat Uteruskontraktionen und eine
Minderperfusion beim Fetus verursachen. Weitere Details siehe Kapitel 2.14.1.
Carbenoxolon verlängert die Lebensdauer der Magenschleimhautzellen und fördert gleichzeitig
die Sekretion des protektiven Muzin-schleims. Auf die Salzsäureproduktion hat Carbenoxolon
keinen direkten Einfluss. Unerwünschte Wirkungen sind Natrium- und Wasserre-tention
mit Hypokaliämie und Hypertonie. Hinweise auf eine spezifische teratogene Wirkung
beim Menschen haben sich bisher jedoch nicht ergeben.
Empfehlung für die Praxis:
Pirenzepin, Proglumid, Misoprostol und Carbenoxolon sollen in der Schwangerschaft
nicht verordnet werden. Eine dennoch erfolgte Anwendung rechtfertigt weder einen risikobegründeten
Schwangerschaftsabbruch noch invasive Diagnostik (siehe Kapitel 1.15). Zumindest nach
einer (versehentlichen) Therapie mit Misoprostol sollte eine Ultraschallfeindiagnostik
durchgeführt werden.
2.5.6
Helicobacter-pylori-Therapie
In vergangenen Jahrzehnten hat die antibiotische Behandlung von Helicobacter pylori
das Therapiekonzept bei Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüren und atrophischer Gastritis
grundlegend verändert. Die so genannte Tripeltherapie mit Eradikationsquoten von mehr
als 90 % bleibt Standard: Als Primärtherapie werden für mindestens 7 Tage 2 × 20 mg
Omeprazol mit 2 × 500 mg Clarithromycin und 2 × 1.000 mg Amoxicillin (französische
Tripeltherapie) oder Omeprazol mit 2× 250 mg Clarithromycin und 2 × 400 mg Metronidazol
(italienische Tripeltherapie) kombiniert, wobei die erste Variante vorzuziehen ist,
da es bei Therapieversagen zu geringeren Resistenzproblemen kommt. Als Sekundärtherapie,
z. B. bei bekannter Resistenz, werden ein Protonen-pumpenblocker und Bismut, Tetracyclin
und Metronidazol empfohlen. Ein Vorteil der anderen Protonenpumpenhemmer, wie Lansopra-zol
und Pantoprazol, gegenüber Omeprazol ließ sich bisher nicht sicher nachweisen.
Empfehlung für die Praxis:
Eine Helicobacter-pylori-Eradikation kann auch während der Schwangerschaft durchgeführt
werden. Wie im Kapitel 2.6 „Antiin-fektiva” erörtert, gibt es bisher keine Einwände
gegen die Anwendung von Amoxicillin und Clarithromycin in der Schwangerschaft. Metronidazol
ist aufgrund experimenteller Ergebnisse zurückhaltender zu beurteilen, so dass zumindest
im 1. Trimenon die „französische” Tripeltherapie bevorzugt werden sollte. Von den
Protonenpumpenhemmern ist das am besten untersuchte Mittel Omeprazol zu wählen. Die
Sekundärtherapie ist im Einzelfall kritisch zu überprüfen, da Tetrazy-kline nicht
nach Woche 16 angewandt werden dürfen und die Erfahrungen zu Bismutsalzen gering sind.
2.5.7
Acida
Pharmakologie und Toxikologie.
Für Verdauungsstörungen, die durch mangelnde Säureproduktion im Magen bedingt sind,
werden Glut-aminsäure-HCl (Pepsaletten® N) und Zitronensäure mit Pepsin-Pro-teinase
(z.B. Pepzitrat®) angeboten. Es gibt keine detaillierten Untersuchungen zur Anwendung
von Acida während der Schwangerschaft. Embryotoxische Schäden sind bisher nicht beobachtet
worden und auch nicht zu erwarten.
Empfehlung für die Praxis:
Acida können während der Schwangerschaft bei entsprechender Indikation eingenommen
werden.
2.5.8
Atropin und anticholinerge Spasmolytika
Pharmakologie und Toxikologie.
Atropin (z.B. Atropinsulfat Braun) ist ein klassisches Parasympatholytikum, das die
muskarinartige Wirkung des Acetylcholins aufhebt, indem es dieses am Rezeptor verdrängt.
Atropin erreicht im Fetus nach wenigen Minuten Konzentrationen, die denen der Mutter
entsprechen (Kivado 1977). Die kindliche Herzfrequenz kann nach systemischer Applikation
ansteigen.
Bei lokaler Applikation (am Auge) ist die systemische Verfügbarkeit zu vernachlässigen.
Atropinartige Belladonna-Alkaloide und ihre quarternären Ammoniumderivate bzw. deren
synthetische Analoga werden bei verschiedenen Indikationen angewendet, wie z. B. als
Spasmolytika, Sekretionshemmer, Anti-Parkinsonmittel und als Mydriatika. Der Wirkmechanismus
dieser Parasympatholytika entspricht dem des Atropins. Bei systemischer Applikation
sind atropinartige Wirkungen beim Fetus nicht auszuschließen.
Butylscopolamin ist das am weitesten verbreitete Spasmolytikum (z.B. Buscopan®). Oral
eingenommen, wird es schlecht resorbiert. In zwei Kasuistiken wird beschrieben, wie
nach i.v-Applikation von Butylscopolamin eklamptische Krampfanfälle bei zwei Schwangeren,
die bereits an Präeklampsie litten, auftraten (Kobayashi 2002).
Scopolamin wird als Mydriatikum (Boro-Scopol®) angeboten und als Pflaster zur Vorbeugung
von Reisekrankheit (Scopoderm TTS®). Cyclopentolat (Zyklolat®), Tropicamid (Mydriaticum
Stulln®) und Homatropin sind ebenfalls Mydriatika. Letzteres ist zurzeit nicht mehr
erhältlich.
Methylscopolamin wurde für Spasmen der Gallenwege angeboten, Methanthelinium (Vagantin®)
ist bei entsprechenden Beschwerden des Magen-Darm-Traktes einsetzbar. Systematische
Untersuchungen zur Entwicklungstoxizität dieser Mittel und verwandter Spasmolytika
wie Butinolin, Clidinium, Denaverin (Spasmalgan®), Glycopyrroni-umbromid (Robinul®),
Hymecromon (z.B. Cholspasmin®), Mebeverin (z.B. Duspatal®), Oxybutynin (z.B. Dridase®),
Papaverin, Phenam-azid, Pipenzolat (ila-med®), Pipoxolan, Pro-Panthelin, Propiverin
(z.B. Mictonorm®), Tiropramid, Tolterodin (Detrusitol®), Trospium-chlorid (z.B. Spasmex®),
Flavoxat (Spasuret®), Solifenacin (Vesikur®) und Valethamatbromid liegen nicht vor.
In einem kanadischen Bericht zu 10 Anwendungen von Pinaverium in der Schwangerschaft
werden 9 unauffällige Kinder und ein Spontanabort genannt. Fünf Mütter hatten das
Mittel im 1. Trimenon, fünf zwischen Schwangerschaftswoche 12 und 16 eingenommen.
In all diesen Fällen war die Einnahme unbeabsichtigt, es war mit dem Antiemetikum
Diclectin verwechselt worden (Einarson 1999).
Darifenacin (Emselex®) ist ein selektiver M3-Rezeptorantagonist, der zur Behandlung
der überaktiven Harnblase eingesetzt wird. Erfahrungen in der Schwangerschaft gibt
es noch nicht.
Spezifische embryotoxische Effekte beim Menschen sind bei Anwendung der genannten
Belladonna-Alkaloide bisher nicht beobachtet worden. Auch die Anwendung unter der
Geburt wird, soweit dokumentiert (z.B. für das Anticholinergikum Glycopyrronium) offenbar
gut vom Fetus vertragen (Ure 1999).
Empfehlung für die Praxis:
Anticholinergika können bei strenger Indikationsstellung in der gesamten Schwangerschaft
angewendet werden. Dies betrifft auch das Atropin selbst. Funktionelle Auswirkungen,
z. B. auf die Herzfrequenz des Fetus, müssen bei systemischer Applikation bedacht
werden. Butylscopol-amin ist Spasmolytikum der Wahl in dieser Arzneigruppe. Bei bestimmten
Arten der Blaseninkontinenz erscheint auch das ebenfalls weit verbreitete Oxybutynin
akzeptabel. Die diagnostische Anwendung von Anticholinergika am Auge („Weittropfen”)
ist unproblematisch. Eine Diarrhö sollte nicht routinemäßig mit Anticholinergika behandelt
werden.
2.5.9
Cholinergika
Pharmakologie und Toxikologie.
In den vergangenen 30 Jahren sind zahlreiche Publikationen zur Therapie mit Pyridostigmin
(z. B. Mestinon®) und Neostigmin (Prostigmin®) in der Schwangerschaft erschienen.
Insbesondere bei Pyridostigmin ging es meist um die Behandlung der Autoimmunerkrankung
Myasthenie. Nach diesen Erfahrungen besitzen Cholinergika beim Menschen kein teratogenes
Potenzial.
Auf Auswirkungen der Autoimmunerkrankung selbst, z.B. auf die Plazenta und auf antikörperinduzierte
Phänomene in der Neonatalzeit, soll hier nicht näher eingegangen werden. Etwa 30 %
der Neugeborenen zeigen nach der Geburt vorübergehende Myastheniesymptome aufgrund
von diaplazentar übergegangenen mütterlichen Autoantikörpern (Djelmis 2002).
Zu den anderen Cholinergika Ambenonium, Anetholtrithion (Mucinol®), Bethanechol (Myocholine-Glenwood®),
Carbachol (Car-bamann® Augentropfen), Ceruletid (Takus®), Distigmin (Ubretid®), Edrophonium
und dem Antidot Physostigmin (Anticholium®) liegen keine ausreichenden Daten zur Anwendung
in der Schwangerschaft vor. Doch auch bei ihnen sind teratogene Schäden wenig wahrscheinlich,
insbesondere bei den relativ weit verbreiteten Substanzen Carbachol, Distigmin und
Physostigmin.
Empfehlung für die Praxis:
Bei entsprechender Indikation wie z. B. (postoperativer) Atonie des Darmes oder der
Blase und Myasthenie dürfen Neostigmin, Pyridostigmin, Carbachol, Distigmin und Physostigmin
verwendet werden. Wurde versehentlich ein anderes Medikament dieser Gruppe appliziert,
rechtfertigt dies weder einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch noch invasive
Diagnostik (siehe Kapitel 1.15).
2.5.10
Andere Peristaltikanreger
Pharmakologie und Toxikologie.
Metoclopramid (z.B. Paspertin®) und Domperidon (z. B. Motilium®) sind zur Behandlung
von Motilitätsstö-rungen des oberen Magen-Darm-Trakts zugelassen. Bromoprid und Ci-saprid
sind zumindest in Deutschland zurzeit nicht erhältlich. Cisaprid wurde wegen seiner
Nebenwirkungen (Herzrhythmusstörungen vom Typ Torsade de Pointes) vom Markt genommen.
Zu Metoclopramid siehe Abschnitt 2.4.6.
Eine Studie mit 128 Schwangeren, die mit Cisaprid behandelt wurden, davon 88 im 1.
Trimenon, erbrachte keine erhöhte Fehlbildungsrate oder andere Auffälligkeiten des
Schwangerschaftsausgangs gegenüber einer nicht behandelten Kontrollgruppe (Bailey
1997). Zu den anderen Arzneimitteln liegen keine ausreichenden Erfahrungen beim Menschen
vor, jedoch auch keine Hinweise auf spezifische teratogene Effekte.
Empfehlung für die Praxis:
Metoclopramid kann bei Übelkeit mit Motilitäts-störungen im oberen Gastrointestinaltrakt
verordnet werden. Eine Anwendung der anderen Mittel stellt nach heutigem Wissen keine
Risikosituation für den Fetus dar.
2.5.11
Obstipation in der Schwangerschaft
Schwangere Patientinnen klagen häufig über hartnäckige Obstipation, die durch die
muskelrelaxierende Wirkung des Progesterons an der Muskulatur des Dickdarmes und durch
die gesteigerte Resorption von Wasser und Elektrolyten in der Schwangerschaft zu erklären
ist. Sicher spielt aber das subjektive Empfinden der Schwangeren (Völlegefühl durch
den wachsenden Uterus) dabei eine Rolle. Vor der Verabreichung von Laxanzien muss
daher geklärt werden, ob überhaupt eine Obstipation vorliegt (Stuhlgang hart und trocken,
schmerzhaft, seltener als 3-mal/Woche).
Therapeutisch sollte zunächst versucht werden, eine Besserung durch ballaststoffreiche
Kost, ausreichende Flüssigkeitszufuhr (ca. 2 l/Tag), Trainieren des Defäkationsreflexes
und vermehrte körperliche Bewegung zu erzielen. Nur falls der Erfolg ausbleibt, kann
es erforderlich sein, Abführmittel einzusetzen, um die Passagegeschwindigkeit des
Darminhaltes zu erhöhen.
Der Gewöhnung an diese Mittel und dem sich daraus entwickelnden Abusus mit überhöhten
Dosen muss entgegengewirkt werden, weil Wasserverluste, Elektrolytimbalancen und in
der fortgeschrittenen Schwangerschaft auch Uteruskontraktionen den Fetus gefährden
könnten.
Laxanzien sollten in der Schwangerschaft nur verabreicht werden, wenn diätetische
und physikalische Maßnahmen keinen Erfolg hatten. Dann sind Füll- und Quellstoffe
Mittel der ersten Wahl.
2.5.12
Füll- und Quellstoffe
Pharmakologie und Toxikologie.
Nichtresorbierbare Stoffe, die unter Wasseraufnahme eine Volumenvergrößerung erfahren,
lösen eine gesteigerte Darmperistaltik aus. Zu dieser Gruppe der Laxanzien gehören
Nahrungsmittel mit hohem Zellulosegehalt wie Leinsamen, Weizenkleie und Weizenkeime
sowie Agar-Agar, Guargummi und Carboxy-methyl-Cellulose bzw. Methylcellulose und indische
Flohsamenschalen (Plantago ovata).
Empfehlung für die Praxis:
Alle Füll- und Quellstoffe sind in der Schwangerschaft als sicher anzusehen und sollten
bei Obstipation bevorzugt eingesetzt werden.
2.5.13
Osmotische und salinische Abführmittel
Pharmakologie und Toxikologie.
Lactulose (z.B. Lactocur®, Bifiteral®), ein schwer spaltbares Disaccharid mit osmotischer
Wirkung, und sein Analogon Lactitol (Importal®) sind weit verbreitet und in moderater
Anwendung gut verträglich. Mit gleicher Wirkung werden schlecht resorbierbare Alkohole
wie Mannit und Sorbit verwendet. Salze mit abführender Wirkung sind ebenfalls schwer
resorbierbar und binden im Darm größere Mengen Wasser, die die Dehnungsreflexe des
Darmes stimulieren.
Zu empfehlen ist die Einnahme isotoner Lösungen, da hypertone Lösungen den Nachteil
haben, dem Körper beträchtliche Flüssigkeitsmengen zu entziehen.
Salze, die sich am besten als salinische Abführmittel eignen, sind Natriumsulfat (Glaubersalz)
und Magnesiumsulfat (Bittersalz); auch Ka-lium-Natriumtartrat, Kaliumbitartrat
und Zitrate finden Anwendung. Generell können Magnesiumsalze die Wehen hemmen, nach
oraler Zufuhr als Laxans ist dieser Effekt jedoch kaum nachzuweisen.
Zur Anwendung von Macrogol (z. B. in Klean-Prep®, Endofalk®) liegen keine publizierten
Erfahrungen vor. Schon aufgrund der geringen Resorptionsquote sind teratogene oder
andere entwicklungstoxische Effekte unwahrscheinlich.
Empfehlung für die Praxis:
Lactulose ist nach den Füll- und Quellstoffen das Abführmittel der Wahl in der Schwangerschaft.
Auch Lactitol, Mannit und Sorbit sowie salinische Abführmittel dürfen in der Schwangerschaft
als Laxanzien verwendet werden. Magnesiumsulfat ist vor allem bei Schwangeren mit
Herz-Kreislauf- und Nierenerkrankungen kontraindiziert, da bei ihnen die Resorption
von Magnesiumionen eine zusätzliche Belastung bedeuten kann. Bei Natriumsulfat im
normalen Dosisbereich ist die Resorption von Natriumionen zu vernachlässigen. Andere
Salze sollten nicht benutzt werden.
2.5.14
Diphenylmethane
Pharmakologie und Toxikologie.
Die Diphenylmethane Phenolphthalein und seine Derivate Bisacodyl (z.B. Dulcolax®)
und Natriumpicosulfat (z. B. Agiolax® Pico) wirken durch Stimulierung der Dickdarmperistal-tik
laxierend.
Phenolphthalein wird zu 15 % resorbiert und nach Glucuronidierung mit dem Harn (rötliche
Verfärbung) ausgeschieden. Bisacodyl wird nur zu 5 % resorbiert. Eine teratogene oder
spezifisch fetotoxische Wirkung der Diphenylmethane wurde nicht beobachtet.
Empfehlung für die Praxis:
Bisacodyl ist in der gesamten Schwangerschaft Mittel der Wahl, wenn eine Obstipation
medikamentös behandelt werden muss und weder Quellstoffe noch osmotische Laxanzien
ausreichend wirken.
2.5.15
Anthrachinonderivate
Pharmakologie und Toxikologie.
Anthrachinonderivate mit laxierender Wirkung kommen in einer Reihe von Pflanzen vor:
Sennesblätter (z. B. Neda Früchtewürfel), Rhabarberwurzel, Faulbaumrinde, Cascararin-de
(Legapas®) und Aloe (z.B. Kräuterlax®). Die abführende Wirkung wird durch direkte
Stimulierung der Muskulatur des Dickdarmes ausgelöst. Anthrachinonderivate liegen
als Glykoside vor. Nach Abspaltung des Zuckeranteils im Darm werden sie teilweise
resorbiert und mit dem Harn ausgeschieden (Verfärbung!). Anthrachinonderivate sind
offenbar nicht teratogen.
Eine stimulierende Wirkung an der Uterusmuskulatur ist diskutiert worden, ebenso das
Risiko des Mekoniumabgangs beim Fetus durch direkte Wirkung des Aloe-Wirkstoffs Aloin.
Empfehlung für die Praxis:
Anthrachinonderivate sind während der Schwangerschaft zu meiden. Eine dennoch erfolgte
Anwendung rechtfertigt weder einen risikobegründeten Abbruch der Schwangerschaft noch
eine invasive Diagnostik (siehe Kapitel 1.15).
2.5.16
Rizinusöl
Pharmakologie und Toxikologie.
Aus Oleum Ricini (Rizinusöl) wird durch Lipasen im Dünndarm die Ricinolsäure freigesetzt.
Diese ruft durch Reizung der Darmschleimhaut eine laxierende Wirkung hervor. Rizinusöl
ist ein drastisch wirkendes Abführmittel, das für eine länger dauernde Therapie nicht
geeignet ist. Beim Menschen wurden keine spezifischen embryotoxischen Effekte beobachtet.
Manche Autoren warnen vor einem möglichen wehenauslösenden Effekt. Im Rahmen einer
„natürlichen” Geburtseinleitung wurde es, gemischt z. B. mit Orangensaft, angewendet.
Empfehlung für die Praxis:
Die einmalige Anwendung von Rizinusöl in der Schwangerschaft ist, falls wirklich indiziert,
vertretbar. Im letzten Trimenon sollte Rizinusöl wegen möglicher Wehenförderung jedoch
nicht genommen werden.
2.5.17
Gleitmittel
Pharmakologie und Toxikologie.
Paraffinum subliquidum hemmt die intestinale Resorption fettlöslicher Vitamine, wie
z.B. von Vitamin K, und kann damit die fetale Entwicklung beeinträchtigen. Die Tatsache,
dass geringe Mengen resorbiert werden und zu granulomatösen Reaktionen führen können,
sowie das Risiko pulmonaler Schäden nach Aspiration (Lipoidpneumonie) schränken den
therapeutischen Wert von Paraffinum subliquidum generell ein.
Docusat (in Norgalax® Miniklistier) ist ein Abführmittel, das ebenfalls die Gleitfähigkeit
des Darminhaltes im Kolon erhöht. Es beeinträchtigt die Funktion der Darmschleimhaut
und führt zur vermehrten Resorption anderer Arzneimittel. Auch wurde ein Neugeborenes
mit klinisch manifester Hypomagnesiämie nach mütterlicher hoch dosierter Docu-satanwendung
beschrieben (Schindler 1984). Bonapace (1998) fand kein erhöhtes Fehlbildungsrisiko
nach Anwendung in der Schwangerschaft.
Empfehlung für die Praxis:
Paraffinum subliquidum ist in der Schwangerschaft kontraindiziert. Eine dennoch erfolgte
Exposition erfordert außer Umstellung der Behandlung keine Konsequenzen. Docusat kann
in niedrigen Dosierungen bei entsprechender Indikation gegeben werden. Füll- und Quellstoffe
sowie Lactu-lose und Bisacodyl sind aber vorzuziehen.
2.5.18
Andere Mittel gegen Obstipation
Noch in der Studienphase ist Alvimopan, ein selektiver Opioid-rezeptorblocker, der
als Entrareq® auf den Markt kommen und bei Opioid-induzierter Obstipation eingesetzt
werden soll. Erfahrungen zur Schwangerschaft liegen aus verständlichen Gründen noch
nicht vor.
2.5.19
Antidiarrhoika
Pharmakologie und Toxikologie.
Bei akuter Diarrhö steht auch in der Schwangerschaft die symptomatische Therapie mit
Flüssigkeitsersatz und Aufrechterhalten des Elektrolythaushaltes im Vordergrund. Verlaufen
infektiöse Enteritiden invasiv (blutige Stühle, hohes Fieber), so kann eine antibiotische
Behandlung erforderlich sein.
Diphenoxylat wird zur Hemmung der Darmmotilität angeboten. Es ist ein Pethidinderivat
und reagiert mit den Opiatrezeptoren, verfügt jedoch nicht über analgetische Eigenschaften.
Bei seiner Anwendung bis zum Ende der Schwangerschaft können opiatartige Entzugssymptome
nicht ausgeschlossen werden. Zu Diphenoxylat liegen keine Hinweise auf spezifische
embryotoxische Wirkungen vor, der Umfang an dokumentierten Erfahrungen ist jedoch
nicht groß.
Loperamid (z. B. Imodium®) ist mit dem Diphenoxylat hinsichtlich Struktur und Wirkung
verwandt. Es wird nur zu geringen Teilen resorbiert. Nach den bisherigen Erfahrungen
wirkt es zentral weit weniger opiatartig als Diphenoxylat. In einer prospektiven Untersuchung
an 105 Schwangeren mit Loperamidbehandlung, davon 89 im 1. Trime-non, zeigten sich
keine Hinweise auf teratogene Effekte. Auffällig war lediglich das gegenüber einer
Kontrollgruppe um durchschnittlich 200 g niedrigere Geburtsgewicht der Kinder, deren
Mütter durchgehend behandelt wurden (Einarson 2000).
Zu Racecadotril (Tiorfan®) liegen noch keine Erfahrungen in der Schwangerschaft vor.
Zu Tanninalbumat (z. B. Tannalbin®) gibt es keine Hinweise auf spezifische embryotoxische
Wirkungen, der Umfang an dokumentierten Erfahrungen ist jedoch nicht groß.
Medizinische Kohle, Apfelpektin und Ähnliches stellen kein Risiko für die Schwangerschaft
dar.
Empfehlung für die Praxis:
Nur selten erfordert eine akute Diarrhö eine Behandlung, die über diätetische Maßnahmen
hinausgeht. Falls tatsächlich eine medikamentöse Hemmung der Darmmotilität indiziert
ist, sollte Loperamid gewählt werden.
2.5.20
Mittel gegen chronisch-entzündliche Darmerkrankungen
Chronisch entzündliche Darmerkrankungen können, besonders wenn die Krankheitsaktivität
hoch ist, zu einer höheren Abortrate, Frühge-burtlichkeit und einem niedrigeren Geburtsgewicht
sowie zu vermehrt auftretenden perinatalen Komplikationen führen. Verschiedentlich
wurden auch eine höhere Fehlbildungsrate beschrieben (Dominitz 2002) bzw. ein erhöhtes
Risiko für spezielle Anomalien, wie z.B. Extremitätenfehlbildungen und obstruktive
Harnwegsanomalien (Nørgård 2003). Beides ließ sich bisher nicht bestätigen.
Pharmakologie und Toxikologie.
Bei den chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen Colitis ulcerosa und Morbus Crohn
kommen Sulfona-mide, 5-Aminosalicylsäure (5-ASA), Glucocorticoide (Prednisolon systemisch
oder Budesonid rektal), Immunsuppressiva wie Azathioprin, Zytostatika in immunsuppressiver
Dosierung wie Methotrexat, 6-Mer-captopurin, Thioguanin und neuerdings auch monoklonale
Antikörper wie Infliximab zum Einsatz. Neu und ohne Erfahrungen in der Schwangerschaft
sind auch Sargramostim (Leukine®) bei M. Crohn, Phosphatidylcholin bei Colitis ulcerosa,
Anti-Interleukin-12-Antikörper und Integrin-Antikörper (NLN2) bei M. Crohn. Zu den
immunmodulatorischen Medikamenten siehe Kapitel 2.12, Zytostatika siehe Kapitel 2.13,
Glucocorticoide siehe Kapitel 2.15.
Salazosulfapyridin bzw. Sulfasalazin (Azulfidine®, Colo-Pleon®), ein Kombinationsprodukt
aus einem Sulfonamidanteil und 5-ASA, galt lange Zeit als das Mittel der Wahl bei
Colitis ulcerosa. Die vielfältigen Erfahrungen beim Menschen belegen, dass diese Substanz
nicht terato-gen ist. Die Bedenken, der Sulfonamidanteil könnepränatal verabreichteinen
Kernikterus beim Neugeborenen begünstigen, sind theoretisch verständlich, in der Praxis
aber nicht von Bedeutung.
Da in den meisten Fällen der antiphlogistisch wirkende Anteil des Sulfasalazin, die
5-Aminosalicylsäure, bei Behandlung chronischentzündlicher Darmerkrankungen allein
ebenso wirksam ist, wird diese als Monosubstanz Mesalazin angeboten (z.B. Claversal®,
Salo-falk®).
Mesalazin wird sehr häufig in der Schwangerschaft verordnet, ohne dass sich bisher
Hinweise auf teratogene Wirkungen ergeben haben (Habel 1993). Über ein Neugeborenes
mit Nierenfunktionsstörungen wird berichtet, dessen Mutter vom 3. bis 5. Monat täglich
2–4 g Mesala-zin eingenommen hatte (Colombel 1994). Der von den Autoren als Ursache
erwogene Prostaglandinantagonismus von 5-ASA wird von anderen in Frage gestellt. Obwohl
bei oraler Anwendung von Mesala-zin bis zu 50% resorbiert werden, gelangen nur geringe
Mengen über die Plazenta zum Fetus. Das könnte auch erklären, dass bisher keine Auswirkungen
auf den fetalen Ductus arteriosus im Sinne eines vorzeitigen Verschlusses bei Behandlung
nach Schwangerschaftswoche 30 beobachtet wurden. Andererseits werden in einer Publikation
gleiche Mesalazinkonzentrationen im mütterlichen und im Nabelschnurblut beschrieben
(Christensen 1994).
Auch die bisher größte Studie zur pränatalen Verträglichkeit des Mesalazins mit 318
Frauen, eine multizentrische Untersuchung des European Network of Teratology Information
Services (ENTIS), ergab keine Hinweise auf pränatale oder perinatale Arzneitoxizität
(Rost van Tonningen, persönliche Mitteilung 2003). Gleiches gilt für drei Untersuchungen
an 148, 165 bzw. 123 Schwangeren (Nørgård 2003, Diav-Citrin 1998, Marteau 1998). Es
ist aber erkennbar, dass für einen möglichst unkomplizierten Verlauf der Schwangerschaft
Mesalazin ausreichend hoch dosiert werden muss, um das Risiko einer Exazerbation zu
mindern, die ihrerseits die o.g. Komplikationen begünstigt.
Olsalazin (Dipentum®) zur Rezidivprophylaxe der Colitis ulcerosa ist ein Doppelmolekül
aus zwei Mesalazinanteilen. Die Verträglichkeit für den Embryo ist analog Mesalazin
zu bewerten.
Balsalazid wird im Colon zu 5-ASA metabolisiert.
Empfehlung für die Praxis:
Mesalazin ist Mittel der Wahl bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen. Es muss
so hoch dosiert werden wie therapeutisch erforderlich. Es sollte keine Dosisreduktion
mit Rücksicht auf die Schwangerschaft vorgenommen werden. Auch Olsalazin kann verschrieben
werden. Falls der antibiotische Effekt des klassischen Sulfasalazin erwünscht ist,
darf auch dieses verordnet werden. Corticoide können in der Schwangerschaft sowohl
lokal, d.h. rektal, als auch systemisch verwendet werden. Sollte Azathio-prin unbedingt
erforderlich sein, kann es auch in der Schwangerschaft eingenommen werden. Gleiches
gilt für 6-Mercaptopurin. 6-Thioguanin und Infliximab sollten gemieden werden. Methotrexat
ist kontraindiziert. Zu den immunmodulatorischen Medikamenten siehe Kapitel 2.12,
Zytostatika siehe Kapitel 2.13, Glucocorticoide siehe Kapitel 2.15.
2.5.21
Simeticon und pflanzliche Carminativa
Pharmakologie und Toxikologie.
Unter Carminativa werden Substanzen zusammengefasst, die bei Meteorismus lindernd
wirken. Dazu gehören pflanzliche Mittel wie Kümmel, Anis und Pfefferminz mit entsprechend
wirksamen ätherischen Ölen. Sie sind in der Schwangerschaft als sicher anzusehen.
Simeticon (z.B. sab simplex® Suspension, Lefax®), die aktive Form von Dimeticon (z.B.
sab simplex® Kautabletten), entschäumt das für den Meteorismus ursächliche Gas-Flüssigkeits-Gemisch
und erleichtert damit den Weitertransport des Darminhaltes. Es wird nicht resorbiert
und ist in der Schwangerschaft gut verträglich.
Empfehlung für die Praxis:
Simeticon, Dimeticon und pflanzliche Mittel, die Anis, Kümmel oder Pfefferminz enthalten,
dürfen in der gesamten Schwangerschaft als Carminativa verwendet werden.
2.5.22
Chenodeoxycholsäure und Ursodeoxycholsäure
Pharmakologie und Toxikologie.
Die Entstehung von Cholesteringallen-steinen wird in der Schwangerschaft wahrscheinlich
durch eine verminderte Kontraktilität der Gallenblase begünstigt. Keinen Einfluss
auf die Steinbildung soll hingegen die ebenfalls beobachtete Erhöhung der Cholesterinkonzentration
in der Gallenflüssigkeit haben (Braverman 1980).
Zur Auflösung cholesterinhaltiger Gallensteine werden bei Patienten mit funktionsfähiger
Gallenblase die natürlicherweise vorkommenden Gallensäuren bzw. deren Metaboliten
eingesetzt. Chenodeoxycholsäure (z.B. Chenofalk®), Ursodeoxycholsäure (z.B. Ursofalk®)
bzw. eine Kombination beider Wirkstoffe (z.B. Lithofalk®) können durch Verschiebung
der Konzentrationsverhältnisse von Cholesterin zu Gallensäuren die Auflösung von Gallensteinen
bewirken.
Ursodeoxycholsäure wirkt bei hepatozellulären Schäden, die durch Gallensäuren induziert
sind, also vor allem bei cholestatischen Erkrankungen, wie der primär biliären Zirrhose.
Aufgrund der symptomatischen Wirkung ist eine Dauerbehandlung erforderlich.
Aussagefähige Untersuchungen zur Anwendung bei Schwangeren gibt es bisher nur für
Ursodeoxycholsäure in der zweiten Schwangerschaftshälfte, vor allem zur gut wirksamen
Behandlung bei Schwanger-schaftscholestase (Roncaglia 2004, Mazella 2001), die mit
Juckreiz, Ikterus sowie erhöhter alkalischer Phosphatase (AP) und γ-Glutamyl-transpeptidase
(γ-GT) einhergeht. Unter dieser Therapie wurde nicht nur eine Besserung mütterlicher
Symptome und Laborparameter beob achtet, sondern auch eine Verringerung der erkrankungsbedingten
Frühgeburtlichkeit (Palma 1997). Es wurde keine Zunahme toxischer Ursodeoxycholsäuremetaboliten
im Mekonium gefunden. Der Gallensäuregehalt des Mekoniums kann sich durch die mütterliche
Erkrankung verändern, nicht aber durch die Medikation (Rodrigues 1999). Eine vergleichende
Untersuchung an 84 Schwangeren mit Schwanger-schaftscholestase, die entweder Ursodeoxycholsäure
oder Colestyramin einnahmen, zeigte deutliche Vorteile für die Anwendung von Ursodeoxycholsäure.
Der Juckreiz wurde dadurch effektiver behandelt, es kam zu weniger Frühgeburten und
die Leberwerte wurden deutlicher reduziert (Kondrackiene 2005).
Über embryotoxische Schäden durch Gallensäurebehandlung wurde bisher nicht berichtet.
In unserer Datenbank liegen 24 Schwangerschaften mit Exposition im 1. Trimenon vor.
Fehlbildungen wurden nicht beobachtet. Für die tierexperimentell beobachteten Fehlbildungen
und Leberschäden nach Gabe dieser Mittel gibt es bislang kein Korrelat beim Menschen.
Empfehlung für die Praxis:
Chenodeoxycholsäure und Ursodeoxycholsäure sind während der ersten drei Schwangerschaftsmonate
zu meiden. Falls eine Patientin während der Behandlung schwanger wird, sollte das
Medikament möglichst abgesetzt werden. Eine Ausnahme stellt die primär biliäre Zirrhose
dar, die ggf. durchgängig mit Ursodeoxycholsäure behandelt werden muss. Auch bei Schwangerschaftscholestase
kann dieses Mittel verordnet werden. Eine Behandlung mit Gallensäuren im 1. Trimenon
rechtfertigt nach heutigem Erkenntnisstand weder einen risikobegründeten Abbruch der
Schwangerschaft noch zusätzliche diagnostische Maßnahmen (siehe Kapitel 1.15).
2.5.23
Clofibrinsäurederivate und -analoga
Pharmakologie und Toxikologie.
Clofibrat (inzwischen vom Markt genommen) und die anderen Fibrate stellen in der Behandlung
der Hypercholesterinämie ein überholtes Therapiekonzept dar. Der Nutzen der Statine
ist besser belegt. Auch wegen vermuteter Kanzerogenität, wegen der Hepatotoxizität
und immunogener Reaktionen ist die Fibrat-therapie inzwischen in den Hintergrund gerückt.
Wegen der verminderten Glucuronidkonjugation beim Fetus ist bei Behandlung am Ende
der Schwangerschaft eine Kumulation möglich.
Die Analogprodukte Bezafibrat (z.B. Cedur®), Ciprofibrat, Etofi-brat (Lipo-Merz®),
Etofyllinclofibrat (Duolip®), Fenofibrat (z.B. Nor-malip® pro) und Gemfibrozil sind
pharmakologisch und toxikologisch ähnlich zu beurteilen.
Gemfibrozil (z.B. Gevilon®) eignet sich (als Reservetherapeutikum) zur Behandlung
massiver Hypertriglyzeridämien und kombinierter Hypertrigyzerid- und Hypercholesterinämien,
vor allem bei hohem Risiko für eine Pankreatitis.
Der Umfang an Erfahrungen in der Schwangerschaft ist für eine Risikobewertung unzureichend.
Hinweise auf ein nennenswertes teratoge-nes Potenzial beim Menschen gibt es bisher
nicht.
Empfehlung für die Praxis:
Die genannten Mittel sollten in der Schwangerschaft nicht verordnet werden. Eine dennoch
erfolgte Behandlung mit einem dieser Lipidsenker rechtfertigt weder einen risikobegründeten
Abbruch der Schwangerschaft noch invasive diagnostische Maßnahmen (siehe Kapitel 1.15).
2.5.24
Cholesterin-Synthese-Enzym-Hemmer
Pharmakologie und Toxikologie.
Atorvastatin (Sortis®), Cerivastatin (ehemals Lipobay®), Fluvastatin (Cranoc®, Locol®),
Lovastatin (z.B. Mevinacor®), Pitavastatin, Pravastatin (z.B. Pravabeta®), Rosuvasta-tin
und Simvastatin (z.B. Zocor®) sind Inhibitoren des Enzyms 3-Hydroxy-3-Methylglutaryl-Coenzym-A-(HMG-CoA-)Reduktase,
das für die Cholesterin-Biosynthese unerlässlich ist. Cerivastatin wurde 2001 vom
Markt genommen, da es zu schweren Rhabdomyolysen mit z.T. tödlichem Ausgang führte.
Theoretische Bedenken gegen die Anwendung dieser Arzneigruppe in der Schwangerschaft
bestehen wegen der Bedeutung einer ungestörten Cholesterinsynthese insbesondere während
der Organogenese und den z.T. noch unzureichenden klinischen Erfahrungen in der Gravidität.
Eine Vielzahl von Studien hat die Wirksamkeit der Statine untersucht. Bewiesen ist
der Nutzen (zumindest von Simvastatin und Pravastatin) in der Sekundärprävention hinsichtlich
Morbidität und Mortalität von vaskulären Erkrankungen, die mit einer Hyperlipidämie
assoziiert sind. Widersprüchlich ist hingegen die klinische Bedeutung bei der Primärprävention.
Die Erfahrungen zur Schwangerschaft umfassen mehr als 400 exponierte Frauen. Bisher
lässt sich kein entwicklungstoxisches Risiko erkennen. Hierbei handelt es sich um
die Auswertung von 70 retrospektiven Fallberichten an die Federal Drug Administration
(FDA; Edison 2004), in der ZNS- und Extremitätenanomalien als mögliche Gefahr diskutiert,
aber von anderen Autoren angezweifelt wurden (Gibb 2005). Weitere Fallsammlungen finden
kein erhöhtes Risiko: Ein Hersteller berichtet über 225 prospektiv erfasste Schwangerschaften,
in denen Simvastatin oder Lovastatin eingenommen wurde. Auch retrospektive Fallberichte
wurden ausgewertet (Pollack 2005). Ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko wurde hier ebenso
wenig beobachtet wie bei zwei kleineren prospektiv dokumentierten Fallsammlungen mit
19 (McElhatton 2005) bzw. 45 (Paulus 2004) im 1. Trimenon exponierten Schwangeren.
Auch unsere eigenen, prospektiv erfassten Daten zu ca. 60 Schwangeren, die mit Statinen
behandelt wurden, erbrachten keine Hinweise auf ein entwicklungstoxisches Risiko.
Die Erhebungsweise der verschiedenen Untersuchungen und/oder ihre geringe Fallzahl
erlauben keine statistische Risikoberechnung. Die Daten begründen aber keinen Verdacht
auf Teratogenität beim Menschen.
Empfehlung für die Praxis:
Atorvastatin, Fluvastatin, Lovastatin, Pravastatin und Simvastatin sollten in der
Schwangerschaft nicht verordnet werden, da ihre Unbedenklichkeit nicht erwiesen ist
und Nachteile für die Mutter durch eine Unterbrechung der Therapie für den Zeitraum
der Schwangerschaft in der Regel nicht zu erwarten sind. Eine dennoch erfolgte Behandlung
rechtfertigt keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel 1.15).
Eine Ultraschallfeindiagnostik zur Bestätigung der normalen morphologischen Entwicklung
sollte jedoch angeboten werden. Erscheint eine Therapie in der Schwangerschaft unumgänglich,
ist ein erprobtes Mittel wie Simvastatin zu wählen.
2.5.25
Colestyramin und andere Lipidsenker
Pharmakologie und Toxikologie.
Colestyramin (z.B. Quantalan®) ist ein Anionenaustauschharz, das aus dem Magen-Darm-Trakt
nicht resorbiert wird. Es bindet Gallensäuren und bildet mit diesen einen unlöslichen
Komplex, der mit dem Stuhl ausgeschieden wird. Dies führt zu einer Reduktion des Cholesterins
und der LD-(low density-)Lipo-proteine im Serum. Colestyramin wird bei Schwangerschaftscholestase
gegen den Juckreiz eingesetzt. Wirksamkeit und Sicherheit sprechen eher für Ursodeoxycholsäure
(siehe dort; Kondrackiene 2005).
Die bisher vorliegenden Fallberichte zu Colestyramin zeigten keine Hinweise auf Teratogenität
(Landon 1987). Ein Risiko ergibt sich allerdings für den Fetus daraus, dass es neben
Gallensäuren auch andere lipophile Substanzen, wie z.B. fettlösliche Vitamine und
Medikamente, bindet. Zwei Kasuistiken beschreiben schwere Hirnblutungen beim Fetus
und diskutieren einen Vitamin-K-Mangel durch die Coles-tyraminbehandlung der Mutter
(Sadler 1995 und eigene Daten).
Andere Lipidsenker wie Acipimox (Olbemox®), Colestipol (z.B. Cholestabyl®),
β-Sitosterin (z.B. Sito Lande®), Inositolnicotinat (z.B. Nicolip®) und Probucol sind
unzureichend hinsichtlich Verträglichkeit in der Schwangerschaft untersucht. Auch
für diese Mittel fehlen bisher Hinweise auf spezifische embryo- bzw. fetotoxische
Wirkungen.
Seit kurzem ist Ezetimib (Ezetrol® und in Inegy®) auf dem Markt, das selektiv die
intestinale Resorption von Cholesterin aus Nahrung und Galle hemmt. Es soll zusammen
mit Statinen angewendet werden, wenn diese alleine nicht wirksam genug sind. Diskutiert
wird, ob es unter der Kombination beider Cholesterinsenker zu einer erhöhten Inzidenz
von Myopathien und Hepatitiden mit Transaminasenerhö-hungen kommt. Erfahrungen zur
Anwendung in der Schwangerschaft liegen nicht vor.
Empfehlung für die Praxis:
Colestyramin darf bei Schwangerschaftscholestase als Mittel zweiter Wahl eingesetzt
werden. Mittel der ersten Wahl ist Ursodeoxy-cholsäure. Sollte die Anwendung eines
Lipidsenkers zwingend indiziert sein, kann eine Therapie mit Colestyramin versucht
werden. Es ist dabei streng auf die ausreichende Zufuhr von fettlöslichen Vitaminen
zu achten, die zeitlich versetzt zum Medikament eingenommen werden müssen. Acipimox,
Colestipol, ß-Sito-sterin, Inositolnicotinat und Probucol sowie Ezetimib sollen in
der Schwangerschaft nicht verordnet werden. Eine dennoch erfolgte Applikation rechtfertigt
weder einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch noch eine invasive Diagnostik
(siehe Kapitel 1.15).
2.5.26
Appetitzügler, Abmagerungsmittel und Ernährungsstörungen
Pharmakologie und Toxikologie.
Amfepramon (synonym Diethylpropion; z.B. Regenon®), Norpseudoephedrin bzw. Cathin
(Antiadipositum X-112 T®) und Phenylpropanolamin (Recatol® mono) sind Sympathomi-metika
und gehören wie Sibutramin (Reductil®) zu den Appetitzüglern. Orlistat (Xenical®),
ein Lipasehemmer, ist ein Abmagerungsmittel. Als solche werden auch Füll- und Quellstoffe
zur Verminderung des Hungergefühls, wie lyophilisiertes Kollagen (Matricur Sättigungscomprimat®),
angeboten. Inzwischen gibt es auch einige Substanzen mit anderem Wirkprinzip. Dazu
gehören Oxyntomodulin, ein Dünndarmhormon, das Neuropeptid Melanocortin, das intranasal
appliziert werden muss, und das noch in Erprobung befindliche Rimonabant, das durch
eine Blockierung von Bindungsstellen für Endocannabinoide das Hungergefühl dämpfen
soll.
Clobenzorex, Fenfluramin, Fenproporex, Mefenorex, Phentermin und andere Anorektika
wurden europaweit, Dexfenfluramin auch weltweit wegen kardialer Nebenwirkungen vom
Markt genommen.
Bedenken gegen die Appetitzügler in der Schwangerschaft sind aufgrund experimenteller
Ergebnisse und im Zusammenhang mit Einzelfallberichten wiederholt geäußert worden.
Es wird auf ein den Amphet-aminen ähnliches perfusionsminderndes Potenzial hingewiesen,
das theoretisch zu Disruptionsfehlbildungen führen kann. Andere Autoren diskutieren
Störungen der Temperaturregulation oder die im Zuge der Gewichtsabnahme auftretende
azidotische oder ketotische Stoffwechsellage als Ursachen für embryotoxische Schäden,
wie z. B. Neuralrohr defekte (Robert 1992). Eine Studie des European Network of Teratology
Information Services (ENTIS) mit 168 vornehmlich Dexfenflur-amin exponierten Schwangerschaften
erbrachte keine Hinweise auf teratogene Eigenschaften der Appetitzügler (Vial 1992).
Publizierte Erfahrungen zu Sibutramin, das strukurell Amphetamin ähnelt und ein Wiederaufnahmehemmstoff
von Serotonin, Noradrena-lin und (in geringerem Maß) Dopamin ist, liegen nur in Form
von 10 bzw. 2 Fallberichten vor (Einarson 2004, Kardioglu 2004), aus denen sich kein
spezifisches Risiko ergibt. Wir überblicken zurzeit 26 im 1. Trimenon exponierte Schwangere:
Von 19 lebend geborenen Kindern hatten zwei Fehlbildungen, eines eine einseitige Nierenagenesie,
das andere einen Vorhofseptumdefekt.
Orlistat wird aus dem Gastrointestinaltrakt kaum resorbiert, so dass teratogene Effekte
unwahrscheinlich erscheinen.
Zahlreiche Publikationen beschäftigen sich mit dem Risiko für Schwangerschaftskomplikationen
einschließlich Fehlbildungen durch mütterliche Adipositas (Scialli 2006). Eine retrospektive
Fall-Kontroll-Untersuchung mit 277 Müttern fand ein mindestens 2fach erhöhtes Risiko
für Neuralrohrdefekte, insbesondere Spina bifida, unabhängig von perikonzeptioneller
Vitamin- bzw. Folsäureeinnahme (Shaw 2000 A). In einer prospektiven Studie mit 1.451
Kindern von adipösen Frauen (Body-Mass-Index (BMI) ≥30 kg/m2) wurde eine deutlich
erhöhte Fehlbildungsrate von 11,1% gefunden, vor allem Enzephalo-zele, Truncus arteriosus
communis und Potter-Sequenz traten überzufällig häufig auf (Wiesel 2001). Ein durch
Adipositas erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Fehlbildungen wird kontrovers diskutiert
(Correa Villasešor 2004). Bei Frauen mit Fertilitätsstörungen und einem BMI ≥ 25 kg/m2
wurden in einer retrospektiven Studie signifikant häufiger obstruktive renale Anomalien
bei den Kindern beobachtet (Honein 2003). Eine weitere Untersuchung beobachtete vermehrt
Lippen-Gaumen-Spalten bei einem BMI > 29 kg/m2 (Cedergren 2005). Zu diskutieren ist,
ob nicht eine Glukosetoleranzstörung bzw. ein unentdeckter Diabetes mellitus für die
erhöhten Fehlbildungsraten bei adipösen Schwangeren verantwortlich sind (siehe auch
Abschnitt 2.15.11).
Ähnliche Fehlbildungsrisiken beobachtete eine Fall-Kontroll-Untersuchung, die 538
Mütter mit einer unterdurchschnittlichen Gewichtszunahme in der Schwangerschaft von
<10 kg verglich. Das höchste Risiko hatten Frauen, die <5 kg zunahmen. Andere bekannte
Risikofaktoren, wie z.B. unzureichende Folsäureeinnahme, wurden in dieser Untersuchung
ausgeschlossen (Shaw 2000 B). Die Autoren bewerten einen ursächlichen Zusammenhang
jedoch sehr zurückhaltend.
Empfehlung für die Praxis:
Appetitzügler sind in der Schwangerschaft kontraindiziert. Die versehentliche Einnahme
rechtfertigt keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel 1.15).
Bei Abusus bzw. nach länger dauernder Einnahme während der Schwangerschaft sowie nach
erheblicher Gewichtsabnahme in der Frühschwangerschaft sollte durch Ultraschallfeinuntersuchung
die morphologische Entwicklung insbesondere des Neuralrohres kontrolliert werden.
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2.6.1
Penicilline
Pharmakologie und Toxikologie.
Penicilline hemmen die Zellwandsynthese von Bakterien und wirken bakterizid. Da vergleichbare
Stoffwechselschritte im Säugetierorganismus nicht vorkommen, weisen die Penicilline
und alle verwandten β-Lactam-Antibiotika in therapeutischer Dosierung praktisch keine
Toxizität für den Menschen auf.
Zu den Penicillinen zählen Amoxicillin (z.B. Amoxypen®), Ampicillin (z.B. Ampicillin
STADA®), Azidoclin (Infectobicillin H Tabletten), Azlocillin, Bacampicillin, Benzylpenicillin
(z.B. Penicillin G®), Cloxacillin, Dicloxacillin (InfectoStaph®), Flucloxacillin (z.B.
Sta-phylex®), Mezlocillin (Baypen®), Nafcillin, Oxacillin (InfectoStaph®), Panamecillin,
Phenoxymethylpenicillin (z.B. Penicillin V®, Isocillin) Piperacillin (z.B. Piperacillin
Fresenius®) und Propicillin (Baycillin®).
Penicilline gehen ungehindert auf den Fetus über und lassen sich in der Amnionflüssigkeit
nachweisen. Es gibt bei mehreren Tausend ausgewerteten Schwangerschaften keine Anzeichen
dafür, dass die Therapie mit Penicillinen embryo- oder fetotoxisch wirkt (Berkovitch
2004, Dencker 2002, Czeizel 2001 A, Czeizel 2000 A, Larsen 2000, Czeizel 1998 A).
Dies gilt auch für Kombinationen mit Clavulansäure (siehe 2.6.3). Bei Behandlung einer
Syphilis mit Penicillinen können im Rahmen einer Jarisch-Herxheimer-Reaktion neben
Fieber, Kopfschmerzen und Myalgien auch Uteruskontraktionen auftreten, die eine Beobachtung
des Fetus erfordern (Myles 1998). Im Übrigen stellt auch während der Schwangerschaft
eine Penicillinallergie (der Mutter) das einzige therapeutische Problem dar. Es sind
keine Unterschiede der einzelnen Penicillinderivate in Bezug auf ihre Verträglichkeit
in der Schwangerschaft bekannt. Da die Clearance von Penicillinen in der Schwangerschaft
erhöht ist, müssen ggf. Korrekturen von Dosis oder Dosisintervall vorgenommen werden
(Heikkilä 1994).
Empfehlung für die Praxis:
Penicilline gehören zu den Antibiotika der Wahl in der Schwangerschaft.
2.6.2
Cephalosporine
Pharmakologie und Toxikologie.
Cephalosporine gehören wie die Penicilline zu den β-Lactam-Antibiotika. Sie hemmen
die Zellwandsynthese und wirken bakterizid. Man unterscheidet Cephalosporine der ersten,
zweiten und dritten Generation.
Zu den Cephalosporinen der ersten Generation zählen Cefaclor (z.B. Ceclorbeta®, Panoral®),
Cefradin, Cefadroxil (z.B. Grüncef®), Ce-falexin (z.B. Cephalex-CT®), Cefalotin und
Cefazolin (z.B. Basocef®).
Zur zweiten Generation gehören Cefamandol, Cefmetazol, Cefoxi-tin (Mefoxitin®) und
Cefuroxim (z. B. Elobact®, Zinnat®).
Dritte Generation sind Cefdinir, Cefepim (Maxipime), Cefetamet, Cefixim (z.B. Cephoral®,
Suprax®), Cefmenoxim, Cefodizim, Cefope-razon, Cefotaxim (z.B. Claforan®), Cefotetan,
Cefotiam (Spizef®), Cefpirom, Cefpodoxim (z.B. Orelox®), Cefprozil, Cefsulodin, Ceftazi-dim
(Fortum), Ceftibuten (Keimax), Ceftizoxim, Ceftriaxon (z.B. Rocephin®) sowie Latamoxef
und Loracarbef (Lorafem®).
Da die Clearance von Cephalosporinen in der Schwangerschaft erhöht ist, müssen ggf.
Korrekturen von Dosis oder Dosisintervall vorgenommen werden (Heikkilä 1994). Cephalosporine
sind plazentagängig und in der Amnionflüssigkeit in bakteriziden Konzentrationen nachweisbar.
Im Zusammenhang mit Cephalosporinen der zweiten und dritten Generation, insbesondere
Cefotetan, wurden immunhämolytische Ereignisse bei den behandelten Patientinnen beobachtet
(Garratty 1999).
Nach bisherigen Beobachtungen, z.B. zu Cefuroxim im 1. Trimenon (Berkovitch 2000),
verursachen Cephalosporine in therapeutischer Dosis keine teratogenen Schäden (Czeizel
2001 B). Eine normale körperliche und mentale Entwicklung bis zum Alter von 18 Monaten
wurde bei Kindern bestätigt, deren Mütter während der Schwangerschaft mit Cefuroxim
behandelt worden waren (Manka 2000).
Empfehlung für die Praxis:
Cephalosporine gehören wie die Penicilline zu den Antibiotika der Wahl in der Schwangerschaft.
Man sollte länger eingeführten Cephalosporinen, wie z. B. Cefalexin und Cefuroxim
den Vorzug geben.
2.6.3
Andere β-Lactam-Antibiotika und β-Lactamase-Inhibitoren
Pharmakologie und Toxikologie.
Aztreonam (Azactam®), Imipenem (Zienam®) und Meropenem (Meronem®) sind synthetische
monozyklische β-Lactam-Antibiotika mit guter antimikrobieller Aktivität gegen gramnegative
Keime, insbesondere solche aus der Gruppe der Entero-bakterien. Ihre Stabilität gegenüber
bakteriellen β-Lactamasen entspricht der von Cephalosporinen der dritten Generation.
Das seit Jahrzehnten verfügbare Pivmecillinam ist besonders in Skandinavien bei Harnwegsinfekten
verbreitet und weist nur eine geringe Resistenzentwicklung auf.
Sulbactam (Combactam®) und Tazobactam sind β-Lactamase-Inhi-bitoren, die in Kombination
mit einem Antibiotikum wie Ampicillin oder einem Cephalosporin verabreicht werden
(fixe Kombinationen, z.B. Tazobac®, Unacid®).
Ferner werden Kombinationen von Clavulansäure plus Amoxicillin (Augmentan®) oder Ticarcillin
eingesetzt.
Da die Clearance von Lactam-Antibiotika und β-Lactamase-Inhibito-ren in der Schwangerschaft
erhöht ist, müssen ggf. Korrekturen von Dosis oder Dosisintervall vorgenommen werden
(Heikkilä 1994).
Soweit untersucht, passieren β-Lactam-Antibiotika oder β-Lacta-mase-Inhibitoren die
Plazenta und erreichen den Fetus in relevanten Mengen. Fehlbildungen oder andere unerwünschte
Effekte sind bisher weder im Tierversuch noch beim Menschen beobachtet worden (Lewis
2003, Czeizel 2001 A, Sigg 2000). Pivmecillinam hat bei weit über 2.000 Schwangeren,
über 500 davon im 1. Trimenon exponiert, weder eine erhöhte Fehlbildungsrate noch
andere Auffälligkeiten beim Neugeborenen gezeigt (Vinther Sriver 2004).
Empfehlung für die Praxis:
Aztreonam, Clavulansäure, Imipenem, Meropenem, Sulbactam und Tazobactam können eingesetzt
werden, wenn das Keimspektrum dies erfordert.
2.6.4
Erythromycin und andere Makrolidantibiotika
Pharmakologie.
Erythromycin (z.B. Erycinum®) und andere Makrolide hemmen die bakterielle Proteinsynthese
und wirken bakteriostatisch. Makrolide werden in erster Linie zur Therapie von Infektionen
mit grampositiven Keimen eingesetzt, wirken jedoch auch gegen Haemo-philus influenzae
und viele anaerobe Keime. Bei Patienten mit Penicillinallergie bieten sich Makrolide
als Alternative an.
Erythromycin ist das älteste Mittel dieser Gruppe. Im 3. Trimenon kann die Resorption
verzögert sein. Gastrointestinale Nebenwirkungen können dann auf subtherapeutische
Plasmakonzentrationen mit daraus resultierendem Therapieversagen hinweisen (Larsen
1998). Im Fetus werden nur 5–20% der mütterlichen Erythromycinkonzentration erreicht.
Daher ist Erythromycin bei einer Infektion des Fetus oder der Eihäute nicht zuverlässig
genug.
Die neueren Makrolidantibiotika Azithromycin (z.B. Zithromax®), Clarithromycin (z.B.
Klacid®), Dirithromycin, Josamycin (Wilprafen®), Midecamycin, Oleandomycin und Roxithromycin
(z.B. Rulid) haben ein weitgehend identisches Wirkungsspektrum wie Erythromycin, verursachen
z.T. aber weniger gastrointestinale Nebenwirkungen.
Spiramycin (Rovamycine®, Selectomycin®) wird bei Toxoplasmose im 1. Trimenon verwendet.
Toxikologie.
Weder zu Erythromycin (Czeizel 1999 A) noch zu Azithromycin, Clarithromycin (Einarson
1998, Schick 1996), Josamycin, Roxithromycin und Spiramycin (Übersicht bei Briggs
2005, Czeizel 2000
D) hat sich bisher ein ernsthafter Verdacht auf teratogene Eigenschaften beim Menschen
ergeben. Allerdings wurde kürzlich anhand der Daten des schwedischen medizinischen
Geburtsregisters für Erythro-mycin eine gegenüber Phenoxymethylpenicillin schwach
signifikant erhöhte Fehlbildungsrate bei 1.844 Kindern mit einer Exposition in der
Frühschwangerschaft beschrieben (Källén 2005). Dies beruhte auf einer etwas höheren
Zahl von Herzfehlbildungen (Odds Ratio 1,84, 95 % CI 1,29–2,62). Auch Pylorusstenosen
waren geringfügig häufiger. Der Zusammenhang einer postpartalen Erythromycinbehandlung
beim Kind in den ersten beiden Lebenswochen und einer Pylorusstenose wurde bereits
früher diskutiert (Mahon 2001). Andere Untersucher konnten den Verdacht einer teratogenen
Wirkung bisher nicht bestätigen (Malm 2005: Daten des finnischen medizinischen Geburtsregisters,
pers. Mitteilung, Cooper 2002, Louik 2002).
Speziell bei Clarithromycin war man zunächst vorsichtig, da es tierexperimentell teratogene
Wirkungen zeigte und z.B. in einigen Tests kardiovaskuläre Defekte bei Ratten verursachte
(Übersicht in Schardein 2000).
Es gibt mehrere Berichte über lebertoxische Veränderungen bei der Mutter (z.B. Lewis
1991), wenn in der zweiten Schwangerschaftshälfte mit Erythromycinestolat
(z.B. Infectomycin®) oder Troleandomycin behandelt wurde. In der zweiten Behandlungswoche
entwickelte sich bei den betroffenen Patientinnen ein cholestatischer Ikterus. Dieser
besserte sich nach Absetzen der Medikation binnen weniger Wochen ohne Folgeschäden
oder Zeichen fetaler Beeinträchtigung.
Keine Erfahrungen in der Schwangerschaft gibt es zu Telithromycin (Ketek®). Im Tierversuch
hat sich dieses dem Erythromycin strukturell verwandte Mittel als nicht teratogen
erwiesen, Verdachtsmeldungen beim Menschen liegen ebenfalls nicht vor.
Empfehlung für die Praxis:
Makrolide dürfen, wenn das Keimspektrum es erfordert oder eine Penicillinallergie
vorliegt, in der Schwangerschaft verwendet werden. Aufgrund seiner Hepatotoxizität
sollte jedoch das Erythromycinestolat im 2. und 3.Trimenon nicht gegeben werden. Spiramycin
ist Mittel der Wahl bei Toxoplasmose im 1. Trimenon.
2.6.5
Clindamycin und Lincomycin
Pharmakologie und Toxikologie.
Clindamycin (z.B. Sobelin®) und Lincomycin (Albiotic®) gehören ebenfalls zu den Makroliden.
Sie hemmen die bakterielle Proteinsynthese und haben ein ähnliches bakteriostati-sches
Wirkungsspektrum wie Erythromycin. Nach oraler Gabe ist die Resorption fast vollständig.
Im Nabelvenenblut werden 50 % der mütterlichen Plasmakonzentration erreicht. Es gibt
keine Hinweise auf embryo- oder fetotoxische Effekte bei mehreren Hundert Schwangeren
nach Behandlung mit Lincomycin zu verschiedenen Zeitpunkten (Czeizel 2000 E, Mickal
1975). Auch zu Clindamycin liegen keine entsprechenden Hinweise vor. Bedrohlich ist
die nach mehrwöchiger Behandlung bei 2–10% der Patientinnen auftretende pseudomembra-nöse
Colitis, die auch nach vaginaler Clindamycinanwendung beobachtet wurde (Trexler 1997).
Schwangerschaftskomplikationen infolge bakterieller Vaginosen lassen sich durch eine
vaginale Clindamycintherapie nicht ausreichend verhüten (Joesoef 1999). Andere Untersucher
fanden aber eine Reduktion von Spätaborten und Frühgeburten bei pathologischem vaginalem
Keimspektrum nach oraler Clindamycintherapie bei mehreren hundert Schwangeren (Ugwumadu
2003).
Empfehlung für die Praxis:
Clindamycin und Lincomycin sollten nur bei Versagen von Penicillinen, Cephalosporinen
und den o.g. Makroliden verwendet werden, z. B. bei Infektionen mit Bacteroides fragilis
und anderen Anaerobiern. Eine routinemäßige Clindamycinverordnung nach zahnärztlichen
Eingriffen ist nicht begründet. Clindamycin oder Lincomycin rechtfertigen weder einen
risikobegründeten Abbruch der Schwangerschaft noch zusätzliche Diagnostik (siehe Kapitel
1.15).
2.6.6
Tetracycline
Pharmakologie.
Tetracycline, wie z.B. Chlortetracyclin (Aureomycin® Salbe), Doxycyclin (z. B. Doxy-Wolff®,
Vibramycin®), Minocyclin (z.B. Klinomycin), Oxytetracyclin (z.B. Oxytetracyclin® Augensalbe)
und Tetracyclin (z.B. Achromycin®, Tetracyclin-Heyl®), hemmen die Proteinsynthese
von Bakterien und wirken bakteriostatisch. Diese Breitbandantibiotika, insbesondere
das Tetracyclin selbst, gehen mit Calci-umionen stabile Chelatbindungen ein.
Toxikologie.
Tetracycline gelangen über die Plazenta zum Fetus. Ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko
durch Tetracyclinanwendung ist nach heutiger Erkenntnis nicht zu erwarten (Czeizel
1997). Die in einer Fall-Kontroll-Studie beobachtete erhöhte Fehlbildungsrate nach
Oxytetracyclin (Czeizel 2000 B) ist bisher von anderen Untersuchern nicht bestätigt
worden.
In der fetalen Mineralisierungsphase ab dem fünften Schwangerschaftsmonat können sich
Tetracycline an Calciumionen in Zahnanlagen und Knochen anlagern. In den 50er Jahren
gehörten Tetracycline zu den gebräuchlichen Antibiotika, auch in der Spätschwangerschaft.
Damals erschienen zahlreiche Publikationen zur Gelbfärbung von Zähnen pränatal exponierter
Kinder, dem einzigen erwiesenen vorgeburt lichen Effekt beim Menschen. Erörtert wurden
außerdem Schmelzdefekte mit erhöhter Kariesanfälligkeit, Wachstumshemmung der langen
Röhrenknochen, insbesondere der Fibula (nur nach Langzeitbehandlung Frühgeborener),
ferner Katarakte durch Einlagerung in die Linse (Überblick bei Briggs 2005).
Eine Verfärbung der Milchzähne ist vor Schwangerschaftswoche 16 nicht zu erwarten,
zumindest nicht bei der heute üblichen Dosis und einer Behandlungsdauer von bis zu
14 Tagen. Auch danach sind unter üblichen Therapieschemata von den bleibenden Zähnen
allenfalls die ersten Molaren betroffen. Ein größeres Risiko für die beschriebenen
Entwicklungsstörungen ist eventuell bei höheren Tetracyclindosen im 2. und 3. Trimenon
zu erwarten, wie sie z.B. zur Malariabehandlung nötig sind.
Mehrfach wurde über schwere, sogar tödlich verlaufende tetracyclin-bedingte Leberschäden
bei der Mutter berichtet (z.B. Lewis 1991). Betroffen waren Frauen, die in der zweiten
Schwangerschaftshälfte Tetracyclin erhalten hatten. Dabei handelte es sich in den
meisten Fällen um Patientinnen mit Nierenerkrankungen, bei denen die Tagesdosis häufig
2 g überstieg und fast ausschließlich intravenös verabreicht wurde. Die mütterlichen
Serumkonzentrationen lagen dabei deutlich oberhalb des therapeutischen Bereiches.
Empfehlung für die Praxis:
Alle Tetracycline sind ab der Schwangerschaftswoche 16 kontraindiziert. Davor gelten
sie als Antibiotika der zweiten Wahl. Eine versehentliche Tetracyclintherapie nach
Schwangerschaftswoche 16 rechtfertigt keinen risikobegründeten Abbruch der Schwangerschaft
(siehe Kapitel 1.15), da schwere Defekte nicht zu erwarten sind. Zusätzliche pränataldiagnostische
Maßnahmen sind insbesondere bei Doxycyclin nicht notwendig.
2.6.7
Sulfonamide, Trimethoprim, Co-trimoxazol
Pharmakologie.
Sulfonamide gehören zu den ältesten Antiinfektiva. Als Monopräparate werden heute
beispielsweise noch Sulfadiazin (Sulfadi-azin-Heyl®) und Sulfalen angeboten. Sulfonamide
wirken bakteriosta-tisch. Sie erreichen im Fetus 50–90 % der mütterlichen Plasmakonzentration,
verdrängen Bilirubin aus der Bindung an Plasmaproteine und werden wie dieses von Enzymen
der Leber an Glucuronsäure gekoppelt.
Trimethoprim wird meist in Kombination mit dem Sulfonamid Sul-famethoxazol, als Co-trimoxazol
(z.B. Cotrim®, Eusaprim®) angeboten. Beide Kombinationspartner unterliegen keiner
schwangerschaftbedingten Clearance-Schwankung, die eine Dosisanpassung erfordern würde.
Trimethoprim soll bei Harnwegsinfekten in Monotherapie ebenso effektiv sein wie in
der Kombination mit dem Sulfonamid in Co-trimoxazol.
Auch Tetroxoprim, ein Folsäureantagonist wie Trimethoprim, wird in Kombination mit
einem Sulfonamid eingesetzt.
Sulfasalazin (z.B. Azulfidine®, Colo-Pleon®), eine Kombination aus dem Sulfonamid
Sulfapyridin und 5-Aminosalicylsäure, wird in der Schwangerschaft häufig verordnet.
Es ist ein lange bewährtes Mittel bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen, wie
z.B. Colitis ulce-rosa. Inzwischen wird jedoch meist nur der antiphlogistisch wirkende
Anteil 5-Aminosalicylsäure als Mesalazin (z.B. Pentasa®, Salofalk®) verwendet (siehe
Kapitel 2.5).
Sulfalen und Sulfadoxin werden in Kombination mit Pyrimethamin zur Prophylaxe und
Behandlung der Malaria eingesetzt. Früher wurden Harnwegsinfektionen mit Sulfamethizol
und Sulfafurazol behandelt. Sulfadicramid findet sich in Augenpräparaten.
Toxikologie.
Bisher gibt es keinen Anhalt dafür, dass Sulfonamide, Tri-methoprim und Kombinationspräparate,
die diese Substanzen enthalten, ein teratogenes Potenzial beim Menschen besitzen (Norgard
2001, Czeizel 1990). Ein embryotoxisches Potenzial ist immer wieder diskutiert worden,
weil Folsäureantagonisten im Tierversuch teratogen wirken können und sich beim Menschen
die Spontaninzidenz von Neural-rohrdefekten (Spina bifida) durch Gabe von Folsäure
während der Frühschwangerschaft senken lässt (siehe Abschnitt 2.18.6).
Die menschliche Folsäurereduktase ist sehr viel weniger empfindlich gegenüber Trimethoprim
als das bakterielle Enzym. Dies könnte erklären, dass teratogene Schäden durch folsäureantagonistische
Antibiotika beim Menschen bisher nicht nachgewiesen wurden. In einer neueren retrospektiven
Fall-Kontroll-Untersuchung wird jedoch wieder eine kausale Assoziation diskutiert
zwischen der Therapie mit Trimethoprim und anderen ebenfalls nicht onkologischen Folsäureantagonisten
wie Carbamazepin, Phenytoin, Phenobarbital, Primidon, Triamteren und Neuralrohrdefekten,
kardiovaskulären Fehlbildungen, Lippen-Gaumen-Spalten und Anomalien der Harnwege.
Die Autoren erörtern eine präventive Gabe von Multivitamin- und Folsäurepräparaten
(Hernandez-Diaz 2000). Tatsächlich hat sich der Vorschlag, Folsäure während einer
Antibiotikatherapie mit den hier besprochenen Mitteln zu verabreichen, bisher aber
nicht überzeugend begründen lassen.
Von den umfangreichen, eher beruhigenden Erfahrungen der Anwendung von Co-trimoxazol
bei banalen Harnwegsinfektionen in der Schwangerschaft kann nicht auf eine generelle
Sicherheit der Therapie mit einer vielfach höheren Dosis bei opportunistischen Infektionen
wie Pneumocystis-carinii-Pneumonie (PCP) im Rahmen einer HIVInfektion geschlossen
werden. Bisher wurde nach einer solchen Behandlung von Schwangeren nicht über ein
erhöhtes Fehlbildungsrisiko berichtet.
Zu Tetroxoprim liegen noch keine ausreichenden Erfahrungen vor.
Toxizität beim Neugeborenen.
Nach Sulfasalazintherapie einer Schwangeren mit 3 g täglich wurde bei dem Neugeborenen
eine passagere Neu-tropenie beobachtet. Immer wieder wird das Kernikterusrisiko des
Neugeborenen nach Sulfonamidtherapie am Ende der Schwangerschaft erörtert, weil ein
Anstieg des Bilirubins bei Frühgeborenen nicht auszuschließen ist, wenn bis zur Geburt
mit Sulfonamiden behandelt wurde. Bei der heute üblichen Überwachung ist die Gefahr
eines Kern-ikterus in einem solchen Fall nicht real.
Empfehlung für die Praxis:
Sulfonamide, Trimethoprim und Co-trimoxazol sind in der gesamten Schwangerschaft Antibiotika
der zweiten Wahl. Bei entsprechender Indikation, z.B. im Fall von Harnwegsinfektionen,
sprechen bisherige Erfahrungen nicht gegen eine Co-trimoxazolbehandlung auch im 1.
Trimenon. Im Fall der hoch dosierten Therapie einer Pneumocystis-carinii-Pneumonie
bei AIDS-Patientinnen im 1. Trimenon sollte aus theoretischen Erwägungen Folsäure
substituiert und eine Ultraschallfeinuntersuchung zur Bestätigung einer normalen Organentwicklung
angeboten werden. Bei drohender Frühgeburt sollten Sulfonamide mit Rücksicht auf die
Bilirubinkonzentration des Neugeborenen gemieden werden.
Tetroxoprim ist mangels dokumentierter Erfahrungen zu meiden. Eine Anwendung rechtfertigt
aber weder einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch noch invasive Diagnostik
(siehe Kapitel 1.15).
2.6.8
Gyrasehemmstoffe
Pharmakologie und Toxikologie.
Die so genannten Gyrasehemmstoffe sind 4-Chinolone, die in Bakterien das für deren
Nukleinsäurestoffwechsel wichtige Enzym Topoisomerase (eine so genannte Gyrase) hemmen.
Die Topoisomerase wird im menschlichen Organismus von den therapeutisch verwendeten
Gyrasehemmstoffen nicht beeinträchtigt.
Zu den neueren Gyrasehemmstoffen zählen Cinoxacin, Ciprofloxa-cin (z. B. Ciprobay®),
Enoxacin (Enoxor®), Fleroxacin, Grepafloxacin, Levofloxacin (z.B. Tavanic®), Lomefloxacin
(Okacin® Augentropfen), Moxifloxacin (Avalox®), Nadifloxacin (Nadixa® Creme), Norfloxacin
(z.B. BARAZAN®), Ofloxacin (z.B. Tarivid®), Pefloxacin, Rosoxacin und Sparfloxacin.
Um Resistenzbildungen zu vermeiden, sollte diese Wirkstoffgruppe nur bei Infektionen
mit Enterobakterien einschließlich Pseudomonas und anderen Keimen eingesetzt werden,
die mit den klassischen Antibiotika nicht zu behandeln sind. Tatsächlich wurden in
den vergangenen Jahren insbesondere Ciprofloxacin, Norfloxacin und Ofloxacin für banale
Harnwegs- und Atemwegsinfekte verordnet, auch zufällig bei schwangeren Frauen.
Eine Publikation des Europäischen Netzwerkes teratologischer Beratungszentren (ENTIS)
zu über 700 exponierten Schwangerenmehr heitlich wurden Norfloxacin, Ciprofloxacin,
Ofloxacin und Pefloxacin verwendeterbrachte keine Hinweise auf ein nennenswertes Fehlbildungsrisiko
(Schaefer 1996). Zum gleichen Ergebnis kamen auch drei andere Publikationen mit kleineren
Fallzahlen (Larsen 2001, Loebstein 1998, Berkovitch 1994). Lediglich in einem Fall
wurde eine neonatale Hepatitis mit inkompletter intrahepatischer Cholestase nach Ofloxa-cinbehandlung
der Mutter in Woche 15 beobachtet (Wiedenhöft 2000).
Die im Tierversuch bei jungen Hunden nach postnataler (!) Behandlung beobachteten
irreversiblen Gelenkknorpelschäden (Gough 1992) wurden bei präpartal exponierten Kindern
bisher nicht gesehen.
Pipemidsäure (Deblaston®) und Nalidixinsäure gehören zu den älteren Gyrasehemmstoffen.
Sie erreichen nur in den ableitenden Harnwegen wirksame Konzentrationen. Gegenüber
anderen Standardantibiotika haben sich diese Mittel jedoch nicht durchsetzen können.
Hinweise auf teratogene Effekte liegen nicht vor. Allerdings wurde in einer retrospektiven
Studie mit den Daten des ungarischen Fehlbildungsregisters ein möglicherweise zufälliger
Zusammenhang zwischen Pylorus-stenose und der Behandlung mit Nalidixinsäure in der
Spätschwangerschaft diskutiert. Das Fehlbildungsrisiko war insgesamt nicht erhöht
(Czeizel 2001 D). Eine weitere Publikation zu Nalidixinsäure berichtet über den Anstieg
des intrakraniellen Druckes beim Fetus (Übersicht bei Schardein 2000).
Empfehlung für die Praxis:
Gyrasehemmstoffe sind in der Schwangerschaft kontraindiziert. In wohl begründeten
Fällen (unkomplizierte Harnwegs- und Atemwegsinfektionen gehören nicht dazu!), in
denen besser erprobte Antibiotika nicht wirksam sind, sollten nur Gyrasehemmstoffe
eingesetzt werden, zu denen Erfahrungen an einer größeren Zahl von Schwangeren vorliegen,
z.B. Norfloxacin oder Ciprofloxacin. Die Einnahme eines Gyrasehemmstoffes rechtfertigt
weder einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch noch invasive Diagnostik (siehe
Kapitel 1.15). Nach Exposition mit einem der weniger gut untersuchten Mittel dieser
Gruppe im 1. Trimenon wird ein hoch auflösender Ultraschall empfohlen.
2.6.9
Nitrofurantoin und andere Harnwegstherapeutika
Pharmakologie und Toxikologie.
Nitrofurantoin (z.B. Furadantin®) ist ein erprobtes Harnwegsantiseptikum, das auf
eine Reihe grampositiver und gramnegativer Erreger bakterizid wirkt. Nach oraler Gabe
werden nur in den ableitenden Harnwegen therapeutisch wirksame Konzentrationen erreicht.
Nitrofurantoin hat sich bei unkomplizierten akuten Harnwegsinfekten und auch bei der
Dauertherapie und Prophylaxe chronischer Infektionen bewährt. Nitrofurantoin ist beim
Menschen offenbar nicht teratogen (Czeizel 2001 C, Ben-David 1994). Ein Neugeborenen
ikterus könnte bei Frühgeborenen durch eine Behandlung am Ende der Schwangerschaft
verstärkt werden. Im seltenen Fall eines angeborenen Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase-Mangels
könnte es dann theoretisch zur hämolytischen Anämie kommen. Fehlende klinische Beobachtungen
zu diesen Auswirkungen sprechen gegen ein reales Risiko.
Fosfomycin (z.B. Monuril®) wird verschiedentlich als Einmalgabe zur Behandlung einer
Harnwegsinfektion auch in der Schwangerschaft empfohlen (Stein 1998, Reeves 1992).
Weder liegen systematische Untersuchungen zur Verträglichkeit noch Hinweise auf embryotoxische
Effekte beim Menschen vor.
Methenamin (z.B. Urotractan®) ist ein Harnwegsantiseptikum, aus dem im Urin das antiseptisch
wirksame Formaldehyd freigesetzt wird. Methenaminmandelat wurde bei chronischen Harnwegsinfektionen
mit E. coli und unproblematischen Erregern eingesetzt. Wirksamkeit und Verträglichkeit
des Mittels sind umstritten. Embryotoxische Wirkungen wurden nicht beschrieben.
Zu Nitroxolin (z.B. Cysto-saar®) gibt es keine Erfahrungen in der Schwangerschaft.
Empfehlung für die Praxis:
Nitrofurantoin darf zur Dauertherapie rezidivieren-der Harnwegsinfektionen angewendet
werden, wenn für die Schwangerschaft primär empfohlene Antibiotika, wie Cephalosporine,
nicht indiziert sind. Am Ende der Schwangerschaft sollte die Möglichkeit einer Hyperbilirubinämie
insbesondere beim Frühgeborenen bedacht werden. Fosfomycin sollte Infektionen mit
Problemkeimen vorbehalten bleiben. Methenamin ist kontraindiziert, weil es besser
wirksame und verträglichere Mittel gibt. Eine versehentliche Gabe dieser Mittel rechtfertigt
aber weder einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch noch zusätzliche Diagnostik
(siehe Kapitel 1.15).
2.6.10
Nitroimidazolantibiotika
Pharmakologie und Toxikologie.
Metronidazol (z.B. Arilin®, Clont®) wird vorwiegend oral und lokal bei Trichomoniasis
und parenteral insbesondere bei verschiedenen Anaerobierinfektionen eingesetzt. Bei
drohender Frühgeburt durch bakterielle Vaginosen wird es von einigen Autoren empfohlen
(Joesoef 1999). Andere konnten keine Besserung der Frühgeburtsraten feststellen (Andrews
2003, Klebanoff 2001).
Metronidazol wirkt im Bakterienstoffwechsel als Elektronenakzeptor und führt zu Wachstumsstörungen
empfindlicher Keime. Der Wirkmechanismus wird über aktive Metaboliten erklärt, die
die DNA-Synthese beeinträchtigen. Metronidazol zeichnet sich durch eine große therapeutische
Breite aus. Nach oraler und intravenöser Gabe erreicht es im embryonalen Organismus
häufig höhere Konzentrationen als in der Mutter. Auch nach vaginaler Applikation gelangen
relevante Mengen zum Fetus.
Metronidazol besitzt ein experimentell ermitteltes mutagenes und kanzerogenes Potenzial
(Übersicht bei Dobias 1994). Es bestand deshalb die Befürchtung, es könne auch beim
Menschen mutagen oder kanzerogen wirken. Bisher ließen sich derartige Effekte nicht
bestätigen (Burtin 1995, Piper 1993). In einer retrospektiven Untersuchung wurde nach
vorgeburtlicher Metronidazol-Exposition eine statistisch nicht signifikante Assoziation
mit Neuroblastomen im Kindesalter beobachtet (Thapa 1998). Eine andere über mehr als
20 Jahre laufende Untersuchung ergab keinen Anhalt für ein erhöhtes Malignomrisiko
nach Metronidazol-Behandlung (Beard 1988).
Auf der Grundlage von über 3.000 analysierten Schwangerschaften besitzt Metronidazol
beim Menschen kein teratogenes Potenzial (Diav-Citrin 2001, Czeizel 1998 B, Caro-Paton
1997, Burtin 1995, Piper 1993). Hinweise aus dem ungarischen Fehlbildungsregister
auf einen Zusammenhang zwischen vaginaler Behandlung mit Metronidazol und Miconazol
im 2. und 3. Schwangerschaftsmonat und einem vermehrten Auftreten von Syndaktylien
und Hexadaktylien haben andere Untersucher bisher nicht beobachtet (Kazy 2005).
Die zur systemischen Behandlung von Trichomonaden, Amöben und bakterieller Vaginose
benutzten Mittel Nimorazol (Esclama®), Ornida-zol und Tinidazol (Simplotan®) sind
aufgrund der spärlichen Datenlage nicht ausreichend zu bewerten. Bisher liegen keine
Hinweise auf Teratogenität beim Menschen vor (Übersicht in Schardein 2000).
Empfehlung für die Praxis:
Metronidazol darf bei entsprechender Indikation auch in der Schwangerschaft angewendet
werden. Dies betrifft auch die systemische Therapie, zumal Zweifel an der Wirksamkeit
der vaginalen Applikation bestehen. Die parenterale Gabe ist nur bei bedrohlichen
Anaerobierinfektionen angezeigt. Metronidazol sollte bei der Behandlung Nimorazol
und Tinidazol vorgezogen werden. Eine Behandlung mit Nimorazol oder Tinidazol rechtfertigt
jedoch weder einen risikobegründeten Abbruch der Schwangerschaft noch invasive Diagnostik
(siehe Kapitel 1.15).
2.6.11
Aminoglykoside
Pharmakologie und Toxikologie.
Die Aminoglykosidantibiotika Amikacin (z.B. Biklin®), Framycetin (Leukase®), Gentamicin
(z.B. Refobacin®), Kanamycin (z.B. Kanamytrex®), Neomycin (z.B. Myacyne®), Netilmi-cin
(Certomycin®), Paromomycin (Humatin®), Spectinomycin (Sta-nilo®), Streptomycin (z.B.
Strepto-Fatol®) und Tobramycin (z.B. Gernebcin®) hemmen die Proteinsynthese gramnegativer
Keime und wirken bakterizid. Von oral verabreichten Aminoglykosiden werden nur minimale
Anteile resorbiert. Bei parenteraler Therapie sind im Fetus 20–40 % der mütterlichen
Plasmakonzentration nachweisbar.
Aminoglykoside wirken ototoxisch. Pränatale Streptomycin- oder Kanamycin-Injektionen
haben zu Gehörschäden bei den betroffenen Kindern geführt (Übersicht bei Schardein
2000). Die besonders sensible Phase dauert bis zum vierten Schwangerschaftsmonat.
Auch im Zusammenhang mit Gentamycin wurde ein solcher Fall beschrieben (Sanchez Sainz
Trapaga 1998).
Tierexperimentelle Ergebnisse sprechen außerdem für eine Nephro-toxizität der Aminoglykoside,
die sich in der fetalen Niere anreichern. Ein Fallbericht über eine konnatale Nierendysplasie
nach mütterlicher Therapie (Hulton 1995) beweist allerdings noch kein klinisch relevantes
Risiko beim Menschen, ebenso wenig der Fall einer letal verlaufenden Hydronephrose
bei Verdacht auf hochgradige Ureterabgangsste-nose nach Gentamycin-Therapie in Schwangerschaftswoche
4 bis 5 und vorangegangener Ciprofloxacin-Behandlung einer Harnwegsinfektion (Yaris
2004). In einer retrospektiven Studie mit Daten des ungarischen Fehlbildungsregisters
wurden keine Hinweise auf teratogene Effekte der Aminoglykoside gefunden. In dieser
Studie wurden 38 Schwangere ausgewertet, die mehrheitlich oral mit Neomycin oder parenteral
mit Gentamycin behandelt worden waren (Czeizel 2000 C).
Empfehlung für die Praxis:
Eine parenterale Aminoglykosid-Therapie darf nur bei vital bedrohlichen Infektionen
mit gramnegativen Problemkeimen und bei Versagen der für die Schwangerschaft primär
empfohlenen Antibiotika erfolgen. Die Serumkonzentration muss während der Therapie
regelmäßig kontrolliert werden. Eine Aminoglykosid-Behandlung rechtfertigt keinen
risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel 1.15). Je nach Umfang einer
parentera-len Therapie muss die Hörleistung des Kindes frühzeitig kontrolliert werden.
Da Aminoglykoside nach lokaler und oraler Applikation praktisch nicht resorbiert werden,
ist diese Form der Anwendung bei entsprechender Indikation während der gesamten Schwangerschaft
zulässig.
2.6.12
Chloramphenicol
Pharmakologie und Toxikologie.
Chloramphenicol (z. B. Paraxin®) ist ein bakteriostatisch wirkendes Antibiotikum,
das die bakterielle Proteinsynthese hemmt. Es wird nach oraler Gabe gut resorbiert.
Mit einer Häufigkeit von 1:40.000 kann eine Agranulozytose mit tödlichem Ausgang auftreten.
Chloramphenicol passiert die Plazenta gut und erreicht im Fetus wirksame Konzentrationen.
Bisher liegen keine fundierten Hinweise auf Fehlbildungen vor (Czeizel 2000 F). Eine
gefährliche Komplikation der Behandlung mit Chloramphenicol ist das Grey-Syndrom (Nah
rungsverweigerung, Erbrechen, aschgraue Hautfarbe, Atemstörungen und Kreislaufversagen),
das bei Neugeborenen tödlich verlaufen kann. Es ist auf den besonders bei Frühgeborenen
noch nicht ausreichend entwickelten Arzneimittelstoffwechsel zurückzuführen. Auch
wenn nicht der Säugling selbst, sondern seine Mutter behandelt wurde, kann Chlor-amphenicol
beim Neugeborenen toxische Konzentrationen erreichen. Thiamphenicol ist wie Chloramphenicol
zu bewerten.
Empfehlung für die Praxis:
Die systemische Behandlung mit Chloramphenicol und Thiamphenicol ist in der gesamten
Schwangerschaft kontraindiziert. Ausnahmen bilden vital bedrohliche Infektionen der
Mutter, die auf weniger toxische Antibiotika nicht ansprechen. Eine Behandlung rechtfertigt
jedoch keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel 1.15). Bei
unabweisbarer systemischer Behandlung vor Geburt muss auf toxische Symptome beim Neugeborenen
(Grey-Syndrom) geachtet werden.
2.6.13
Polypeptidantibiotika
Pharmakologie und Toxikologie.
Zu den Polypeptidantibiotika gehören Vancomycin (z. B. Vanco-cell®), Colistin (z.
B. Diarönt®), Polymyxin B (z.B. in Polyspectran® Salbe), Teicoplanin (Targocid®) und
das Lokal-therapeutikum Tyrothricin (Tyrosur).
Polypeptidantibiotika erhöhen die Permeabilität der Zytoplasma-membran sensibler Bakterien.
Sie wirken gegen grampositive Keime.
Vancomycin wird z.B. gegen multiresistente Staphylokokken eingesetzt. Es gibt nur
wenige Fallbeschreibungen zur Therapie in der Schwangerschaft. Dabei wurden weder
Fehlbildungen noch Nierenfunktionsstörungen oder Hörschäden bei den Neugeborenen beobachtet
(Reyes 1989). Ein Fallbericht beschreibt eine Patientin mit Blutdruckabfall nach intravenöser
Verabreichung unter der Geburt. Der Fetus entwickelte eine bedrohliche Bradykardie
(Hill 1985). Im Plazen-taperfusionsversuch wurden nur ein geringer Übergang und keine
Akkumulation vom Vancomycin ermittelt (Hnat 2004).
Colistin und Polymyxin B haben bisher keinen Anhalt für teratogene Eigenschaften beim
Menschen ergeben (Kazy 2005). Die Erfahrungen zu Teicoplanin reichen für eine Risikobewertung
nicht aus.
Empfehlung für die Praxis:
Vancomycin darf nur im Fall vital bedrohlicher, bakterieller Infektionen verwendet
werden. Auch Colistin, Polymyxin B und insbesondere das wenig erprobte Teicoplanin
sollen nur wenn zwingend erforderlich verordnet werden. Eine Anwendung dieser Substanzen
rechtfertigt weder einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch noch invasive Diagnostik
(siehe Kapitel 1.15).
2.6.14
Tuberkulostatische Behandlung in der Schwangerschaft
Eine aktive Tuberkulose (Tbc) muss auch in der Schwangerschaft behandelt werden, weil
die Erkrankung nicht nur die Mutter, sondern auch den Fetus gefährdet. Im Gegensatz
zu früheren Mutmaßungen verschlechtert eine Schwangerschaft den Verlauf einer Tbc
nicht (Davidson 1995).
Zu den gebräuchlichen Tuberkulostatika in der Schwangerschaft zählen Isoniazid (INH),
Rifampicin und Ethambutol sowie Pyrazin-amid als Reservemittel (American Thoracic
Society 2003). Diese Mittel haben sich bisher nicht als teratogen oder fetotoxisch
beim Menschen gezeigt (Bothamley 2001, Czeizel 2001 E). Selbst die Therapie einer
multiresistenten Erkrankung hat sich als gut verträglich für das Ungeborene erwiesen
(Shin 2003). Streptomycin sollte allerdings aufgrund seines ototoxischen Potenzials
möglichst gemieden werden. Bei Isoniazid ist Pyridoxin (Vitamin B6) zu ergänzen.
2.6.15
Isoniazid (INH)
Pharmakologie und Toxikologie.
Isoniazid (z. B. Isozid®) ist ein bewährtes bakterizid wirkendes Tuberkulostatikum,
das den Nikotinsäurestoffwechsel der Mykobakterien hemmt und möglicherweise auch den
Pyri-doxinstoffwechsel in Säugetierzellen beeinträchtigt. In älteren Publikationen
wurde ein Zusammenhang zwischen INH-Einnahme in verschiedenen Stadien der Schwangerschaft
und unterschiedlichen Fehlbildungen sowie neurologischen Störungen bei den pränatal
exponierten Kindern erörtert. Dabei wurde ein Pyridoxinmangel als Ursache diskutiert.
Durch gleichzeitige Verabreichung von Vitamin B6 an die Mutter (durch Kombinationspräparate
wie z.B. Tebesium®) wird ein Pyri-doxindefizit vermieden. Tierexperimentell wurde
außerdem eine trans-plazentare Karzinogenese beobachtet. Keine dieser Befürchtungen
hat sich beim Menschen bestätigt (Wong 2001).
Empfehlung für die Praxis:
Isoniazid gehört zu den Tuberkulostatika der Wahl in der Schwangerschaft. Es muss
in Kombination mit Vitamin B6 gegeben werden.
2.6.16
Rifampicin
Pharmakologie und Toxikologie.
Rifampicin (z. B. Eremfat®) hemmt eine Polymerase der Nukleinsäuresynthese, die nicht
nur im Bakterienstoff wechsel, sondern in ähnlicher Form auch im Säugetierorganismus
vorkommt. Im Tierexperiment wurden nach Verabreichung der 5- bis 10fachen humantherapeutischen
Dosis teratogene Effekte beobachtet. Beim Menschen besteht offenbar kein erhöhtes
Fehlbildungsrisiko (Übersicht in Briggs 2005). Eine Langzeittherapie der Mutter kann
allerdings eine Hemmung der Vitamin-K-Synthese mit erhöhter Blutungsneigung beim Neugeborenen
zur Folge haben.
Empfehlung für die Praxis:
Rifampicin gehört neben Isoniazid und Ethambutol zu den Tuberkulostatika der Wahl
in der Schwangerschaft. Zusätzlich zu den bei den Vorsorgeuntersuchungen üblichen
Dosen sollten Neugeborene in den ersten beiden Lebenswochen, Frühgeborene ggf. auch
länger, zur Verhütung hämorrha-gischer Komplikationen 2- bis 3-mal pro Woche oral
1 mg Vitamin K1 (Phytome-nadion) erhalten. Alternativ kann Vitamin K unmittelbar post
partum parenteral verabreicht werden. Eine ausschließlich präpartale Vitamin-K-Gabe
an die Mutter schützt das Kind nicht ausreichend.
2.6.17
Ethambutol
Pharmakologie und Toxikologie.
Ethambutol (z. B. Myambutol®) ist ein bakteriostatisch wirkendes Tuberkulostatikum,
das nur in Kombination mit anderen Tbc-Medikamenten eingesetzt wird. Es kann neurotoxisch
wirken und z.B. eine Entzündung der Sehnerven hervorrufen. Diese Symptome wurden bei
pränatal exponierten Kindern bisher ebenso wenig beobachtet wie ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko.
Allerdings ist der Umfang an dokumentierten Schwangerschaftsverläufen begrenzt (Übersicht
bei Briggs 2005).
Empfehlung für die Praxis:
Ethambutol kann in der Schwangerschaft zur Therapie der Tbc eingesetzt werden, wenn
zusätzlich zu Isoniazid und Rifampicin ein weiteres Tuberkulostatikum erforderlich
ist.
2.6.18
Pyrazinamid
Pharmakologie und Toxikologie.
Pyrazinamid (z.B. Pyrafat®) ist ein spezifisch gegen Mycobacterium tuberculosis wirkendes
Antibiotikum. Aufgrund seiner strukturellen Ähnlichkeit mit Nicotinamid wird angenommen,
dass es in den Nukleinsäurestoffwechsel der Bakterienzelle eingreift. Pyrazinamid
verfügt über gute bakterizide Eigenschaften. Es liegen keine systematischen Untersuchungen
zur Verträglichkeit in der Schwangerschaft vor. Bisher hat sich jedoch kein Anhalt
für embryo oder fetotoxische Effekte beim Menschen ergeben (Übersicht in Schardein
2000).
Empfehlung für die Praxis:
Pyrazinamid gehört zu den Reservemitteln gegen Tuberkulose in der Schwangerschaft.
2.6.19
Aminosalicylsäure
Pharmakologie und Toxikologie.
4-Aminosalicylsäure (Pas-Fatol N®) hemmt die Folsäuresynthese. Aufgrund häufiger Unverträglichkeit
wird dieses Tuberkulostatikum heute kaum noch eingesetzt. Es liegen keine systematischen
Untersuchungen zur Verträglichkeit in der Schwangerschaft vor. Bisher hat sich jedoch
kein Anhalt für spezifische embryo-oder fetotoxische Effekte beim Menschen ergeben
(Übersicht in Schardein 2000).
Empfehlung für die Praxis:
4-Aminosalicylsäure ist allenfalls als Reservemittel akzeptabel. Eine Behandlung im
1. Trimenon rechtfertigt weder einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch noch
invasive Diagnostik (siehe Kapitel 1.15).
2.6.20
Dapson
Pharmakologie und Toxikologie.
Wegen zunehmender Resistenzentwicklung der Mykobakterien ist damit zu rechnen, dass
das sulfonamidähn-liche Dapson (Dapson-Fatol®) in Zukunft vermehrt gegen Tuberkulose
eingesetzt wird. Aus der Behandlung anderer Erkrankungen, wie z. B. Lepra, ist bekannt,
dass dieses Medikament offenbar kein teratogenes Potenzial besitzt (Lush 2000, Bhargava
1996). Jedoch wurden Fälle von hämolytischer Anämie bei Müttern und Neugeborenen bekannt.
Der Umfang an dokumentierten Erfahrungen ist begrenzt und reicht für eine differenzierte
Risikobewertung nicht aus.
Empfehlung für die Praxis:
Dapson ist in der Schwangerschaft als Reserve-tuberkulostatikum akzeptabel.
2.6.21
Streptomycin
Pharmakologie und Toxikologie.
Streptomycin (z.B. Strepto Hefa®) ist ein Aminoglykosid, das auch beim Fetus ototoxisch
wirken kann (siehe 2.6.11 Aminoglykoside).
Empfehlung für die Praxis:
Streptomycin ist in der Schwangerschaft kontraindiziert. Eine dennoch erfolgte Behandlung
rechtfertigt weder einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch noch invasive Diagnostik
(siehe Kapitel 1.15). Nach einer (parenteralen) Therapie sollten beim Kind nach der
Geburt sicherheitshalber Hörschäden ausgeschlossen werden.
2.6.22
Weitere Antibiotika
Pharmakologie und Toxikologie.
Protionamid (z. B. ektebin®) und Terizi-don (Terizidon®) sind hinsichtlich ihrer Verträglichkeit
in der Schwangerschaft unzureichend untersucht.
Gleiches gilt für Rifabutin (z. B. Mycobutin®), das auch gegen opportunistische Infektionen
mit Mycobacterium avium bei HIV-Patienten eingesetzt wurde.
Zu dem bei Pneumocystis-carinii-Infektionen wirksamen Pentami-din (Pentacarinat®)
gibt es keine ausreichenden Erfahrungen, um das embryotoxische Potenzial beim Menschen
abzuschätzen. Eine Publikation beschreibt auf der Basis tierexperimenteller Ergebnisse
ein embryotoxisches Risikopotenzial für medizinisches Personal, das regelmäßig den
Aerosolen von inhalativ verabreichtem Pentamidin ausgesetzt ist (Ito 1994).
Auch zum Tigecyclin (Tygacil®), einem Glycylcyclin, dem eine Wirksamkeit gegen gramnegative
und -positive Keime, Anaerobier und gegen den Methicillin-resistenten Staphylococcus
aureus (MRSA) zugeschrieben wird, lassen sich aufgrund mangelnder Erfahrung keine
Aussagen zur Verträglichkeit in der Schwangerschaft machen.
Mupirocin (z.B. Turixin®), ein lokales Antibiotikum zur Elimination von Staphylokken
- einschließlich MRSA - in der Nasenschleimhaut, ist zwar nicht systematisch untersucht,
hat sich bisher aber auch nicht als bedenklich erwiesen.
Empfehlung für die Praxis:
Mupirocin darf in der Schwangerschaft angewendet werden. Die anderen hier genannten
Antibiotika sind Ausnahmesituationen vorbehalten, wenn ausreichend erprobte Antibiotika
nicht wirken. Im Fall einer Behandlung im 1. Trimenon sollte ein hoch auflösender
Ultraschall zur Bestätigung einer normalen fetalen Entwicklung empfohlen werden. Nicht
gerechtfertigt sind ein risikobegründeter Schwangerschaftsabbruch oder invasive Diagnostik
(siehe Kapitel 1.15).
2.6.23
Malariaprophylaxe und -therapie in der Schwangerschaft
Immer häufiger reisen auch Schwangere in tropische Länder und bitten um eine geeignete
Malariaprophylaxe. Die zunehmende Resistenz der Erreger macht eine generelle Empfehlung
unmöglich, je nach Reiseziel muss den tropenmedizinischen Empfehlungen auch in der
Schwangerschaft gefolgt werden. Besonders schwierig ist die Therapie der durch Plasmodium
falciparum verursachten Malaria tropica (Nathwani 1992). Prophylaxe und Behandlung
der Malaria dürfen nicht aus falscher Rücksicht auf eine bestehende Schwangerschaft
verkürzt oder unterlassen werden, da eine Malaria nicht nur die Mutter, sondern auch
den Fetus gefährdet. Insbesondere ist zu beachten, dass die Arzneimittelprophylaxe
je nach Malariamittel bis zu 4 Wochen (Cloroquin, Mef-loquin; Atovaquon plus Proguanil:
7 Tage) nach Verlassen des Malariagebietes eingehalten werden muss. Die allgemeinen
Nebenwirkungen der heute zur Prophylaxe eingesetzten Mittel unterscheiden sich (nach
einer Studie an 623 Reisenden) erheblich von denen älterer Substanzen. Insgesamt waren
die Kombination von Chloroquin und Proguanil sowie Mefloquin die am schlechtesten
tolerierten Regime. Insbesondere Frauen gaben häufig neuropsychologische Nebenwirkungen
bei Mefloquin an. Doxycyclin und Atovaquon plus Proguanil stellten sich als die am
besten verträglichen Substanzen heraus (Schlagenhauf 2003). Aufgrund der zunehmenden
Resistenzen werden bei der Malariatherapie zahlreiche Kombinationen eingesetzt, vor
allem mit Arte-misininderivaten.
Empfehlung für die Praxis:
Aufgrund des Umfangs an Erfahrungen ist Chloroquin Mittel der Wahl zur Malariaprophylaxe
in der Schwangerschaft ggf. in Kombination mit Proguanil. Falls, was zunehmend vorkommt,
von beiden Mitteln keine ausreichende Wirksamkeit zu erwarten ist, sind die anderen
Mittel je nach Resistenzlage anzuwenden. Generell muss der beratende Arzt mit der
Patientin erörtern, ob die Reise in tropische Regionen verschoben werden kann (siehe
auch Abschnitt 2.6.62).
2.6.24
Artemisininderivate
Pharmakologie und Toxikologie.
In einer Studie zu den Artemisininderiva-ten Artesunat und Artemether wurden 528 bzw.
11 dokumentierte Schwangerschaftsverläufe ausgewertet, bei denen eine akute Plasmodium
falciparum-Malaria behandelt wurde. Nur bei insgesamt 44 dieser Fälle fand die Therapie
im 1. Trimenon statt (McGready 2001). Diese und eine zweite Studie mit einmaliger
Gabe von Artesunat plus Pyri-methamin-Sulfadoxin bei 287 Schwangeren fanden keine
Hinweise auf Teratogenität. Beim Vergleich mit einer nicht exponierten Kontroll gruppe
in der zweiten Studie waren Spontanabortrate und Totgeburtenrate nicht signifikant
unterschiedlich. Bei 18 im 3. Trimenon Behandelten war das Geburtsgewicht der Kinder
signifikant höher als in der Kontrollgruppe und wurde als Erfolg der antiparasitären
Therapie interpretiert (Dean 2001). In einer weiteren Studie wurden 29 im 2. oder
3. Trimenon erkrankte Frauen mit Chinin behandelt und mit 28 Patientinnen verglichen,
die mit Artesunat plus Mefloquin behandelt wurden. Die zuletzt genannte Kombination
wurde besser vertragen, war effizienter und wurde für den Fetus daher als vorteilhafter
beurteilt. Fehlbildungen wurden in keiner der beiden Gruppen beobachtet, die körperliche
und neurologische Entwicklung der Kinder bis zum Alter von 12 Monaten wird als unauffällig
beschrieben (Buonyasong 2001). Unter 27 Kindern einer anderen Untersuchung, die im
2. und 3. Trimenon mit Artemisinin exponiert waren, fanden sich bei Nachuntersuchungen
bis ins Schulalter keine Auffälligkeiten (Phillips-Howard 1996).
Empfehlung für die Praxis:
Artemisininderivate dürfen bei entsprechender Resistenzlage in allen Phasen der Schwangerschaft
angewendet werden. Zur Bestätigung der normalen morphologischen Entwicklung nach Exposition
im 1. Trimenon sollte ein hoch auflösender Ultraschall angeboten werden.
2.6.25
Atovaquon
Pharmakologie und Toxikologie.
Da die Erreger der Malaria - vor allem Plasmodium falciparum (Malaria tropica) - im
Laufe der Jahre gegen die bekannten Mittel resistent wurden, wird zunehmend eine Kombinationstherapie
eingesetzt, z.B. mit Atovaquon und Proguanil (Mala-rone®).
Von 19 mit Atovaquon behandelten Schwangeren, davon 18 im 1. Trimenon, gebaren 16
ein gesundes Kind; ein Neugeborenes wies eine Hüftdysplasie auf und zwei Schwangerschaften
waren ohne Hinweise auf Pathologie abgebrochen worden (eigene Daten). Bei 26 weiteren
Schwangeren mit Malaria tropica (Plasmodium falciparum), die im 3. Trimenon Atovaquon
plus Proguanil erhalten hatten, fanden sich ebenfalls keine Auffälligkeiten (Na-Bangchang
2005). Diese Zahlen reichen für eine differenzierte Risikobewertung nicht aus, deuten
aber zunächst nicht auf ein erhebliches teratogenes Risiko.
Empfehlung für die Praxis:
Atovaquon ist Reservemittel für die Malariatherapie. Zur Bestätigung der normalen
morphologischen Entwicklung nach Exposition im 1. Trimenon sollte ein hoch auflösender
Ultraschall angeboten werden.
2.6.26
Chinin
Pharmakologie und Toxikologie.
Chinin (z.B. Chininum dihydrochlori-cum®) ist das älteste Malariamittel. Es hat eine
gute und rasche schizon-tozide Wirkung gegen die erythrozytären Formen aller Plasmodienar-ten.
Trotz relativ hoher Toxizität und geringer therapeutischer Breite wird es heute wieder
vermehrt bei der Behandlung der chloroquinresis-tenten Malaria eingesetzt. Im Fetus
erreicht Chinin ähnlich hohe, und damit potenziell toxische Konzentrationen wie bei
der Mutter. Nach Behandlung mit Chinin in der Schwangerschaft wurden früher in einzelnen
Berichten Augendefekte und Taubheit bei den Kindern beschrieben. Allerdings waren
dann meist deutlich höhere Dosen als heute üblich verabreicht worden. Insbesondere
in der Spätschwangerschaft wurden durch die Chininbehandlung schwere mütterliche Hypoglykämien
ausgelöst. Eine Weheninduktion ist bei hohen Dosen nicht auszuschließen. In geringer
und offenbar nicht embryotoxischer Dosis ist Chinin Bestandteil analgetischer Mischpräparate
(siehe Abschnitt 2.1.4).
Es gibt bisher keine Hinweise auf entwicklungstoxische Risiken durch die bei Malaria
üblichen Dosen von Chinin (McGready 2002, Phillips-Howard 1996). In einer weiteren
Veröffentlichung wurden 29 im 2. oder 3. Trimenon erkrankte Frauen mit Chinin behandelt
und mit 28 Patientinnen verglichen, die mit Artesunat plus Mefloquin behandelt wurden.
Die zuletzt genannte Kombination wurde besser vertragen, war effizienter und wurde
für den Fetus daher als vorteilhafter beurteilt. Fehlbildungen wurden in keiner der
beiden Gruppen beobachtet, die körperliche und neurologische Entwicklung der Kinder
bis zum Alter von 12 Monaten wird als unauffällig beschrieben (Buonyasong 2001).
Chininhaltige Getränke, wie z. B. Tonic Water, dürfen in Deutschland maximal 85 mg/l
enthalten. Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) warnte 2005 vor regelmäßigem
oder exzessivem Genuss in der Schwangerschaft. Über ein Neugeborenes mit vorübergehenden
Entzugserscheinungen wurde berichtet, dessen Mutter während der Schwangerschaft täglich
mehr als einen Liter Tonic Water getrunken hatte.
Empfehlung für die Praxis:
Chinin darf in der Schwangerschaft zur Therapie der chloroquinresistenten Malaria
tropica verwendet werden. In dieser Situation ist das potenzielle Behandlungsrisiko
für den Fetus weit geringer als die Gefährdung durch die schwere mütterliche Erkrankung.
Auf Hypoglykämien muss bei der Mutter geachtet werden. Auch wenn embryotoxische Wirkungen
von Chinin in analgetischen Mischpräparaten nicht zu erwarten sind, sollten derartige
Mittel gemieden werden, da sie keiner rationalen Therapie entsprechen. Gleiches gilt
für regelmäßigen oder exzessiven Konsum von chininhaltigen Getränken.
2.6.27
Chloroquin
Pharmakologie und Toxikologie.
Chloroquin (z.B. Resochin®, Weimer-quin®), ein Malariamittel aus der Gruppe der 4-Aminochinoline,
verfügt über eine gute und rasche schizontozide Wirkung gegen die erythrozytä-ren
Formen aller Plasmodienarten. In vielen Malariaendemiegebieten treten zunehmend Resistenzen
gegen dieses recht gut verträgliche, seit vielen Jahrzehnten gebräuchliche Medikament
auf. Diese Resistenzen betreffen überwiegend den Erreger der schwer und häufig auch
tödlich verlaufenden Malaria tropica (Plasmodium falciparum). Aber auch bei Plasmodium
vivax, dem Erreger der weniger schwer verlaufenden Malaria tertiana, wurden Resistenzen
gegen Chloroquin beobachtet.
In der für die Malariaprophylaxe üblichen Dosierung und bei der 3-tägigen Behandlung
des akuten Malariaanfalls wirkt Chloroquin weder embryo- noch fetotoxisch (Phillips-Howard
1996).
Zur Chloroquinbehandlung rheumatischer Erkrankungen siehe Abschnitt 2.12.7.
Empfehlung für die Praxis:
Chloroquin kann in allen Stadien der Schwangerschaft zur Infektionsprophylaxe und
zur Therapie der Malaria angewendet werden, sofern eine ausreichende Wirksamkeit anzunehmen
ist.
2.6.28
Halofantrin
Pharmakologie und Toxikologie.
Halofantrin (Halfan®) ist ein neueres Malariamittel. Es hat eine rasche schizontozide
Wirkung auf die eryth-rozytären Formen auch solcher Plasmodien, die gegen Chloroquin
und andere Malariamittel resistent sind. Halofantrin verlängert das QT-Intervall im
EKG. Bei Patienten mit kardialen Erkrankungen und anderen arrhythmogenen Medikamenten
kann es lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen provozieren. Der geringe Umfang an
Erfahrungen mit der Anwendung in der Schwangerschaft erlaubt keine differenzierte
Risikobewertung.
Empfehlung für die Praxis:
Halofantrin darf nur bei akut bedrohlicher Malaria tropica gegeben werden, die durch
besser erprobte und weniger toxische Mittel therapeutisch nicht zu beherrschen ist.
Es ist bei anderen Malariaformen als der Malaria tropica nicht indiziert. Bei Disposition
zu kardialen Störungen muss auf andere Malariamittel zurückgegriffen werden. Eine
Behandlung mit Halofantrin rechtfertigt keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch
(siehe Kapitel 1.15). Zur Bestätigung der normalen morphologischen Entwicklung nach
Exposition im 1.Trimenon kann ein hoch auflösender Ultraschall angeboten werden.
2.6.29
Mefloquin
Pharmakologie und Toxikologie.
Mefloquin (Lariam®) hat eine gute und rasche schizontozide Wirkung gegen die erythrozytären
Formen aller Plasmodienarten. Diese ist auch bei den meisten chloroquinresistenten
Erregern noch gewährleistet. Bisherige Erfahrungen mit über 2.000 Schwangeren deuten
nicht auf ein teratogenes oder fetotoxisches Potenzial beim Menschen hin (McGready
2000, Schlagenhauf 1999, Phillips-Howard 1998, Smoak 1997, Vanhauwere 1998, nichtpubli-zierte
Erfahrungen im European Network of Teratology Information Services ENTIS).
Allerdings fand man in einer vergleichenden Untersuchung an 200 an Malaria erkrankten
Schwangeren in Thailand nach Therapie mit Mefloquin eine vorsichtig zu bewertende
signifikant höhere Totgeburtenrate im Vergleich zu Chinin und anderen Malariamitteln
(Nosten 1999). In einer weiteren Studie wurden 28 im 2. oder 3. Trimenon erkrankte
Patientinnen mit Artesunat plus Mefloquin behandelt und mit 29 Frauen verglichen,
die Chinin als Therapie erhielten. Die Mefloquinkombina-tion wurde besser vertragen,
war effizienter und wurde für den Fetus daher als vorteilhafter beurteilt. Fehlbildungen
wurden in keiner der beiden Gruppen beobachtet, die körperliche und neurologische
Entwicklung der Kinder bis zum Alter von 12 Monaten war unauffällig (Buonyasong 2001).
Empfehlung für die Praxis:
Bei chloroquinresistenter Malaria tropica kann mit Mefloquin behandelt werden. Mefloquin
kann in allen Stadien der Schwangerschaft zur Infektionsprophylaxe eingesetzt werden,
sofern eine ausreichende Wirksamkeit anzunehmen ist und Resistenzen gegen Chloroquin
und Proguanil vorliegen.
2.6.30
Primaquin
Pharmakologie und Toxikologie.
Primaquin ist ein 8-Aminochinolinderi-vat, das gegen die extraerythozytären Formen
der Malariaplasmodien wirksam ist. Es wird zur vollständigen Erregerelimination im
Anschluss an die Suppressionstherapie mit Chloroquin eingesetzt, um Rückfällen bei
Malaria tertiana und Malaria quartana vorzubeugen.
Untersuchungen, die eine differenzierte Risikobewertung für die Schwangerschaft erlauben,
liegen bisher nicht vor. Es gibt aber auch keine substantiellen Hinweise auf ein teratogenes
Potenzial beim Menschen (Phillips-Howard 1996).
Empfehlung für die Praxis:
Primaquin gehört aufgrund unzureichender Erfahrungen nicht zu den Therapieoptionen
in der Schwangerschaft. Besser erprobte Mittel sollten bevorzugt werden. Eine dennoch
erfolgte Behandlung rechtfertigt weder einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch
noch invasive Diagnostik (siehe Kapitel 1.15).
2.6.31
Proguanil
Pharmakologie und Toxikologie.
Proguanil (z.B. Paludrine®), ein altes Medikament zur Malariaprophylaxe aus der Gruppe
der Folsäureanta-gonisten, hat durch das zunehmende Auftreten chloroquinresistenter
Erreger eine Renaissance in verschiedenen Kombinationen erlebt. Es gibt keinerlei
Anhalt für ein embryotoxisches Potenzial beim Menschen (Phillips-Howard 1996).
Empfehlung für die Praxis:
Proguanil darf in allen Stadien der Schwangerschaft gegeben werden.
2.6.32
Pyrimethamin/Sulfadoxin
Pharmakologie und Toxikologie.
Pyrimethamin (z. B. Daraprim®) ist ein Folsäuresynthesehemmstoff, der sich bei der
Malariaprophylaxe in der Schwangerschaft bewährt hat. Bei resistenten Malariaformen
wurden Schwangere erfolgreich mit einem Sulfonamidkombinationspräparat aus Pyrimethamin
plus Sulfadoxin (Fansidar®) behandelt. Als unerwünschte Wirkungen wurden bei dieser
Wirkstoffkombination bei den Patienten allerdings gelegentlich Hauterscheinungen,
wie Erythema exsudativum multiforme und Stevens-Johnson-Syndrom, beschrieben. Pyrimethamin,
in Kombination mit einem Langzeitsulfonamid, ist auch bei Toxoplasmose nach dem 1.
Trimenon Mittel der Wahl (Wallon 1999).
Wegen embryotoxischer Effekte im Tierversuch bestanden Vorbehalte gegen die Anwendung
dieses Folsäureantagonisten in der Frühschwangerschaft. Ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko
konnte beim Menschen bisher nicht erwiesen werden (Phillips-Howard 1996).
Empfehlung für die Praxis:
Pyrimethamin kann zur Malariaprophylaxe in der Schwangerschaft bei Chloroquin-/Proguanil-Resistenz
eingesetzt werden. Bei der Behandlung der akuten, chloroquinresistenten Malaria tropica
gibt es keine Einschränkungen, auch nicht für Kombinationen mit Sulfadoxin. Pyrimethamin
plus Langzeitsulfonamid sind Arzneimittel derWahl bei der Toxoplasmose, insbesondere
nach dem 1. Trimenon. Bei Gabe von Pyrimethamin in der Frühschwangerschaft bis Woche
8 sollte gleichzeitig 5 mg Folsäure pro Tag eingenommen werden.
2.6.33
Weitere Malariamedikamente
Pharmakologie und Toxikologie.
Bei Resistenz gegen herkömmliche Therapieoptionen haben sich z.B. Amodiaquin, Dapson,
Doxycyclin und die Kombinationen Chloroquin plus Pyrimethamin und Clindamycin plus
Chinin als wirksam erwiesen (Alecrim 2000; siehe auch in den jeweiligen Abschnitten
dieses Kapitels).
Amodiaquin ist dem Chloroquin verwandt. Aufgrund möglicher schwerer Nebenwirkungen,
wie Lebertoxizität und Agranulozytose, ist es nicht zur Prophylaxe geeignet und dient
als Reservemittel bei der Malariatherapie. Es gibt kaum Erfahrungen zur Anwendung
in der Schwangerschaft (Thomas 2004, Alecrim 2000). Das gilt auch für Lumefantrin,
das in Kombination mit Artemisininderivaten (Arteme-ther; in Riamet®) zum Einsatz
kommt.
Empfehlung für die Praxis:
Die hier besprochenen Malariamittel dienen als Reservemittel bei der Malariatherapie.
Doxycyclin sollte nach Schwangerschaftswoche 15 nicht mehr angewendet werden. Ein
risikobegründeter Schwangerschaftsabbruch ist nach Gabe dieser Mittel nicht erforderlich
(siehe Kapitel 1.15). Nach Anwendung unzureichend untersuchter Mittel im 1. Trimenon
sollte zur Bestätigung der normalen Entwicklung des Fetus ein hoch auflösender Ultraschall
angeboten werden.
2.6.34
Antimykotika allgemein
Bei der Therapie von Pilzinfektionen ist die lokale Therapie mit den länger gebräuchlichen
Substanzen auch in der Schwangerschaft als ungefährlich zu betrachten. Bei Mykosen
im Genitalbereich soll gleichzeitig der Partner behandelt werden. Ist eine systemische
Therapie erforderlich, muss sorgfältig ein Mittel aus dieser zumindest hypothetisch
riskanten Arzneimittelgruppe ausgesucht werden (Sobel 2000). In letzter Zeit ist es
„modern” geworden, harmlose Pilzbefunde im Stuhl wegen vermeintlich damit zusammenhängender,
unspezifischer Symptome zu behandeln. Dies sollte, vor allem in der Schwangerschaft,
unterbleiben.
2.6.35
Clotrimazol
Pharmakologie und Toxikologie.
Clotrimazol (z.B. Canesten®, Canifug®) ist ein Antimykotikum aus der Gruppe der Imidazolderivate.
Diese beeinträchtigen die Ergosterolbiosynthese und führen damit bei Pilzen zu Störungen
der Zellmembranpermeabilität. Clotrimazol wird prak tisch nicht resorbiert und nur
zur lokalen Therapie von Mykosen an Haut und Schleimhäuten verwendet. Es gibt umfangreiche
Untersuchungen zur Behandlung vaginaler Mykosen in der Schwangerschaft, aus denen
sich kein embryotoxisches Potenzial ableiten lässt (Czeizel 1999 B, King 1998). Eine
Verringerung der Frühgeburtenrate durch lokale Therapie von Vaginosen mit Clotrimazol
wurde ebenfalls beobachtet (Czeizel 1999 C).
Empfehlung für die Praxis:
Clotrimazol gehört nach Nystatin zu den Antimyko-tika der Wahl in der Schwangerschaft.
2.6.36
Nystatin
Pharmakologie und Toxikologie.
Nystatin (z. B. Candio-Hermal®, Moro-nal®) ist ein bei Candidainfektionen (Soor) von
Haut und Schleimhäuten wirksames Antimykotikum, das nicht resorbiert wird. Es wird
an Ergosterol in der Zellmembran von Pilzen gebunden und bewirkt dort eine Störung
der Zellmembranpermeabilität. Trotz breiter Anwendung wurden keine Hinweise auf embryo-
oder fetotoxische Wirkungen beobachtet (King 1998). In einer retrospektiven Studie
mit Daten des ungarischen Fehlbildungsregisters wurde kein Hinweis auf ein erhöhtes
Gesamtfehlbildungsrisiko gefunden. Bei Behandlung im 2. und 3. Monat ergab sich jedoch
ein geringfügig erhöhtes Risiko für Hypospa-dien. Aufgrund der geringen Fallzahl und
methodischer Probleme ist dieses Ergebnis jedoch sehr vorsichtig zu bewerten. Insgesamt
wurden 106 mit Nystatin behandelte Schwangere in dieser Studie ausgewertet (Czeizel
2003 A).
Empfehlung für die Praxis:
Nystatin kann ohne Einschränkung in der gesamten Schwangerschaft verabreicht werden.
Es ist das Mittel der Wahl zur Behandlung oberflächlicher Candidaaffektionen im Bereich
von Mund, Darm und Vagina.
2.6.37
Andere lokale „Conazol-Antimykotika
Pharmakologie und Toxikologie.
Bifonazol (z.B. BIFOMYK®), Crocona-zol (Pilzcin), Econazol (Epi-Pevaryl®), Fenticonazol
(z. B. Lomexin®), Isoconazol (z.B. in Travocort Creme), Ketoconazol (z.B. Terzolin®),
Miconazol (z.B. Daktar®), Omoconazol, Oxiconazol (Myfungar®), Sertaconazol (z. B.
Zalain) und Tioconazol (Mykontral®) sind Imida-zolderivate und in Struktur und Wirkung
dem Clotrimazol verwandt. Eine teratogene Wirkung dieser lokal anzuwendenden Antimykotika
hat sich für den Menschen bisher nicht ergeben (Czeizel 2004 B, Czeizel 2003 B, King
1998). Der Erprobungsgrad dieser Mittel ist aber geringer als der des Clotrimazols.
Hinweise aus dem ungarischen Fehlbildungsregister auf einen Zusammenhang zwischen
vaginaler Behandlung mit Miconazol plus Metronidazol im 2. und 3. Schwangerschaftsmonat
und einem vermehrten Auftreten von Syndaktylien und Hexa-daktylien wurden von anderen
Untersuchern bisher nicht bestätigt (Kazy 2005).
Empfehlung für die Praxis:
Bifonazol, Croconazol, Econazol, Fenticonazol, Iso-conazol, Ketoconazol, Miconazol,
Omoconazol, Oxiconazol, Sertaconazol und Tioconazol sindAntimykotika der zweiten Wahl
für eine lokale Therapie. Nystatin und Clotrimazol sind, wo immer möglich, vorzuziehen.
2.6.38
Weitere lokal wirksame Antimykotika
Pharmakologie und Toxikologie.
Amorolfin (Loceryl®), Ciclopirox (Batra-fen®), Naftifin (Exoderil®), Terbinafin (Lamisil®),
Tolciclat und Tol-naftat (z.B. Tinatox®) sind bezüglich ihrer pränatalen Toxizität
beim Menschen nur unzureichend untersucht. Substantielle Hinweise auf ein erhöhtes
Fehlbildungsrisiko nach lokaler Anwendung liegen bisher nicht vor (Sarkar 2003).
Empfehlung für die Praxis:
Eine äußerliche Behandlung mit Amorolfin, Ciclopirox, Naftifin, Terbinafin, Tolciclat
und Tolnaftat sollte in der Schwangerschaft möglichst vermieden werden. Eine dennoch
erfolgte Behandlung rechtfertigt weder einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch
noch invasive Diagnostik (siehe Kapitel 1.15). Nystatin und Clotrimazol sollen, wo
immer möglich, bevorzugt werden.
2.6.39
„Conazol-Antimykotika zur systemischen Anwendung
Pharmakologie und Toxikologie.
Itraconazol (z. B. Sempera®, Siros®) und Miconazol sind Imidazolderivate. Sie beeinträchtigen
die Ergosterol-biosynthese und führen zu Störungen der Zellmembranpermeabilität bei
Pilzen. Im Tierversuch passieren sie die fetoplazentare Schranke gut.
Fluconazol (z.B. Diflucan®) und Ketoconazol (Nizoral®) sind Tria-zolderivate, deren
Wirkung den strukturell verwandten Imidazolderiva-ten entspricht. Im Tierversuch wurden
nach Verabreichung sehr hoher Dosen teratogene Effekte beobachtet.
Es liegen Berichte über sechs Kinder mit multiplen Fehlbildungen an Schädel, Skelett
und Herz vor, deren Mütter wegen einer Meningitis parallel zu antiretroviralen Medikamenten
bei HIV-Infektion langfristig und hoch dosiert (400–800 mg/Tag) Fluconazol erhalten
hatten (Lopez Rangel 2005, Sanchez 1998, Aleck 1997, Pursley 1996, Lee 1992). Die
Symptome einiger dieser Kinder ähnelten dem so genannten Antley-Bix-ler-Syndrom. Kein
Anhalt für ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko fand sich hingegen in anderen prospektiven
Kohortenstudien und retrospektiven Untersuchungen mit über 600 Frauen, die in den
Monaten vor oder während einer Schwangerschaft meist wegen Vaginalmykose niedrig dosiert
(150 mg/Tag) mit Fluconazol behandelten wurden (Jick 1999, Sørensen 1999, Campomori
1997, Mastroiacovo 1996, Inman 1994).
Eine vom European Network of Teratology Information Services (ENTIS) durchgeführte
Prospektivstudie zu den neueren „Conazol-Antimykotika” ergab unter 191 Schwangeren,
die im 1. Trimenon durchschnittlich 8 Tage lang wegen Vaginal-, Haut- oder anderer
Mykosen mit Fluconazol systemisch behandelt worden waren, ebenfalls keine Hinweise
auf ein teratogenes Potenzial (Vial, pers. Kommunikation 2001).
Die zu Itraconazol vorliegenden Erfahrungen mit der systemischen Behandlung von Vaginal-,
Haut- oder anderen Mykosen im 1. Trimenon umfassen drei prospektive Kohortenstudien
mit 142, 182 und 198 Schwangeren (Paulus, pers. Mitteilung 2004, Vial, pers. Kommunikation
2001, Bar-Oz 2000), aus denen sich keine Hinweise auf Teratogenität ergeben. Das gilt
auch für eine kleinere Fallzahl aus einer Arzneimittelverordnungsstudie (Jick 1999).
Die durchschnittliche Behandlungsdauer in der ENTIS-Studie (Vial, pers. Kommunikation
2001) betrug 8 Tage.
Ketoconazol hemmt die Steroidsynthese und wird auch zur Behandlung des Cushing-Syndroms
eingesetzt. Da es außerdem der Bildung von Testosteron entgegenwirkt, könnte die Geschlechtsentwicklung
männlicher Feten gestört werden. Derartiges wurde außerdem bisher aber nicht beobachtet.
Zwei Schwangere mit Cushing-Behandlung im 2. und 3. Trimenon wurden von gesunden Kindern
(ein Junge und ein Mädchen) entbunden, die auch keine Nebennierenrindenanomalien aufwiesen
(Berwaerts 1999, Amado 1990). Die unter Fluconazol zitierte ENTIS-Studie umfasste
280 Frauen mit einer durchschnittlich 16 Tage dauernden systemischen Ketoconazol-Behandlung
im 1. Trimenon wegen Vaginal-, Haut- oder anderer Mykosen. Hinweise auf entwicklungstoxische
Wirkungen ergaben sich nicht (Vial, pers. Kommunikation 2001). In einer kleinen, nur
6 fehlgebildete Kinder umfassenden retrospektiven Studie mit Daten des ungarischen
Fehlbildungsregisters wurde kein Hinweis auf ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko nach
Behandlung mit Ketoconazol im 1. Trimenon gefunden (Kazy 2005).
Zu Miconazol liegen aus der o.g. ENTIS-Studie Angaben über 7 im 1. Trimenon behandelte
Schwangere vor, deren Kinder keine Fehlbildungen aufwiesen (Vial, pers. Kommunikation
2001).
Zu den Triazol-Antimykotika Posaconazol (Noxafil®) und Vorico-nazol (VFEND®), die
bei Aspergillosen und anderen schwerwiegenden invasiven Mykosen vor allem bei Patienten
mit Immundefizit eingesetzt werden, liegen keine Erfahrungen in der Schwangerschaft
vor.
Empfehlung für die Praxis:
Eine systemische antimykotische Therapie mit Flu-conazol, Itraconazol, Ketoconazol,
Miconazol, Posaconazol oder Voriconazol sollte nur bei zwingender Indikation und möglichst
nicht im 1. Trimenon erfolgen. Wurde während der Organogenese behandelt, rechtfertigt
dies keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel 1.15). In einem
solchen Fall sollte jedoch zur Bestätigung der normalen Entwicklung des Fetus ein
hoch auflösender Ultraschall angeboten werden.
2.6.40
Amphotericin B
Pharmakologie und Toxikologie.
Amphotericin B (z. B. Ampho-Moronal®) wird lokal und zur Therapie systemischer Pilzinfektionen
verwendet, z. B. bei generalisierter Candidamykose oder Cryptococcose. Es wird an
Ergosterol in der Zellmembran von Pilzen gebunden und führt zu Störungen der Zellwandpermeabilität.
Dieses Antimykotikum kann, wenn es parenteral als Infusion gegeben wird, Überempfindlichkeitsreaktionen,
Fieber und Nierenschäden verursachen.
Fallberichte beschreiben Aborte und pränatal dystrophe Frühgeborene. Jedoch darf der
mögliche Einfluss der zugrunde liegenden, z.T. schweren Infektionen nicht übersehen
werden. Auch über normale Schwangerschafts- und Geburtsverläufe wird berichtet. Hinweise
auf ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko liegen bisher nicht vor. Für eine differenzierte
Risikobewertung der parenteralen Applikation reichen die vorliegenden Fallzahlen nicht
aus (Ely 1998, Übersicht in Dean 1994). Die vereinzelt beobachteten vorübergehenden
Nierenfunktionsstörungen beim Neugeborenen könnten durch protrahierte Wirkung von
Arzneimitteldepots in der Plazenta und im Fetus erklärt werden (Dean 1994). Zur neueren
Liposomzubereitung des Amphotericin B liegt erst ein Bericht mit unauffälligem Ausgang
vor, in dem eine Schwangere im 2. Trimenon wegen viszeraler Leishmaniose behandelt
worden war (King 1998).
Empfehlung für die Praxis:
Amphotericin B darf in der Schwangerschaft nur bei bedrohlichen, generalisierten Mykosen
parenteral eingesetzt werden. Wurde während der Organogenese behandelt, rechtfertigt
dies keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel 1.15). In einem
solchen Fall sollte jedoch zur Bestätigung der normalen Entwicklung des Fetus ein
hoch auflösender Ultraschall angeboten werden. Die lokale Anwendung ist unbedenklich.
2.6.41
Flucytosin
Pharmakologie und Toxikologie.
Flucytosin (Ancotil®) hat eine gute Wirkung gegen Cryptococcus neoformans und viele
Candidaspezies. Es wird bei systemischen Infektionen mit diesen Erregern eingesetzt
und wirkt durch Hemmung der DNA-Synthese. In der Pilzzelle wird Flucytosin unter anderem
zu dem Zytostatikum 5-Fluorouracil metabolisiert. Diese Reaktion ist in geringerem
Ausmaβ auch im menschlichen Organismus zu erwarten. Im Tierversuch wirkt Flucytosin
in Dosen terato-gen, die niedriger sind als die humantherapeutisch üblichen. Fehlbildungen
wurden beim Menschen bisher nicht beschrieben, allerdings gibt es praktisch keine
publizierten Erfahrungen zur Verabreichung von Flucytosin im 1. Trimenon. Wenige Erfahrungen
zur Anwendung im 2. und 3. Trimenon bei bedrohlicher disseminierter Cryptococcose
erbrachten keine Hinweise auf fetale Störungen (Ely 1998).
Empfehlung für die Praxis:
Flucytosin darf während der gesamten Schwangerschaft nur bei bedrohlichen Pilzinfektionen
eingesetzt werden. Wurde während der Organogenese behandelt, rechtfertigt dies keinen
risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel 1.15). In einem solchen Fall
sollte jedoch zur Bestätigung der normalen Entwicklung des Fetus ein hoch auflösender
Ultraschall angeboten werden.
2.6.42
Griseofulvin
Pharmakologie und Toxikologie.
Griseofulvin (z.B. Gricin®, Likuden®) ist ein aus Penicillium griseofulvum gewonnenes,
systemisch wirkendes Antimykotikum, das bei Fadenpilzbefall von Haut, Haaren und Nägeln
oral über mehrere Monate eingenommen werden muss. Es lagert sich in Keratin ein und
ist damit besonders geeignet für die Therapie von Nagelmykosen. Im Tierversuch wirkt
es teratogen, in hohen Dosen außerdem kanzerogen. Obwohl in einer Untersuchung das
Auftreten von zwei siamesischen Zwillingspärchen nach Griseofulvineinnahme in der
Schwangerschaft beobachtet wurde, ist ein teratogener oder kanzerogener Effekt beim
Menschen bisher nicht erkennbar. Auch in einer neueren retrospektiven Studie mit 7
exponierten Schwangeren aus dem ungarischen Fehlbildungsregister wurde kein Hinweis
auf ein erhöhtes Fehlbidungsrisiko von Griseofulvin gefunden (Czeizel 2004 A).
Empfehlung für die Praxis:
Da die mit Griseofulvin zu behandelnden Mykosen nicht lebensbedrohlich sind, ist die
Therapie in der Schwangerschaft kontraindiziert. Wurde während der Organogenese behandelt,
rechtfertigt dies keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel
1.15). In einem solchen Fall sollte jedoch zur Bestätigung der normalen Entwicklung
des Fetus ein hoch auflösender Ultraschall angeboten werden.
2.6.43
Terbinafin
Pharmakologie und Toxikologie.
Terbinafin (Lamisil®) wird zur oralen Behandlung von Nagelmykosen eingesetzt. Dokumentierte
Erfahrungen mit etwa 80 behandelten Schwangeren, darunter auch zahlreiche im 1. Trimenon,
ergeben bisher keine Hinweise auf ein teratogenes Potenzial. Diese Daten reichen allerdings
nicht für eine differenzierte Risikobewertung aus (Sarkar 2003, Datenbank des Herstellers).
Empfehlung für die Praxis:
Da die Behandlung von Nagelmykosen keine hohe Dringlichkeit besitzt, ist Terbinafin
in der Schwangerschaft kontraindiziert. Wurde während der Organogenese behandelt,
rechtfertigt dies keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel
1.15). In einem solchen Fall sollte jedoch zur Bestätigung der normalen Entwicklung
des Fetus ein hoch auflösender Ultraschall angeboten werden.
2.6.44
Anthelmintika (Wurmmittel)
Die in der Schwangerschaft am besten erprobten Wurmmittel sind Pyr-viniumembonat,
Mebendazol und Niclosamid. Die meisten hier vorkommenden Wurmerkrankungen lassen sich
damit behandeln. Andere Anthelmintika lassen bisher auch kein teratogenes Risiko beim
Menschen erkennen, die Datenlage erlaubt jedoch noch keine differenzierte Risikobewertung.
2.6.45
Albendazol
Pharmakologie und Toxikologie.
Albendazol (Eskazole®) ist ein neueres, hochwirksames Breitspektrumanthelminthikum,
das strukturell dem Mebendazol verwandt ist. Es führt über eine Hemmung der Glukoseaufnahme
zum Absterben der Parasiten und ist in erster Linie zur Behandlung der alveolären
Echino kokkose (Echinococcus multilocu-laris) indiziert und außerdem bei fortgeschrittener
zystischer Echinokokkose (Echinococcus granulosus). Über Fehlbildungen wurde -unter
anderem in einer Studie mit 24 im 1. Trimenon exponierten Kindern - bisher nicht berichtet
(Reuvers 2001, Cowden 2000), ausreichende Erfahrungen liegen jedoch nicht vor. In
Endemiegebieten wurde eine vorteilhafte Wirkung auf mütterliche Anämie, Geburtsgewicht
und neonatale Sterblichkeit bei Verabreichung im 2. und 3. Trimenon beobachtet (Christian
2004).
Empfehlung für die Praxis:
Bei dringlich zu behandelnder Echinokokkose kann Albendazol während der gesamten Schwangerschaft
verabreicht werden. Für alle anderen Indikationen sind besser erprobte Anthelmintika
verfügbar. Wurde während der Organogenese behandelt, rechtfertigt dies keinen risikobegründeten
Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel 1.15). In einem solchen Fall sollte jedoch
zur Bestätigung der normalen Entwicklung des Fetus ein hoch auflösender Ultraschall
angeboten werden.
2.6.46
Mebendazol
Pharmakologie und Toxikologie.
Mebendazol (z. B. Vermox®) ist ein gut wirksames und verträgliches Anthelmintikum
gegen Nematodeninfek-tionen (Oxyuren, Askariden). Aus dem Gastrointestinaltrakt werden,
mit Ausnahme von Entzündungen der Darmwand, nur geringe Mengen resorbiert. Die Substanz
hemmt die Glukoseaufnahme der Parasiten und führt zu deren Absterben. Fallberichte
und vorwiegend retrospektive Studien mit mehreren Hundert exponierten Schwangeren,
darunter auch zahlreiche im 1. Trimenon behandelte, erlauben aufgrund methodischer
Mängel keine differenzierte Risikobewertung. Einige Kinder mit unterschiedlichen Fehlbildungen
wurden beschrieben, daraus lässt sich kein reproduzierbares Schädigungsmuster erkennen
(Übersicht in Schardein 2000). Ein nennenswertes embryotoxisches Risiko beim Menschen
ist nach zwei neueren Studien mit 64 und 400 im 1. Trimenon exponierten Schwangeren
nicht zu erkennen (Reuvers 2001, de Silva 1999). In einer weiteren Studie wurden 5
Kinder mit Fehlbildungen unter 150 ausgetragenen Schwangerschaften beobachtet. Art
und Zahl der Fehlbildungen weckten keinen Verdacht auf teratogene Effekte (Diav-Citrin
2003). Tierexperimentell hat Mebendazol bei der Maus teratogene Effekte erkennen lassen.
Flubendazol, dem Mebendazol strukturell ähnlich, zeigte bei 150 im 1. Trimenon exponierten
Kindern keine teratogenen Eigenschaften (Reuvers 2001).
Empfehlung für die Praxis:
Mebendazol darf bei behandlungspflichtigen Wurmerkrankungen in der Schwangerschaft
verabreicht werden. Allerdings soll die Indikation im 1. Trimenon kritisch geprüft
werden. Bei Oxyuren ist Pyrvinium (siehe unten) Mittel der Wahl in der Schwangerschaft.
Wurde während der Orga-nogenese behandelt, rechtfertigt dies keinen risikobegründeten
Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel 1.15). In einem solchen Fall sollte jedoch
zur Bestätigung der normalen Entwicklung des Fetus ein hoch auflösender Ultraschall
angeboten werden. Gleiches gilt für Flubendazol.
2.6.47
Niclosamid
Pharmakologie und Toxikologie.
Niclosamid (Yomesan®) ist ein gegen Bandwürmer wirksames Anthelmintikum, das den Energiestoffwechsel
der Würmer beeinträchtigt und im Magen-Darm-Trakt praktisch nicht resorbiert wird.
Dieses früher häufig verwendete Mittel steht nicht im Verdacht, Fehlbildungen zu verursachen,
wurde aber - bis auf eine Studie mit 39 im 1. Trimenon behandelten Schwangeren (Reuvers
2001) -nicht systematisch beim Menschen untersucht.
Empfehlung für die Praxis:
Niclosamid darf bei behandlungspflichtigen Bandwurmerkrankungen in der Schwangerschaft
verabreicht werden. Allerdings soll die Indikation im 1. Trimenon kritisch geprüft
werden.
2.6.48
Praziquantel
Pharmakologie und Toxikologie.
Praziquantel (z. B. Cesol®) ist ein hochwirksames Breitspektrumanthelmintikum gegen
viele Trematoden und gegen Cestoden. Hauptanwendungsgebiet sind die in Europa nur
bei Fernreisenden und Immigranten auftretenden Bilharziosen. Ein Fallbericht beschreibt
ein unauffälliges Kind nach Behandlung der Mutter von Woche 8–11 (Paparone 1996).
Vier im 1. Trimenon exponierte Kinder aus einer anderen Studie waren ebenfalls gesund
(Reuvers 2001). Die vorliegenden Erfahrungen reichen für eine differenzierte Risikobewertung
nicht aus.
Empfehlung für die Praxis:
Da es für alle in Europa anzutreffenden Wurmerkrankungen therapeutische Alternativen
gibt, ist Praziquantel „importierten” Wurmerkrankungen vorbehalten. Wurde während
der Organogenese behandelt, rechtfertigt dies keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch
(siehe Kapitel 1.15). In einem solchen Fall sollte jedoch zur Bestätigung der normalen
Entwicklung des Fetus ein hoch auflösender Ultraschall angeboten werden.
2.6.49
Pyrantel
Pharmakologie und Toxikologie.
Pyrantel (Helmex®) ist ein Breitspek-trumanthelmintikum, das durch Hemmung der Cholinesterase
zur spastischen Lähmung der Würmer führt. Etwa 15 % des Anthelminti-kums werden im
Darm resorbiert. Es liegen bisher keine verwertbaren Publikationen über die Behandlung
Schwangerer vor.
Empfehlung für die Praxis:
Pyrantel ist für die anthelmintische Behandlung in der Schwangerschaft relativ kontraindiziert.
Es gibt für alle Indikationen besser erprobte und damit als sicherer anzusehende Anthelmintika.
Wurde während der Organogenese behandelt, rechtfertigt dies keinen risikobegründeten
Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel 1.15). In einem solchen Fall sollte jedoch
zur Bestätigung der normalen Entwicklung des Fetus ein hoch auflösender Ultraschall
angeboten werden.
2.6.50
Pyrviniumembonat
Pharmakologie und Toxikologie.
Pyrviniumembonat (Molevac®, Pyrcon®) wirkt gegen Oxyuren und wird kaum resorbiert.
Embryo- oder fetotoxi-sche Effekte wurden nicht beobachtet. Allerdings liegen keine
systematischen Studien zur Anwendung in der Schwangerschaft vor.
Empfehlung für die Praxis:
Falls eine Oxyuriasis-(Madenwurm-)Behandlung erforderlich ist, darf Pyrviniumembonat
als Mittel der Wahl in der Schwangerschaft verordnet werden.
2.6.51
Ivermectin
Pharmakologie und Toxikologie.
Ivermectin zur Behandlung der Oncho-zerkose wird gut gastrointestinal resorbiert.
Tierexperimentelle Ergebnisse deuten nicht auf ein teratogenes Potenzial hin. Einige
Fallberichte zur versehentlichen Behandlung in der Frühschwangerschaft beschreiben
keine Auffälligkeiten (Chippaux 1993, Pacque 1990), erlauben jedoch keine differenzierte
Risikobetrachtung.
Empfehlung für die Praxis:
Ivermectin darf bei zwingender Indikation auch in der Schwangerschaft eingesetzt werden.
2.6.52
Aciclovir und andere Herpes-Virustatika
Pharmakologie und Toxikologie.
Aciclovir (z.B. Zovirax®) wirkt über eine Hemmung der viralen DNA-Polymerase bei Varizellen
sowie bei Her-pesviren Typ 1 und Typ 2. Bisherige Erfahrungen mit mehreren tausend
vom Hersteller gesammelten und in der Fachliteratur publizierten pros-pektiv oder
retrospektiv erfassten Verläufen, davon etwa die Hälfte im 1. Trimenon, lassen kein
embryo- oder fetotoxisches Risiko von Aciclovir bei systemischer Anwendung erkennen
(Stone 2004, Ratanajamit 2003). Dies gilt vorbehaltlich der methodischen Schwächen
von Schwangerschaftsregistern beim Arzneimittelhersteller. Nach äußerlicher Acicloviranwendung
werden nur geringe Substanzmengen resorbiert.
Zu Famciclovir (Famvir®), einem Prodrug des Penciclovir, liegen keine dokumentierten
Erfahrungen beim Menschen vor.
Ganciclovir (Cymeven®) ist tierexperimentell in Dosen embryotoxisch, die den therapeutischen
beim Menschen entsprechen. Einzelne Fallberichte beschreiben einen normalen Schwangerschaftsausgang
nach Therapie in der Frühschwangerschaft (Pescovitz 1999).
Eine Fallsammlung des Herstellers mit 56 mit Valaciclovir (Valtrex®) exponierten Schwangeren,
davon 14 im 1. Trimenon, und eine Fallserie mit zehn Frauen, die ab Woche 36 bis zur
Geburt behandelt wurden, zeigten keine Hinweise auf embryo- oder fetotoxische Schäden
(Glaxo Wellcome 1998, Kimberlin 1998).
Zusammenfassend sind Famciclovir, Ganciclovir sowie Valaciclovir und Valganciclovir
(Ester bzw. Prodrugs von Aciclovir und Ganciclovir) hinsichtlich ihrer Verträglichkeit
in der Schwangerschaft unzureichend untersucht.
Empfehlung für die Praxis:
Die äußerliche Anwendung von Aciclovir ist unproblematisch. Die systemische Gabe ist
nur dann indiziert, wenn beispielsweise bei disseminierter Herpes- oder Varizellenerkrankung
die Mutter gefährdet ist oder wenn davon auszugehen ist, dass der Fetus durch die
Therapie vor einer intrauterinen Infektion geschützt wird. Die anderen Virustatika
sind nur bei Infektionen indiziert, bei denen sie eine therapeutische Überlegenheit
gegenüber Aciclovir gezeigt haben. Eine Therapie im 1. Trimenon rechtfertigt weder
einen risikobegründeten Abbruch der Schwangerschaft noch invasive Diagnostik (siehe
Kapitel 1.15). Ein hoch auflösender Ultraschall istmit Ausnahme von Aciclovir - nach
Anwendung im 1. Trimenon zu empfehlen.
2.6.53
Amantadin
Pharmakologie und Toxikologie.
Amantadin (z.B. Amanta®) verstärkt die Dopaminaktivität am Rezeptor und wird deshalb
als Antiparkinsonmittel eingesetzt. Als Virustatikum wirkt es in erster Linie gegen
Influenza-A-Viren. Im Tierversuch ist Amantadin in hohen Dosen teratogen. Beim Menschen
wurden verschiedene Fehlbildungen nach Behandlung mit Amantadin beschrieben, die allerdings
kein typisches Muster erkennen lassen (Übersicht in Schardein 2000). Andererseits
erlauben die ebenfalls dokumentierten unauffälligen Verläufe keinen Ausschluss eines
teratogenen Risikos.
Empfehlung für die Praxis:
Amantadin ist in der Schwangerschaft kontraindiziert. Wurde während der Organogenese
behandelt, rechtfertigt dies keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch (siehe
Kapitel 1.15). In einem solchen Fall sollte jedoch zur Bestätigung der normalen Entwicklung
des Fetus ein hoch auflösender Ultraschall angeboten werden.
2.6.54
Ribavirin
Pharmakologie und Toxikologie.
Ribavirin (z. B. Rebetol®, Virazole®) hat experimentell ein breites antivirales Spektrum,
die klinische Relevanz ist jedoch begrenzt. Es wird u.a. bei RS-Viruserkrankungen
im Säuglingsalter und in Kombination mit α-Interferonen bei Hepatitis C eingesetzt.
Im Tierversuch ist Ribavirin bei mehreren Spezies teratogen und wirkt experimentell
mutagen. Die Kinder von 9 Schwangeren, die in der zweiten Schwangerschaftshälfte wegen
schwerer Masernverläufe behandelt worden waren, wiesen keine fetotoxischen Effekte
auf (Atmar 1992). Über weitere 5 Fälle mit einer Behandlung in der Spätschwangerschaft
und einen Fall mit prophylaktischer intramuskulärer Verabreichung von 3 Injektionen
im 1. Trimenon wegen SARS (Severe acute respiratory syndrome) wird berichtet (Rezvani
2006). Schäden bei den Kindern wurden nicht beobachtet. Das im 1. Trimenon exponierte
Kind entwickelte sich bis zum Alter von 8 Monaten unauffällig. Krankenhauspersonal
kann bei ganztägiger Arbeit mit Patienten, die mit Aerosol behandelt wurden, mehr
als 1 % der tierexperimentell embryotoxischen Dosis aufnehmen (Linn 1995). Die am
Arbeitsplatz aufgenommene Menge von Ribavirin liegt jedoch um den Faktor 1.000 unter
einer therapeutischen intramuskulären Dosis (zitiert in Rezvani 2006). Nach eigenen
Beobachtungen von 17 Schwangerschaften mit väterlicher Ribavirintherapie ergibt sich
kein Hinweis auf eine Schädigung des Ungeborenen. Für eine Risikobewertung in der
Schwangerschaft reichen die bisherigen Erfahrungen jedoch nicht aus. Ein erhebliches
entwicklungstoxisches Risiko lässt sich aus den bisher vorliegenden Fallberichten
nicht ableiten.
Empfehlung für die Praxis:
Ribavirin ist in der Schwangerschaft vitalen Indikationen vorbehalten. Wurde während
der Organogenese behandelt, rechtfertigt dies keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch
(siehe Kapitel 1.15). In einem solchen Fall sollte jedoch zur Bestätigung der normalen
Entwicklung des Fetus ein hoch auflösender Ultraschall angeboten werden. Schwangeres
Klinikpersonal sollte nicht regelmäßig zur Aerosoltherapie herangezogen werden.
2.6.55
Andere Virustatika
Pharmakologie und Toxikologie.
Adefovir (Hepsera®) und Entecavir werden zur Behandlung der chronischen Hepatitis
B verwendet, Brivudin (Zostex®) für schwere Infektionen durch Varicella-Zoster-Virus
oder Herpes simplex Typ 1. Cidofovir (VISTIDE®), Foscarnet (z.B. Fosca-vir®) und (zur
intravitrealen Applikation) Fomivirsen werden bei bedrohlichen Cytomegalieverläufen,
z.B. bei AIDS-Patienten, eingesetzt. Oseltamivir (Tamiflu®), Rimantadin und (zur Inhalation)
Zana-mivir (Relenza™) stehen für eine behandlungsbedürftige Influenza zur Verfügung.
Zu diesen Mitteln liegen keine ausreichenden Erfahrungen zur Anwendung in der Schwangerschaft
vor. Tierexperimentell haben sich u. a. Adefovir und Oseltamivir bisher nicht als
teratogen erwiesen, bei Foscarnet traten schon bei relativ niedrigen Dosen Skelettanomalien
bei Ratten und Kaninchen auf.
Empfehlung für die Praxis:
Die genannten Virustatika dürfen bei zwingender Indikation einer Schwangeren nicht
vorenthalten werden, d.h. wenn ein Therapieerfolg mit besser erprobten Mitteln nicht
erfolgsversprechend ist. Nach Anwendung im 1. Trimenon sollte ein hoch auflösender
Ultraschall empfohlen werden. Eine Behandlung mit den genannten Virustatika rechtfertigt
keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel 1.15).
2.6.56
HIV-Therapie und Prophylaxe in der Schwangerschaft
Das Ziel einer antiretroviralen Therapie (ART) in der Schwangerschaft ist einerseits
die Verhinderung der Mutter-Kind-Übertragung von HIV, andererseits die optimale Behandlung
der Schwangeren bei möglichst geringen unerwünschten Wirkungen der Medikamente auf
die Schwangere und das ungeborene Kind. Unumstritten ist der protektive Wert einer
perinatalen Prophylaxe mit dem nucleosidanalogen Reverse-Transkriptase-Inhibitor (NRTI)
Zidovudin zur Vermeidung der vorwiegend unter der Geburt möglichen Mutter-Kind-Übertragung
(vertikale Transmission) von HIV (Connor 1994). Bei Anwendung einer kombinierten Interventionsstrategie
mit Zidovudinprophylaxe in der Schwan gerschaft, während der Geburt und bei dem Neugeborenen
sowie bei Durchführung eines Kaiserschnitts am noch wehenfreien Uterus lässt sich
die Übertragungsrate von ehemals 20–30 % auf unter 2 % senken. Allerdings wird eine
Monotherapie mit Zidovudin für die Behandlung der mütterlichen HIV-Infektion als suboptimal
angesehen: Derzeit wird für nicht schwangere genauso wie für schwangere HIV-infizierte
erwachsene Patientinnen als Standardtherapie eine Kombination von mindestens drei
antiretroviral wirksamen Substanzen empfohlen (The EACS Euroguidelines Group 2003).
Diese hochaktive antiretrovirale Therapie (HAART) besteht in der Regel aus der Kombination
von zwei NRTI und entweder einem Proteaseninhibitor (PI) oder einem non-nuc-leosidanalogen
Reverse-Transkriptase-Inhibitor (NNRTI). Risiken, die sich aus der intrauterinen Exposition
gegenüber einer Kombination mit mehreren antiretroviralen Substanzen ergeben, lassen
sich aufgrund fehlender Daten zur Pharmakokinetik, zur Embryo- und Fetotoxizität derzeit
schlecht abschätzen. Daten zur Langzeittoxizität einer intrauterinen antiretroviralen
Medikamentenexposition liegen nicht vor. Informationen zur Sicherheit der HIV-Medikamente
in der Schwangerschaft beschränken sich auf Daten aus Tierversuchen, Einzelfallberichten,
klinischen Studien und Registern, wie z.B. der Antiretroviral Pregnancy Registry in
den USA, die über die meisten Informationen zur Sicherheit antiretroviraler Substanzen
in der Schwangerschaft verfügt.
2.6.57
Übersicht zu antiretroviralen Medikamenten
Man unterscheidet vier Gruppen von antiretroviralen Substanzen:
▪
Nukleosid-/-tidanaloge Reverse-Transkriptase-Inhibitoren (NRTI): Hierzu zählen Zidovudin
(Retrovir®), Lamivudin (Epivir®), Abaca-vir (Ziagen®), Didanosin/dd l (Videx®), Stavudin/d4T
(Zerit®), Emtricitabin (Emtriva®), Zalcitabin (HIVID®) und Tenovovir (Vire-ad®). Einige
Medikamente dieser Gruppe liegen auch als Kombinationspräparate vor: Zidovudin + Lamivudin
(Combivir®), A bacavir + Lamivudin (Kivexa®), Zidovudin + Lamivudin + Abacavir (Trizi-vir®),
Tenofovir + Emtricitabin (Truvada®)
▪
Nicht-nukleosidanaloge Transkriptase-Inhibitoren (NNRTI): Delavirdin (Rescriptor®),
Efavirenz (SUSTIVA®), Nevirapin (Vira-mune®)
▪
Proteaseninhibitoren:
Amprenavir (Agenerase®), Atazanavir (REYATAZ®), Fosamprena-vir (Telzir®), Indinavir
(CRIXIVAN®), Lopinavir/Ritonavir (Kale-tra®), Nelfinavir (VIRACEPT®), Ritonavir (Norvir®),
Saquinavir (INVIRASE®), Tipranavir (Aptivus®)
▪
Fusionsinhibitoren: Enfurvitid (Fuzeon®)
Zu den aufgeführten antiretroviralen Substanzen vorliegende Daten erlauben keine differenzierte
Risikobewertung. Mit Ausnahme von Efavi-renz finden sich bislang allerdings auch keine
ernsthaften Hinweise auf spezifische teratogene oder fetotoxische Schäden beim Menschen
(Watts 2004, European collaborative study 2003, Guay 1999, Silverman 1998): Prospektiv
dokumentierte Schwangerschaften lassen keine erhöhten Fehlbildungsraten erkennen und
zeigen wie die retrospektiv erhobenen Fallberichte keine typischen Fehlbildungsmuster.
Häufig sind jedoch hämatologische Nebenwirkungen - vor allem Anämien - bei Kindern,
die intrauterin oder nach der Geburt mit Zidovudin oder Kombinationen von antiretroviralen
Substanzen exponiert waren (Paul 2005, Silverman 1998, Sperling 1998). Eine kürzlich
publizierte Fallserie von 71 Kindern mit kombinierter antiretroviraler Therapie (CART)
beschreibt 4 Kinder mit Fehlbildungen, von denen 3, die mit Zidovudin, Lamivudin und
Nel-finavir exponiert waren, Hämangiome aufwiesen (4,2 %; De Santis 2004). Ob eine
antiretrovirale Therapie auch Frühgeburten begünstigt, wird kontrovers diskutiert
(Tuomala 2005, European collaborative study 2003). Zu mütterlichen Risiken einer Therapie
in der Schwangerschaft wird unter den einzelnen Substanzen hingewiesen.
Die medikamentöse HIV-Behandlung ist ein Beispiel dafür, dass ggf. unzureichend untersuchte
Medikamente aufgrund der vitalen Bedrohung von Mutter und Kind eingesetzt werden müssen.
Individuell ist kritisch zu prüfen, ob eine bereits laufende oder aus mütterlicher
Indikation notwendige Therapie auch während der Embryogenese (bis Woche 10) zwingend
erforderlich ist oder ob sie für diesen Zeitraum ausgesetzt werden kann.
Empfehlung für die Praxis:
Antiretrovirale Medikamente können bei Beachtung der speziellen Risiken zur Transmissionsprophylaxe
und zur Therapie der mütterlichen HIV-Infektion in der Schwangerschaft eingesetzt
werden. Die Wahl der Therapie sowie der Behandlungszeitraum muss individuell entschieden
werden. Bei der Auswahl der Medikamente ist zu beachten, dass es einige antiretrovirale
Substanzen gibt, die in der Schwangerschaft möglichst nicht eingesetzt werden sollen.
Dies sind Efavirenz (teratogene Hinweise), die Kombination von Stavudin/Didanosin
(Laktatazidosen), Zalcitabin und Delavirdin (unzureichende Erfahrungen beim Menschen
und Hinweise auf tierexperimentelle Teratogenität) sowie Nevirapin bei Frauen mit
CD4-Zellzahlen von >250/mm3 (Hepatotoxizi-tät). Wird Nevirapin in der Schwangerschaft
angewendet, sollten vor allem in den ersten 18 Wochen nach Therapiebeginn regelmäßig
Transaminasen kontrolliert und auf klinische Symptome geachtet werden. Die kurzfristigere
Anwendung von Nevirapin als Transmissionsprophylaxe nach dem derzeit gültigen Schema
birgt offenbar kein vergleichbares Risiko.
Nach einer Exposition im 1. Trimenon sollte ein hoch auflösender Ultraschall zur Bestätigung
einer normalen Entwicklung des Fetus angeboten werden. Empfehlenswert ist eine frühzeitige
Anbindung der Schwangeren an ein dafür spezialisiertes Zentrum. Betreuende Ärzte sollten
Schwangerschaften, in denen HIV-Medikamente eingesetzt werden, möglichst prospektiv
an das „Antiretroviral Pregnancy Registry” melden (
www.APRegistry.com
).
2.6.58
Nukleosid- und Nukleotidanaloge Reverse-Transkriptase-Inhibitoren (NRTI)
Daten aus klinischen Studien zur Sicherheit in der Schwangerschaft beim Menschen liegen
nur für Zidovudin, Lamivudin, Didanosin und Stavudin vor. Mit Ausnahme von Didanosin
fand man bei den NRTI vergleichbare Konzentrationen im mütterlichen Serum und im Nabelschnurblut
als Indiz für gute Plazentagängigkeit (Pacifici 2005).
Didanosin
Pharmakologie und Toxikologie.
In Tierversuchen fand sich auch bei Verabreichung hoher Dosen von Didanosin (Videx®)
kein Hinweis auf Teratogenität. Didanosin ist nur sehr eingeschränkt plazentagängig
(Wang 1999). Daten zum Übergang von Didanosin in die Muttermilch liegen beim Menschen
nicht vor. Bei 14 HIV-infizierten Schwangeren, die mit 26 bis 36 Schwangerschaftswochen
behandelt wurden, zeigten sich weder bei den Müttern noch bei den Neugeborenen nennenswerte
Unverträglichkeiten (Wang 1999). Tödliche Laktatazidosen wurden jedoch vereinzelt
bei schwangeren Frauen beschrieben, die eine Kombinationstherapie mit Stavudin und
Didanosin erhielten (Mandelbrot 2003, Sarner 2002). Aufgrund dessen wird davor gewarnt,
Schwangere mit dieser Kombination zu behandeln.
Lamivudin
Pharmakologie und Toxikologie.
Nach Zidovudin ist Lamivudin (Epivir®) die von allen NRTI am besten untersuchte Substanz.
Es ist auch zur Behandlung der chronischen Hepatitis B zugelassen. Die Daten aus dem
Antiretroviral Pregnancy Registry ergeben eine mit 3,0% unverdächtige Fehlbildungsrate.
Die im Nabelschnurblut gemessene Konzentration entspricht den mütterlichen Werten.
Eine größere Studie zur Transmissionsprophylaxe wurde in Frankreich mit 445 schwangeren
Frauen durchgeführt (Mandelbrot 2001). Hierbei erhielten die Frauen ab Schwangerschaftswoche
32 bis zur Geburt zusätzlich zum Zidovudin auch Lamivudin, die Neugeborenen wurden
für 6 Wochen kombiniert behandelt. Zwar senkte diese Thera pie erfolgreich die Infektionsrate,
es traten jedoch erhebliche Nebenwirkungen bei den Neugeborenen auf. Am häufigsten
waren ausgeprägte Anämien und Neutropenien. Zwei Kinder starben infolge von neurologischen
Komplikationen im Zusammenhang mit mitochondria-len Dysfunktionen.
Stavudin
Pharmakologie und Toxikologie.
Für Stavudin (Zerit®) liegen weder in Tierversuchen noch beim Menschen Hinweise für
teratogene Effekte vor. Die Rate an Fehlbildungen liegt nach den beim Antitretroviral
Pregnancy Registry gemeldeten Schwangerschaftsverläufen bei 2,2%, wenn im 1. Trimenon
der Schwangerschaft behandelt wurde. Wade (2004) berichtet über eine gute Verträglichkeit
der Medikamente bei 14 Mutter-Kind-Paaren. Vereinzelt wurden jedoch tödliche Laktatazido-sen
bei schwangeren Frauen beschrieben, die eine Kombinationstherapie mit Stavudin und
Didanosin erhielten (Mandelbrot 2003, Sarner 2002). Aufgrund dessen wird davor gewarnt,
Schwangere mit dieser Kombination zu behandeln.
Zidovudin
Pharmakologie und Toxikologie.
Zidovudin (Retrovir®), auch als Azido-thymidin (AZT) bezeichnet, ist das älteste zur
antiretroviralen Therapie (ART) eingesetzte Virustatikum. Es hemmt als nukleosidanaloger
Reverse-Transkriptase-Inhibitor (NRTI) kompetitiv die Vermehrung von HIV-1- und HIV-2-Viren.
Zidovudin ist gut plazentagängig, die nachgewiesene Metabolisie-rung in der Plazenta
erklärt möglicherweise den transmissionshemmenden Effekt der Substanz. Die bisher
vorliegenden Erfahrungen mit mehreren 1.000 dokumentierten Schwangerschaftsverläufen
sprechen gegen ein nennenswertes teratogenes Potenzial (Watts 2004, Mofenson 2000).
Nach den Daten des Antiretroviral Pregnancy Registry war die Fehlbildungsrate mit
2,8% nicht erhöht. Es wird diskutiert, ob Zidovu-din und andere NRTIs mitochondriale
Dysfunktionen verursachen können. Blanche und Mitarbeiter (1999) berichten über 8
nicht HIVinfizierte Kinder mit solchen Auffälligkeiten, die intrauterin und nach der
Geburt mit Zidovudin allein oder zusammen mit Lamivudin exponiert waren. Zwei der
Kinder starben noch im Säuglingsalter, 3 weitere wiesen eine neurologische Symptomatik
auf (Blanche 1999). Andere Kohortenstudien konnten diese medikamenteninduzierten Mitochon-driopathien
nicht bestätigen. Tierexperimentelle Befunde an Affen ergaben strukturelle und funktionelle
Störungen der Mitochondrienfunk-tion in Herz- und Skelettmuskelzellen der Jungtiere,
nachdem die Muttertiere beim Menschen übliche Zidovudindosen erhalten hatten. Ent
sprechende Herzanomalien konnten bei pränatal exponierten Kindern nicht nachgewiesen
werden. In einer prospektiven Studie fand sich bei mit Zidovudin exponierten Kindern,
die bis zum Alter von 5 Jahren echokardiographisch untersucht wurden, kein Hinweis
auf kardiale Toxizität (Lipshultz 2000). Die einzige wiederholt beobachtete Auffälligkeit
bei Neugeborenen nach intrauteriner Zidovudinexposition ist das Auftreten einer vorübergehenden
Anämie, die sich innerhalb der ersten 12 Lebenswochen normalisiert (Sperling 1998,
Connor 1994). In einer Nachsorgestudie von 234 Kindern des Pediatric AIDS Clinical
Trials Group Protocol 076 (PACTG 076) zeigten Kinder mit einer intra-uterinen Zidovudinexposition
keine Auffälligkeiten ihrer körperlichen, immunologischen und kognitiven Parameter
bis zum 6. Lebensjahr (Curlane 1999). Es fanden sich auch keine Hinweise auf Tumorbildung
bei über 700 prä- und perinatal exponierten Kindern (Curlane 1999, Hanson 1999). Daten
zur Langzeitverträglichkeit liegen allerdings derzeit noch nicht vor.
2.6.59
Non-nukleosidanaloge Reverse-Transkriptase-Inhibitoren (NNRTI)
Daten aus klinischen Studien zur Sicherheit in der Schwangerschaft beim Menschen liegen
nur für Efavirenz und Nevirapin vor.
Efavirenz
Pharmakologie und Toxikologie.
Tierexperimentell haben sich bei Efavirenz (SUSTIVA®) Hinweise auf Teratogenität ergeben.
Bei 20 pränatal exponierten Affen, deren Plasmakonzentrationen den therapeutischen
Konzentrationen beim Menschen entsprachen, wiesen drei Jungtiere unterschiedliche
Fehlbildungen auf: (1) Anenzephalie mit unilateraler Anophthalmie, (2) Mikrophthalmie
und (3) Gaumenspalte. Auch beim Menschen liegen Einzelberichte über ZNS-Fehlbildungen
bei Kindern vor, deren Mütter im 1. Trimenon Efavirenz erhalten hatten (De Santis
2002, Fundaro 2002). Bei den der Antiretroviral Pregnancy Registry gemeldeten 4 Fällen
handelte es sich u.a. um Neuralrohrdefekte und ein Kind mit einer Dandy-Walker-Fehlbildung.
Nevirapin
Pharmakologie und Toxikologie.
Nevirapin (Viramune®) ist gut plazentagängig und erreicht bei den Neugeborenen Medikamentenspiegel,
die etwa denen der Mutter entsprechen. Im Tierversuch (Ratten und Kaninchen) finden
sich keine Hinweise auf teratogene Effekte. Nach den Daten des Antiretroviral Pregnancy
Registry zeigt sich mit 2% kein erhöhtes Fehlbildungsrisiko nach Exposition im 1.
Trimenon. In einer Studie zur Transmissionsprophylaxe in Uganda (Guay 1999) konnte
gezeigt werden, dass Nevirapin in einem einfachen Regime (einmalige Gabe von 200 mg
p. o. für die Schwangere bei Wehenbeginn und die Einmalgabe von 2 mg/kg für das Neugeborene
im Alter von 48 bis 72 Stunden) einen guten transmissionshemmenden Effekt aufweist.
Die Einmalgabe von Nevirapin kann bei der Schwangeren jedoch die Selektion nevirapinresistenter
Viren begünstigen und damit künftige Behandlungsmöglichkeiten der HIV-infizierten
Frauen erschweren. Bei schwangeren Frauen wurden im Zusammenhang mit Nevirapin einzelne
Fälle von schweren Hautausschlägen und Lebertoxizität berichtet (Knudtson 2003). Diese
scheinen vor allem Patientinnen mit höheren CD4-Zellzahlen (> 250/mm3) zu betreffen.
Bei ihnen ist das Risiko für symptomatische hepatische Ereignisse im Vergleich zu
Frauen mit niedrigeren CD4-Zellzahlen (< 250/mm3) 12fach erhöht. Inwieweit eine Schwangerschaft
die hepatotoxische Wirkung des Nevirapins bei hohen Zellzahlen begünstigt, ist unzureichend
untersucht.
2.6.60
Proteaseninhibitoren und Fusionsinhibitoren
Die Daten zu Proteaseninhibitoren in der Schwangerschaft sind mit Ausnahme von Nelfinavir
spärlich und erlauben keine differenzierte Risikobewertung. In-vivo- und In-vitro-Untersuchungen
haben übereinstimmend ergeben, dass Proteaseninhibitoren offensichtlich aufgrund ihrer
großen Molekularmasse die Plazenta kaum überschreiten (Pacifici 2005).
Aufgrund der eingeschränkten Plazentagängigkeit der meisten Proteaseninhibitoren,
sind nur geringe Konzentrationen beim Fetus zu erwarten. Zu dem Fusionshemmer Enfurvitid
(Fuzeon®) gibt es keine Erfahrungen in der Schwangerschaft.
Nelfinavir
Pharmakologie und Toxikologie.
Nelfinavir (VIRACEPT®) hat in Tierversuchen keine Hinweise auf Teratogenität erbracht.
Nach den Daten des Antiretroviral Pregnancy Registry ist die Fehlbildungsrate nach
Exposition im 1. Trimenon mit 2,9% nicht erhöht. Bei einer Auswertung von 915 Lebendgeborenen,
davon waren 301 im 1. Trimenon exponiert, beobachtete man 9 Fehlbildungen, die keine
Hinweise auf ein spezielles Muster bzw. keinen Anhalt für Teratogenität ergaben (Covington
2004). In einer Studie mit 38 HIV-infizierten Schwangeren konnte als Indiz für die
geringe Plazentagängigkeit bei den meisten Neugeborenen kein Nelfinavir im Nabelschnurblut
nachgewiesen werden (Mirochnick 2002).
2.6.61
Hyperthermie
Tierexperimentell wurde schon vor über 30 Jahren gezeigt, dass eine Erhöhung der Körpertemperatur
Fehlbildungen verursachen kann (Graham 2005, Edwards 1995). Auch beim Menschen wurde
dies immer wieder erörtert. Es gibt Hinweise darauf, dass verschiedene Anomalien,
wie z.B. Neuralrohrdefekte (Suarez 2004, Shaw 1998), aber auch Nieren-, Herz- und
Bauchwandfehlbildungen (Abe 2003, Chambers 1998) nach fieberhaften Infekten in der
Frühschwangerschaft häufiger auftreten. Moretti und Mitarbeiter (2005) haben in einer
MetaAnalyse zum Risiko von Neuralrohrdefekten nach Hyperthermie insgesamt 15 Studien
mit 1.719 Fällen ausgewertet und sowohl in den 9 einbezogenen Fall-Kontroll-Studien
als auch in 6 Kohorten-Studien signifikante Assoziationen mit einem Odds Ratio von
etwa 1,9 ermittelt. Abe und Mitarbeiter (2003) haben in einer retrospektiven Studie
mit wenigen Dutzend betroffenen Schwangeren schwache Signifikanzen sowohl für Fieber
als auch generell für Infekte im 1. Trimenon ermittelt. Chambers und Mitarbeiter (1998)
verglichen in einer prospektiven Untersuchung den Schwangerschaftsverlauf von 115
Frauen mit hohem Fieber mit 147 Schwangeren, die Episoden mit leichtem Fieber hatten
und mit 298 ohne Fieber. Hohes Fieber wurde definiert als mindestens 38,9 °C für mindestens
24 Stunden, leichtes Fieber als unter 38,9°C oder weniger als 24 Stunden andauernd.
Rund 80 % der Fieberepisoden ereigneten sich im 1. Trimenon. Diese Untersuchung hat
jedoch kein statistisch signifikantes Risiko für Fehlbildungen insgesamt nach Fieberepisoden
im 1. Trimenon oder später ermittelt.
Diskutiert wird u.a., dass hohe Körpertemperaturen vaskuläre Störungen verursachen
können, so dass die sich entwickelnden Organe vorübergehend nicht ausreichend durchblutet
werden (Graham 1998). Suarez und Mitarbeiter (2004) haben in ihrer retrospektiven
Studie, die 184 von Neuralrohrdefekten betroffene Familien sowie gesunde Kontrollen
einschließt, ein geringeres Risiko bei Einnahme fiebersenkender Medikamente beobachtet.
Es fanden sich auch schwache Signifikanzen bei anderen potenziell zur Überwärmung
führenden Faktoren, wie z.B. Heizdecken, Sauna und Kochen in überwärmter Küche während
des 1. Trimenons.
Andere Untersuchungen belegen kein erhöhtes Risiko durch Saunen, obwohl schon nach
10–20 Minuten die Körpertemperatur auf über 38,5 °C steigen kann. In Finnland, wo
dieser Frage nachgegangen wurde, ist häufiges Saunen auch während der Schwangerschaft
üblich. Auch der Gebrauch elektrischer Heizdecken und geheizter Wasserbetten hat bei
anderen Untersuchern kein signifikant erhöhtes Fehlbildungsrisiko erkennen lassen.
Eine weitere Studie hat bei Kindern im Alter von 5 und 12 Jahren häufiger Defizite
im emotionalen und kognitiven Bereich beobachtet, wenn im 2. oder 3. Trimenon Fieber
berichtet wurde (Dombrowski 2003).
Zusammenfassend ist von einem gering erhöhten Fehlbildungsrisiko bei hochfieberhaften
Erkrankungen insbesondere in den ersten vier Wochen nach Konzeption auszugehen.
Empfehlung für die Praxis:
Bei hochfieberhaften Infekten insbesondere in der Frühschwangerschaft soll rechtzeitig
mit Paracetamol und/oder physikalischen Maßnahmen (Wadenwickel, reichlich Flüssigkeitszufuhr
etc.) das Fieber gesenkt werden. Saunabesuche sollten 10 Minuten nicht überschreiten.
Sehr heiße Wannenbäder sind ebenso wie andere Überhitzungsquellen zu meiden. Im Zweifelsfall
sollte Frauen, die in der Frühschwangerschaft einen hochfieberhaften Infekt durchmachten,
eine Ultraschallfeindiagnostik zur Bestätigung der normalen Entwicklung des Fetus
angeboten werden. Eine Fieberepisode rechtfertigt nach heutigem Kenntnisstand keinen
risikobegründeten Abbruch der Schwangerschaft (siehe Kapitel 1.15).
2.6.62
Fernreisen und Langstreckenflüge
Bei Fern- und Flugreisen während der Schwangerschaft müssen folgende potenziell riskanten
Umstände beachtet werden:
▪
Infektionsprophylaktische Maßnahmen (Malariaprophylaxe siehe Abschnitt 2.6.23; Impfungen
siehe Abschnitt 2.7),
▪
Infektionskrankheiten (siehe Enders 1991),
▪
speziell bei Langstreckenflügen:
–
Thromboserisiko,
–
ionisierende Höhenstrahlung,
–
Herabsetzung des Sauerstoffpartialdrucks entsprechend einer Höhe von 2500 m,
–
trockene Luft,
▪
körperlicher und psychischer Stress.
Spezifische Entwicklungsstörungen haben sich bei der Exposition von Schwangeren bisher
weder im Zusammenhang mit Impfungen noch mit der empfohlenen Malariaprophylaxe oder
mit den physikalischen Einflüssen bei Langstreckenflügen gezeigt.
Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass die mit einer Fernreise einhergehenden Belastungen,
zumal bei disponierten Frauen, zu einer Steigerung des Abortrisikos beitragen könnten.
Darüber hinaus wird häufig vergessen, dass neben den typischen Infektionskrankheiten
auch „banale” Infektionen aufgrund der veränderten hygienischen Situation im Zielland
gehäuft auftreten können. Wenn Dehydratation, hohes Fieber und andere Komplikationen
hinzukommen, können Infektionen mittelbar auch für den Fetus riskant sein.
Die Strahlendosis bei einem Fernflug variiert stark in Abhängigkeit von der Aktivität
der Sonnenoberfläche. Hierbei werden nach heutigem Wissen aber keine Dosen erreicht,
die Fehlbildungen auslösen können.
Empfehlung für die Praxis:
Es sollte kritisch erörtert werden, ob eine Fernreise, zumal in tropische Regionen,
unbedingt während der Schwangerschaft erforderlich ist. Hatte die Schwangere schon
früher Spontanaborte, sollte sie die Reise verschieben. Eine gut vertragene Fernreise
ist kein Grund für eine erweiterte vorgeburtliche Diagnostik und rechtfertigt keinesfalls
einen risikobegründeten Abbruch der Schwangerschaft (siehe Kapitel 1.15).
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2.7
Impfstoffe und Immunglobuline
Die durch Impfstoffe angeregte spezifische Immunität der Mutter schützt auch das Kind
durch diaplazentaren Übergang der mütterlichen IgG-Antikörper. Bisher haben sich für
keinen Impfstoff entwicklungstoxische Eigenschaften gezeigt und bei keinem Lebendimpfstoff
Hinweise auf eine infektionsbedingte Schädigung des Ungeborenen. Der Umfang an dokumentierten
Erfahrungen ist jedoch für die einzelnen Impfstoffe sehr unterschiedlich. Generell
sollten Routineimpfungen in der Schwangerschaft, insbesondere solche mit Lebendimpfstoffen,
unterbleiben. Besteht aber ein erkennbares Expositionsrisiko und liegt kein Impfschutz
vor, kann und muss ggf. auch während der Schwangerschaft im Interesse von Mutter und
Kind geimpft werden (siehe unter den jeweiligen Impfstoffen).
Mehr oder weniger detailliert wird in verschiedenen Impfempfehlungen auf Schwangere
eingegangen (z.B. Empfehlungen der Ständigen Impfkommission - STIKO).
Bei Fragestellungen zum Risiko von tropischen Impfungen und Malariaprophylaxe in der
Schwangerschaft sollten auch die allgemeinen Risiken von Fernreisen mit der Schwangeren
erörtert werden (siehe Abschnitt 2.6.62). Wenn eine Impfung tatsächlich indiziert
ist, muss diese selbstverständlich auch in der Schwangerschaft durchgeführt werden.
2.7.1
Choleraimpfung
Choleraimpfstoff enthält inaktivierte Vibrionen der Serotypen Inaba und Ogawa. Untersuchungen
zur Anwendung dieses Impfstoffes während der Schwangerschaft liegen nicht vor. Der
Impfschutz ist nicht vollständig und nur kurzfristig wirksam. Die antibiotische Behandlung
einer Cholerainfektion ist auch in der Schwangerschaft möglich. Es ist dabei zu bedenken,
dass bereits eine hohe Antibiotikaresistenz der Erreger besteht. Allgemein gültige
Empfehlungen zur Infektionsprophylaxe in der Schwangerschaft können deshalb nicht
gegeben werden, denn das Vorgehen hängt von den Gegebenheiten des Einzelfalles ab
(Reisedauer, Unterkunft etc.). Schwangere, die in Endemiegebiete reisen müssen, sollten
auf jeden Fall die grundsätzlichen Hygienemaßnahmen streng einhalten (boil it, cook
it, peel it or forget it).
Empfehlung für die Praxis:
Eine Choleraimpfung kann und sollte indikationsgerecht auch in der Schwangerschaft
durchgeführt werden, wenn eine entsprechende Reise unaufschiebbar ist.
2.7.2
Diphtherie- und Tetanusimpfung
Diese beiden Totimpfstoffe enthalten das jeweilige Toxoid. Außer den von Heinonen
(1977) dokumentierten 75 Schwangerschaften, die in den ersten 4 Monaten gegen Diphtherie
geimpft wurden, und den 337 mit Tetanusimpfung, fehlen weitere systematische epidemiologische
Untersuchungen zur Anwendung dieser Impfstoffe während der Schwangerschaft trotz weiter
Verbreitung. In zwei retrospektiven auf Fehlbildungsregisterdaten beruhenden Studien
mit zusammen etwa 600 exponierten Kindern ergaben sich keine Assoziationen zwischen
Tetanusimpfung und Fehlbildungen (Czeizel 1999, Silveira 1995). Auch konnte kein Zusammenhang
mit Fehlgeburten beobachtet werden. Catindig und Mitarbeiter (1996) haben von 1980
bis 1994 während einer Zunahme der jährlichen Impfungen um mehr als das 10fache keinen
Anstieg der Fehlgeburtenrate auf den Philippinen beobachtet. Nur historischen Charakter
hat der bei Heinonen (1977) geäußerte und später nicht bestätigte Verdacht auf ein
erhöhtes Risiko von Trichterbrust und Klumpfuß durch das Tetanustoxoid. Um eine mütterliche
Erkrankung und den mit hoher Säuglingssterblichkeit behafteten Tetanus neo-natorum
zu verhüten, sollte ein ausreichender Impfschutz in der Schwangerschaft gewährleistet
sein. Berichte über Tetanus neonatorum aufgrund unzureichenden Impfschutzes aus anderen
Ländern wie China (Häufigkeit des Tetanus neonatorum 0,16/1.000 Lebendgeborene, nur
12 % der Mütter waren geimpft; Chai 2004) und der Türkei (Kalaca 2004, Gurkan 1999)
bekräftigen die dringende Notwendigkeit dieser Impfung. Im Regelfall erfolgt die Grundimmunisierung
im Kindesalter, danach wird alle 10 Jahre eine Auffrischimpfung empfohlen, auch in
der Schwangerschaft.
Empfehlung für die Praxis:
Bei unzureichendem Impfschutz sollte eine Schwangere gegen Tetanus (und Diphtherie)
geimpft werden.
2.7.3
Frühsommer-Meningo-Enzephalitis-(FSME-)Impfung
Nach Impfung mit dem FSME-Impfstoff haben sich bisher keine Hinweise auf entwicklungstoxische
Effekte beim Menschen gezeigt.
Empfehlung für die Praxis:
Da dieser Impfstoff nicht systematisch untersucht ist, sollte während einer Schwangerschaft
die Impfindikation kritisch geprüft werden.
2.7.4
Gelbfieberimpfung
Der Gelbfieberimpfstoff enthält einen abgeschwächten Lebendimpfstoff. Ein Fallbericht
beschreibt eine Gelbfieberinfektion beim Neugeborenen im Zusammenhang mit einer Impfung
im 1. Trimenon (Tsai 1993). Dieser Befund wurde von anderer Seite nicht bestätigt.
In einer Untersuchung an 101 geimpften Schwangeren, davon vier im 1. und 89 im 3.
Trimenon, erbrachte keine Entwicklungsauffälligkeiten bei den Kindern bis zum Alter
von 3–4 Jahren (Nasidi 1993). Eine leicht erhöhte Spontanabortrate wird in einer anderen,
allerdings sehr kleinen retrospektiven Studie mit 39 Schwangeren beschrieben (Nishioka
1998). Unter 58 im 1. Trimenon Geimpften wurde keine konnatale Infektion und kein
Hinweis auf teratogene Effekte gefunden (Robert 1999). Bisherige Erfahrungen sprechen
also gegen ein nennenswertes entwicklungstoxisches Risiko der Impfung.
Empfehlung für die Praxis:
Da Gelbfieber im Erkrankungsfall lebensbedrohlich sein kann, muss eine Schwangere
bei unaufschiebbarer Reise in ein Endemiegebiet auch im 1. Trimenon geimpft werden
(American College of Obstetricians and Gynecologists 1993).
2.7.5
Grippe-(Influenza-)Impfung
Bisher publizierte Fallserien mit mehr als 2.000 Frauen, die kurz vor oder während
der Schwangerschaft geimpft wurden, ergeben keine Hinweise auf eine entwicklungstoxische
Wirkung dieses inaktivierten Impfstoffs (Munoz 2005, Deinhard 1981). Der Fall einer
ZNS-Fehlbildung nach Impfung in Woche 6 (Sarnat 1979) wurde von anderen Untersuchern
nicht bestätigt.
Das US-amerikanische „Advisory Committee on Immunization Practices of the Centers
for Disease Control” empfahl 2004, Schwangere während der Grippesaison aufgrund möglicher
influenzabedingter Komplikationen unabhängig vom Trimenon zu impfen.
Empfehlung für die Praxis:
Wenn andere beeinträchtigende Faktoren, wie z. B. Asthma, vorliegen oder in der Vorgeschichte
wiederholt von Influenzainfektionen berichtet wird, sollten Schwangere geimpft werden,
ggf. auch im 1. Trimenon.
2.7.6
Hämophilus-Influenza-B-(HIB)-Impfung
Systematische Untersuchungen zur Pränataltoxizität dieses inaktivierten Impfstoffs
liegen nicht vor. Ein passiver Schutz vor einer möglicherweise bedrohlichen Infektion
im Säuglingsalter ist durch diaplazenta-ren Übertritt mütterlicher Antikörper nach
Impfung der Mutter im 3. Trimenon möglich (Glezen 1999).
Empfehlung für die Praxis:
Eine Impfempfehlung für Schwangere wird zurzeit noch diskutiert.
2.7.7
Hepatitis-A- und Hepatitis-B-Impfung
Als Hepatitis-B-Impfstoff wird ein biotechnologisch hergestelltes, nicht vermehrungsfähiges
Oberflächenantigen eingesetzt. Die bisher publizierten Verläufe nach Impfungen von
über 150 Schwangeren zeigten keine unerwünschten Wirkungen beim Fetus (Ingardia 1999,
Reddy 1994, Grosheide 1993, Levy 1991). Bei nahezu 90% der Schwangeren mit Serokonversion
nach einer Impfung während der Schwangerschaft wurden auch im Nabelschnurblut protektive
Antikörperkonzentrationen gefunden (Ingardia 1999). Systematische Untersuchungen zum
Hepatitis-A-Impfstoff in der Schwangerschaft liegen nicht vor. Wahrscheinlich ist
dieser Totimpfstoff ähnlich zu beurteilen wie der Hepati-tis-B-Impfstoff.
Empfehlung für die Praxis:
Risikogruppen ist eine Impfung zu empfehlen; sie sollte aus grundsätzlichen Sicherheitserwägungen
heraus möglichst erst nach Schwangerschaftswoche 12 erfolgen.
2.7.8
Masern- und Mumpsimpfung
Bisher gibt es keine Hinweise auf entwicklungstoxische Effekte beim Menschen. Die
beiden Lebendimpfstoffe sind aber nicht systematisch untersucht. Allerdings gibt es
bisher auch keine Hinweise auf kindliche Anomalien durch eine Infektion während der
Schwangerschaft, allenfalls auf ein leicht erhöhtes Risiko für Fehlgeburten, Frühgeburtlichkeit
und Totgeburten. Mehrere Publikationen haben sich mit der Frage eines Zusammenhangs
zwischen einer Masern-Mumps-Röteln-Imp-fung beim Kind (nach der Geburt) und später
auftretendem Autismus beschäftigt, ohne Belege hierfür finden zu können (De Stefano
2002, Madsen 2002). Damit haben sich theoretisch bestehende Bedenken bezüglich eines
solchen Risikos durch Impfung während der Schwangerschaft ebenfalls erledigt.
Empfehlung für die Praxis:
Auch wenn generell eine Masern- und Mumps-Impfung in der Schwangerschaft nicht indiziert
ist, sind nach einer versehentlich durchgeführten Impfung keine Konsequenzen erforderlich.
2.7.9
Meningokokkenimpfung
Der Meningokokkenimpfstoff enthält Polysaccharide der Gruppen A, C, Y und W-135. Er
wird seit Jahrzehnten benutzt und hat sich bei weit über 100 vorwiegend im 3. Trimenon
geimpften Schwangeren nicht als embryo- oder fetotoxisch erwiesen (Letson 1998). Der
Übergang von schützenden Antikörpern durch die Plazenta wurde nachgewiesen. Bei 157
im 3. Trimenon Geimpften wurden in der Muttermilch bis 3 Monate nach der Geburt und
im Serum der Neugeborenen bis 6 Monate nach der Geburt signifikant höhere IgA- bzw.
IgG-Konzentra-tionen ermittelt als in einer Kontrollgruppe (Shahid 2002).
Empfehlung für die Praxis:
Bei entsprechend dringlicher Indikation darf auch in der Schwangerschaft geimpft werden.
2.7.10
Pertussisimpfung
Systematische Untersuchungen zur Anwendung dieser Impfung während der Schwangerschaft
liegen nicht vor. Einige Fallberichte lassen kein Risiko erkennen. Auch wenn das Ausbleiben
auffälliger Schwangerschaftsverläufe nach dieser Impfung gegen ein Risiko spricht,
reichen die vorliegenden Daten nicht für eine differenzierte Beurteilung aus.
Empfehlung für die Praxis:
Auch wenn generell eine Pertussisimpfung in der Schwangerschaft nicht indiziert ist,
sind nach einer versehentlich durchgeführten Impfung keine Konsequenzen erforderlich.
2.7.11
Pneumokokkenimpfung
Erfahrungen an 280 geimpften Schwangeren zeigen keine Nutzen für den jungen Säugling
hinsichtlich Morbidität und Mortalität durch Pneu-mokokkeninfektion (Chaithongwongwatthana
2006). Toxische Risiken für das Ungeborene wurden erwartungsgemäß nicht beobachtet.
Empfehlung für die Praxis:
Bei vorliegender Indikation dürfen auch Schwangere geimpft werden.
2.7.12
Poliomyelitisimpfung
Routinemäßig wird heute nur noch der parenteral zu verabreichende Polio-Totimpfstoff
benutzt. Der früher übliche und heute Ausnahmeindikationen vorbehaltene orale Polioimpfstoff
(Sabin) enthält attenu-ierte Poliomyelitisviren aller drei Poliovirustypen. Ein erhöhtes
Risiko für Fehlbildungen oder Spontanaborte konnte bei 15.000 in Israel und Finnland
im Rahmen von Massenimpfungen geimpften Schwangeren nicht nachgewiesen werden (Harjulehto-Mervaala
1994, Ornoy 1994, Ornoy 1990). Um die durch Virusausscheidung von Wöchnerinnen verursachte
Viruskontamination auf Entbindungsstationen zu vermeiden, sollte im letzten Schwangerschaftsmonat
keine Schluckimpfung mit dem Lebendimpfstoff erfolgen.
Empfehlung für die Praxis:
Eine Schwangerschaft ist keine Kontraindikation gegen eine erforderliche Polioimpfung,
bei Vorliegen einer Impflücke sollte im Interesse von Mutter und Kind mit dem heute
üblichen Totimpfstoff aufgefrischt werden. Ob die Leihimmunität beim Neugeborenen
ausreicht oder diesen nur vor der sehr seltenen Impfpolio schützt, wird kontrovers
diskutiert.
2.7.13
Rötelnimpfung
Aufgrund der immer noch nicht genügenden Durchimpfung in der Bundesrepublik Deutschland
werden weiterhin Kinder mit den Zeichen einer Rötelnembryopathie geboren, in den vergangenen
Jahren jedoch nur etwa eines jährlich. Man geht jedoch von einer höheren Dunkelziffer
besonders bei den Kindern aus, die bei der Geburt kein typisches Schädigungsbild aufweisen;
ein solcher Verdacht ergibt sich aus positiven, auf eine Infektion hindeutenden Serologiebefunden
Schwangerer (Robert-Koch-Institut: Epidemiologisches Bulletin 35/2004). Dagegen wurde
in Schweden seit 1985 kein Fall mehr beobachtet (Boettiger 1997).
Die Rötelnimpfung wird mit dem zurzeit gebräuchlichen abgeschwächten Lebendimpfstoff
RA 27/3 durchgeführt. Dieser ist auch in den Kombinationsimpfstoffen mit Masern und
Mumps (MMR) enthalten. Der Rötelnimpfvirus ist plazentagängig und kann den Fetus infizieren.
Bei 2,7% bis 7,7% (Durchschnitt 4,1%) in der Frühschwangerschaft Geimpfter fällt später
der Nachweis von rötelnspezifischen IgM- Antikörpern im Nabelschnurblut beim Neugeborenen
positiv aus (Enders 2005). In einem Fall wurde eine persistierende subklinische Infektion
beobachtet (Hofmann 2000). In ca. 3–20 % konnte das Impfvirus nach Impfung aus Abortmaterial
isoliert werden (Enders 1991, Center for Disease Control 1989).
Die Einzelfalldarstellung eines angeborenen Katarakts nach mütterlicher Impfung konnte
nicht durch andere Untersucher bestätigt werden (Fleet 1974). Berichte über insgesamt
718 Schwangerschaften aus Deutschland, Schweden, England und den USA wurden bisher
publiziert, bei denen seronegative Frauen im Zeitraum von 3 Monaten vor Konzeption
bis in die Schwangerschaft hinein versehentlich mit unterschiedlichen Rötelnlebendimpfstoffen
geimpft wurden (Enders, 2005, Enders, 1991). Im Zeitraum mit theoretisch hohem Risiko,
also ein bis 2 Wochen vor bis 6 Wochen nach Konzeption, wurden 326 der 718 Schwangeren
geimpft. Es wurde dabei keine Rötelnembryopathie beobachtet. Dies spricht dafür, dass
eine impfbedingte Schädigung sehr unwahrscheinlich ist. Rein statistisch kann man
mit einer solchen Fallzahl jedoch nur ausschließen, dass das Risiko größer als 0,5
% (95 % Konfidenzintervall) ist.
Empfehlung für die Praxis:
Eine Rötelnimpfung sollte unmittelbar vor und während der Schwangerschaft nicht durchgeführt
werden. Bisherige Erfahrungen sprechen gegen ein Risiko für Rötelnembryopathie durch
Impfung. Daher ergeben sich aus einer versehentlichen Impfung keine Konsequenzen wie
Schwangerschaftsabbruch oder invasive Diagnostik. Ob eine seronegative Schwangere
mit hohem Expositionsrisiko gegenüber Röteln auch während der Schwangerschaft geimpft
werden sollte, muss individuell entschieden werden.
2.7.14
Tollwutimpfung
Der Tollwutimpfstoff enthält einen abgeschwächten Lebendimpfstoff, der aus menschlichen
Zellkulturen gewonnen wird. Der heute zur Verfügung stehende Impfstoff ist im Gegensatz
zu früheren Tollwutimpfstoffen gut verträglich. Fallberichte zur aktiven und/oder
passiven Impfung bei über 200 Schwangeren zeigen keine Auffälligkeiten (Chutivongse
1995, Chabala 1991, Fescharek 1990). Die mütterlichen Antikörper scheinen die Plazenta
zu überwinden.
Empfehlung für die Praxis:
Da Tollwut eine tödlich verlaufende Erkrankung ist, muss eine Schwangere nach einem
tollwutverdächtigen Tierbiss immer simultan (aktiv und passiv) geimpft werden.
2.7.15
Typhusimpfung
Es gibt zwei Typhusimpfstoffe: Die parenteral zu verabreichende inaktivierte Typhusvakzine
und den oralen Typhus-Lebendimpfstoff mit Salmonella typhi Typ 21a. Der Lebendimpfstoff
schützt nicht gegen Paratyphus A und B, weist aber eine geringere Nebenwirkungsrate
auf als die inaktivierte Vakzine. Bei einer Typhuserkrankung in der Schwangerschaft
ist durch die typhöse Septikämie das Abortrisiko erhöht. Deshalb ist auch für Schwangere
der Schutz vor einer Infektion ratsam, vor allem bei einem längeren Aufenthalt in
entsprechenden Ländern. Eine Untersuchung mit rund 20 Schwangeren, die den Lebendimpfstoff
im 1. Trimenon erhielten, erbrachte keine spezifischen Auffälligkeiten (Mazzone 1994).
Empfehlung für die Praxis:
Bei entsprechender Indikation darf eine Schwangere geimpft werden.
2.7.16
Varizellen-(Windpocken-)Impfung
Die Erstinfektion mit Varizellen in der Schwangerschaft kann in etwa 1 % der Fälle
zu Schäden beim Embryo bzw. Fetus führen. Dieser Verdacht hat sich bisher aber nicht
nach Impfung mit diesem Lebendimpfstoff ergeben. Bei 530 vom Hersteller prospektiv
dokumentierten Schwangerschaften (Merck/CDC Pregnancy Registry 2004) wurden insgesamt
11 Fehlbildungen unter 507 Lebendgeborenen beobachtet (2,2%), unter den 120 Seronegativen
waren es 5 (4,2%) und begrenzt auf die Seronegativen mit Impfung im 1. oder 2. Trimenon
5/80 (6,3 %). Diese Fehlbildungsraten wurden als nicht statistisch signifikant erhöht
bewertet. Außerdem war keine Varizellenembryopathie unter den Fehlbildungen.
Empfehlung für die Praxis:
Während einer Schwangerschaft sollte nicht geimpft werden. Bei dennoch erfolgter Anwendung
sind keine Konsequenzen erforderlich.
2.7.17
Immunglobuline
Immunglobulinlösungen enthalten hauptsächlich Immunglobulin-G-(IgG-)Antikörper und
werden aus gepooltem menschlichem Plasma hergestellt. Das Ausmaß der Plazentapassage
von IgG-Antikörpern ist abhängig vom Gestationsalter, der Dosierung, der Dauer der
Behand lung und der Art des verabreichten Präparates. Immunglobuline kommen bei sehr
unterschiedlichen mütterlichen oder fetalen Indikationen zum Einsatz, z.B. bei Antikörpermangel,
bei Infektionserkrankungen (insbesondere zur Prävention), bei Autoimmunkrankheiten
zur Besserung der Symptome bei der Mutter oder bei der Behandlung fetaler Krankheitssymptome,
wie z.B. dem fetalen Herzblock bei mütterlichem Lupus erythematodes.
Sowohl Immunglobuline als auch Hyperimmunseren gegen spezifische Infektionen wirken
nach heutiger Erkenntnis nicht embryotoxisch.
Unspezifische Risiken durch menschliche Blutprodukte wie die Übertragung von Virusinfektionen
und Anaphylaxie sind nicht völlig auszuschließen und könnten mittelbar auch den Fetus
gefährden.
Eine Untersuchung an 93 Kindern von Müttern, die Gammaglobulin zur Hepatitisprophylaxe
während der Schwangerschaft erhalten hatten, beschreibt signifikant gehäufte Veränderungen
der Hautlinien an den Fingerkuppen der pränatal exponierten Kinder (Ross 1996). Diese
kaum als Fehlbildungen zu bewertenden Effekte traten nur dann auf, wenn die Exposition
in den ersten 162 Tagen der Schwangerschaft erfolgte. Dieser Bericht ist eher als
anekdotisch zu betrachten.
Empfehlung für die Praxis:
Standard-Gammaglobulin und Hyperimmunseren dürfen bei gegebener Indikation auch während
der Schwangerschaft verabreicht werden.
2.7.18
Thiomersalhaltige Impfstoffe
Die früher in manchen Impfstoffen als Konservierungsstoff enthaltenen Mengen an Thiomersal
bzw. Ethylquecksilber (ca. 5 μg) sind kürzlich als Gefahrenpotenzial diskutiert worden
(Bigham 2005, Clements 2003). Bei genauerer Betrachtung ergab sich, dass die Mengen
an Ethylquecksilber, zumal nach einmaliger Verabreichung, sehr gering sind. Ein Vergleich
mit dem für den Menschen riskanteren Methylquecksilber muss berücksichtigen, dass
dieses die Blut-Hirn-Schranke leichter überwindet. Bisher liegen keine Fallberichte
vor, die den Verdacht einer pränatalen Schädigung durch eine thiomersalhaltige Impfung
begründen. Dies erscheint plausibel, wenn man andere Situationen mit erhöhter Quecksilberbelastung
zum Vergleich heranzieht, wie die in manchen Ländern höhere „Hintergrundbelastung”
mit Quecksilber durch regelmäßigen Verzehr kontaminierter Fische. Die WHO empfiehlt
thiomersalhaltige Impfstoffe für die so genannte Dritte Welt, da sie dort leichter
verfügbar, billiger, sicherer und wirksamer sind (Bigham 2005).
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2.8
Herz- und Kreislaufmittel
Während der Schwangerschaft kommt es zu gravierenden hämodyna-mischen Veränderungen.
Ab Schwangerschaftswoche 5 nimmt das Blutvolumen zu, am Ende der Schwangerschaft beträgt
die Steigerung 50%. Sowohl Gefäßwiderstand als auch Blutdruck sinken, und der Ruhepuls
steigt um 10–20 Schläge pro Minute. Daraus resultiert ein 30–50 %iger Anstieg Herzminutenvolumens.
Während der Geburt kommt es zu einer weiteren Zunahme des Auswurfvolumens und der
Blutdruck steigt. Im Allgemeinen werden ein bis drei Tage nach Geburt, manchmal auch
erst nach einer Woche, die hämodynamischen Ausgangswerte erreicht (Oakley 2003).
Während Herzkrankheiten in der Schwangerschaft selten sind (unter 1%), kommen behandlungsbedürftige
hypertone und hypotone Regulationsstörungen häufiger vor.
2.8.1
Hypertonie und Schwangerschaft
Bei den Hochdruckkrankheiten Schwangerer unterscheidet man folgende Formen:
▪
Chronische Hypertonie (mit oder ohne Proteinurie), die vor, während oder nach der
Schwangerschaft diagnostiziert wird.
▪
Präeklampsie, Eklampsie: Proteinurie (> 300 mg/24 h) und neu aufgetretene Hypertonie
(fakultativ: Ödeme).
▪
Pfropfgestose: Präeklampsie bei Schwangeren mit chronischer Hypertonie (Häufigkeit:
bei 20–25 % der Schwangeren mit chronischer Hypertonie).
▪
Schwangerschaftshochdruck: eine nach 20 Schwangerschaftswochen entstehende Hypertonie
ohne Proteinurie, die sich spätestens 12 Wochen nach der Entbindung zurückbildet.
Ungefähr die Hälfte dieser Schwangeren entwickelt eine Präeklampsie.
Ein Blutdruckwert von 140/90 mmHg gilt als Grenzwert für eine Hypertonie in der Schwangerschaft.
Patientinnen haben ein niedriges Risiko, wenn die Werte im Grenzbereich liegen, wenn
sie keine Auffälligkeiten bei der körperlichen Untersuchung bieten, ein normales EKG
und Echokardiogramm aufweisen und keine Proteinurie besteht. Eine antihypertensive
Therapie von Schwangeren mit Blutdruckwerten bis 160/110 mmHg stellt keinen Vorteil
für den Schwangerschaftsverlauf und das Befinden der Mutter dar, so dass eine medikamentöse
Behandlung nicht indiziert ist.
Komplikationen schwerer hypertoner Zustände sind Hirnblutungen der Mutter oder kardiale
Probleme. Vor allem über eine Plazentadys-funktion sind Abruptio der Plazenta, Frühgeburt,
Wachstumsretardie-rung und perinataler Tod assoziiert. Das Risiko für eine Schwangere
und das werdende Kind ist bei einer Hypertonie mit Gefäß- bzw. Organschäden, mit kardiovaskulären
Begleiterkrankungen und/oder mit Proteinurie, das heißt bei jeder Form der Präeklampsie,
als hoch einzuschätzen. Man nimmt an, dass die Präeklampsie auf einer gestörten Interaktion
zwischen Trophoblastinvasion und Dezidua beruht. Die daraus folgende mangelnde Dilatation
der Spiralarterien kann zur pla-zentaren Hypoperfusion führen. Eine kausale Therapie
außer der Geburt gibt es nicht. Blutdrucksenkung bei diastolischen Werten >110 mmHg
und die Gabe von 100 mg/Tag Acetylsalicysäure sind Möglichkeiten einer konservativen
Therapie, die nur unter strikter Kontrolle der fetoplazentaren Einheit erfolgreich
sein kann. Das HELLP-Syndrom (Hämolyse, erhöhte Leberwerte, erniedrigte Throm-bozytenzahl)
beinhaltet zusätzliche Risiken für Mutter und Fetus.
Eine große prospektive Studie mit fast 2.000 hypertensiven Schwangeren bestätigt,
dass das fetale Risiko bei Präeklampsie und Pfropfges-tose deutlich höher ist als
bei den beiden anderen Hypertonieformen (Ray 2001). Welche klinische Bedeutung der
In-vitro-Untersuchung von Houlihan (2004) zukommt, muss offen bleiben: Labetalol,
Hydra-lazin, Nifedipin und Magnesiumsulfat haben einen signifikant relaxierenden Effekt
auf die Nabelarterie, dagegen führt Methyldopa zu keiner Änderung des Gefäßwiderstandes.
Eine Metaanalyse zu möglichen Änderungen der fetalen und neonatalen Herzfrequenz bei
mütterlicher antihypertensiver Medikation kommt zu dem Schluss, dass die vorliegenden
Daten zu Nifedipin, Hydralazin, Labetalol und Methyldopa zu ungenau für eine endgültige
Aussage sind (Waterman 2004).
Die Auswahl antihypertensiver Medikamente unterscheidet sich von einer Behandlung
außerhalb der Schwangerschaft. Trotz vielfältiger Untersuchungen und Erfahrungen gibt
es jedoch nach wie vor keine einheitlichen Empfehlungen für Schwangere. Systematische
kontrollierte Studien mit großer Fallzahl und Exposition im 1. Trimenon sind rar.
Als Langzeitantihypertensivum bei chronischer Hypertonie kommt in erster Linie Methyldopa
infrage. Mittel der zweiten Wahl sind Metopro-lol, Dihydralazin/Hydralazin und Nifedipin.
Bei den Mutter und Fetus mehr gefährdenden, durch Präeklampsie bedingten Hochdruckformen
haben sich Dihydralazin, Nifedipin und Urapidil bewährt. Auch β-Rezeptorenblocker
können gegeben werden, von denen das in Deutschland nicht zur Verfügung stehende Labetalol
am besten untersucht ist.
Hypertensive Erkrankungen in der Schwangerschaft erfordern vor allem eine spezialisierte
Diagnostik, die dann eine ggf. indizierte Therapie begleiten bzw. steuern kann.
2.8.2
β-Rezeptorenblocker
Pharmakologie und Toxikologie.
β-Rezeptorenblocker werden zur Hochdrucktherapie in Form der 1-selektiven Präparate,
wie z. B. Metoprolol (z. B. Beloc, Prelis®), Atenolol (z. B. Tenormin®) und Acebutolol
(z. B. Prent®) eingesetzt. Der klassische β-Rezeptorenblocker Propranolol (z.B. Dociton®)
hat ebenso wie z.B. Oxprenolol (z.B. Trasicor®) und
Pindolol (Visken®) neben einer 1- auch eine β
2-blockierende Wirkung. Gute Erfahrungen werden auch mit Labetalol beschrieben, das
eine zusätzliche α-Rezeptor-blockierende Komponente besitzt.
Alle β-Rezeptorenblocker passieren die Plazenta. Nach heutiger Erkenntnis haben sie
keine teratogenen Eigenschaften. Zwar gibt es einen Bericht zu 105 Neugeborenen, die
im 1. Trimenon Atenolol exponiert waren und von denen 12 Kinder große Fehlbildungen
aufwiesen. Die Uneinheitlichkeit dieser Fehlbildungen sowie die Ergebnisse anderer
Untersuchungen sprechen aber gegen einen ursächlichen Zusammenhang (Briggs 2005).
In unserem Pharmakovigilanzzentrum konnten wir bisher mehr als 200 Schwangerschaften
prospektiv nachverfolgen, die im 1. Trimenon Metoprolol exponiert waren. Unter 175
lebend geborenen Kindern wiesen 7 grobstrukturelle Fehlbildungen auf (4%): je zwei
Fälle mit Gaumenspalte und Vorhofseptumdefekt, je ein Fall mit einer Stenose der A.
pulmonalis, einer Zwerchfellhernie und einer polyzystischen Niere.
Atenolol kann zu einem geringeren Gewicht der Plazenta, einer intrauterinen Wachstumsverzögerung
und einem geringeren Geburtsgewicht führen (Tabacova 2003). Diskutiert wird, dass
andere β-Rezeptorenblocker dieselben Symptome verursachen können (Magee 2003). Es
ist nicht endgültig geklärt, welchen Anteil an der möglicherweise zugrunde liegenden
plazentaren Perfusionsminderung Atenolol (oder ein anderer β-Rezeptorenblocker) oder
der behandlungsbedürftige Hypertonus hat. β-Rezeptorenblocker erhöhen - wenn auch
nur sublim - den Tonus des Uterus und können auf diese Weise die Perfusion reduzieren.
Auch die blutzuckersenkende Wirkung der Betablocker wird als Ursache diskutiert. Das
postnatale Wachstum im ersten Lebensjahr ist offenbar ebenso wenig beeinträchtigt
wie die übrige Entwicklung der Kinder (Reynolds 1984).
Bayliss (2002) untersuchte 491 Schwangerschaften mit Hypertonie, dabei wurde in 302
Fällen mindestens ein Antihypertensivum eingenommen. 189 unbehandelte Schwangere dienten
als Kontrollgruppe. Das Ergebnis ist interessant: Nur die Neugeborenen, deren Mütter
Atenolol zur Konzeption oder ab dem 1. Trimenon (n=40) bis zur Geburt eingenommen
hatten, wiesen ein statistisch signifikant niedrigeres Geburtsgewicht auf. Atenolol
im 2. Trimenon führte nicht zu diesem Effekt. Unabhängig vom eingenommenen Antihypertensivum
stand eine Pfropfgestose (im 2/3. Trimenon) in Zusammenhang mit einem geringeren Geburtsgewicht.
Bei einem Kind wird eine retroperitoneale Fibromatose mit medullä-rer Kompression
und später resultierender Skoliose in Zusammenhang mit der mütterlichen Atenololtherapie
beschrieben. Die Autoren halten diese Assoziation für erwähnenswert, da analoge Befunde
bei Erwachsenen nach Atenololexposition beschrieben wurden (Satge 1997).
Zu Sotalol siehe Abschnitt 2.8.17.
Es gibt keine ausreichenden Erfahrungen zu Alprenolol, Betaxolol (z.B. Kerlone®),
Bisoprolol (z.B. Concor®), Bopindolol, Bupranolol
(betadrenol®), Carazolol, Carteolol (Endak®), Carvedilol (z.B. Dila-trend®), Celiprolol
(z.B. Selectol®), Esmolol (Brevibloc®), Levobuno-lol (Vistagan® Augentropfen), Mepindolol
(z.B. Corindolan®), Meti-pranolol (z.B. in Betamann Augentropfen), Nadolol (z.B. Solgol®),
Nebivolol (Nebilet®), Penbutolol (z.B. Betapressin®), Talinolol (Cor-danum®), Tertatolol
und Timolol (im Kombinationspräparat MODU-CRIN® und in Augentropfen). Ein nennenswertes
teratogenes Risiko ist auch bei diesen β-Rezeptorenblockern unwahrscheinlich.
Eine neonatale β-Rezeptorenblockade infolge mütterlicher Therapie ist theoretisch
bei jeder Substanz zu erwarten und kann sich in erniedrigter Herzfrequenz und Hypoglykämie
äußern. Ein Fallbericht beschreibt sogar unter Augentropfenanwendung von 0,5 %igem
Timolol eine fetale Bradykardie und Arrhythmie bei 21 Schwangerschaftswochen, die
sich unter Dosishalbierung und anschließendem Absetzen besserte (Wagenvoort 1998).
Weitere Fälle wurden trotz häufiger Glaukombehandlung mit diesen Mitteln in der Schwangerschaft
nicht berichtet.
Atemdepression bei Neugeborenen wurde unter intravenöser Gabe von Propranolol kurz
vor der Schnittentbindung beobachtet (Überblick in Briggs 2005), ist aber eher eine
Ausnahmeerscheinung.
Ein Absetzen der Medikation 24–48 Stunden vor der Entbindung wird von manchen Autoren
erörtert. Dieses Vorgehen ist kaum zu rechtfertigen. Die meist nur milden Symptome
einer β-Rezeptorenblockade bessern sich beim Neugeborenen innerhalb von 48 Stunden
folgenlos. Dennoch sollten sich Geburtshelfer und Pädiater über die mütterliche Medikation
informieren.
Die Verstärkung vorzeitiger Wehentätigkeit durch β-Rezeptorenblocker ist theoretisch
denkbar. Es wurde jedoch bei Gabe von β1-Rezepto-renblockern während einer Tokolyse
mit β
2-Sympathomimetika kein negativer Einfluss auf die Wehenhemmung beschrieben (Trolp
1980). Insgesamt muss davon ausgegangen werden, dass ein den Blutzucker senkender
Effekt einerseits und eine leicht erhöhte Uteruswandspannung andererseits Basis des
immer wieder beobachteten geringeren Geburtsgewichts sind.
Empfehlung für die Praxis:
β-Rezeptorenblocker gehören zu den Antihyperten-siva der Wahl in der Schwangerschaft,
wobei erprobte Mittel wie Metoprolol zu bevorzugen sind. Atenolol sollte eher nicht
verordnet werden. Timolol darf zur Glaukombehandlung in der gesamten Schwangerschaft
angewendet werden. Eine Therapie mit Atenolol oder wenig untersuchten β-Rezeptorenblockern
rechtfertigt weder einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch noch invasive Diagnostik
(siehe Kapitel 1.15). Eine Gewichtsrestriktion des Fetus durch Einnahme von β-Rezeptorenblockern
durch die Mutter ist möglich. Mit perinata-len Auswirkungen wie Herzfrequenzabnahme
und Hypoglykämie muss bei allen β-Rezeptorenblockern gerechnet werden, wenn bis zur
Geburt behandelt wurde.
2.8.3
α-Methyldopa
Pharmakologie.
α-Methyldopa (z.B. Dopegyt®) wird oral gut resorbiert, die Halbwertszeit beträgt 2
Stunden. Seine Aktivierung erfolgt über die Decarboxylierung zu a-Methyl-Noradrenalin,
das als „falsche” Trans-mittersubstanz wesentlich schwächer wirkt als Noradrenalin.
Die Herzfunktion, besonders das Herzminutenvolumen, wird nicht verändert, der periphere
Gesamtwiderstand wird gesenkt. Unabhängig davon, ob intravenös oder per os appliziert,
wirkt α-Methyldopa erst nach 60–90 Minuten. Die Wirkung hält etwa 10–12 Stunden an.
α-Methyldopa ist plazentagängig.
Toxikologie.
In einer Gruppe von 242 im 1. Trimenon exponierten Kindern waren Häufigkeit und Art
der angeborenen Fehlbildungen nicht auffällig (zitiert in Briggs 2005). Eine andere
Untersuchung ergab einen um 1,3 cm geringeren Kopfumfang bei Neugeborenen, deren Mütter
zwischen Schwangerschaftswoche 16 und 20 α-Methyldopa erhalten hatten. Das Kontrollkollektiv
bestand aus Kindern nicht behandelter, hypertensiver Mütter (Moar 1978). Dieses statistisch
signifikante Ergebnis war im Alter von 6 und 12 Monaten nicht mehr nachweisbar. Auffälligkeiten
der mentalen Entwicklung waren bei diesen im Alter von 4,5 und 7,5 Jahren nachuntersuchten
Kindern nicht zu verzeichnen. Weshalb nur die Neugeborenen einen verringerten Kopfumfang
aufwiesen, deren Mütter zwischen Schwangerschaftswoche 16 und 20 behandelt worden
waren, konnten die Autoren nicht erklären. Andere Autoren haben kein vermindertes
Schädelwachstum beobachtet (Fidler 1983).
In einzelnen Fällen wurden nach Gabe von α-Methyldopa während der Schwangerschaft
hepatotoxische Effekte beobachtet (Smith 1995). Einer weiteren Untersuchung zufolge
kann bei Neugeborenen nach präpartaler Behandlung der Mutter in den ersten beiden
Lebenstagen ein um 4–5 mmHg erniedrigter Blutdruck auftreten, der jedoch klinisch
keine Relevanz besitzt (Whitelaw 1981).
α-Methyldopa hatte in einer In-vitro-Untersuchung keinen Einfluss auf den Gefäßwidersand
der Nabelarterie (Houlihan 2004). Günenc (2002) analysierte mit Hilfe der Dopplersonographie
den Effekt von Methyldopa bei 24 Schwangeren mit Präeklampsie. Der Gefäßwiderstand
der Arteria uterina wurde durch die Therapie herabgesetzt, jedoch nicht von Nabelarterien
oder fetaler Arteria cerebri media.
Empfehlung für die Praxis:
α-Methyldopa ist eines der ältesten Antihyperten-siva, das auch in der Schwangerschaft
für Mutter und Ungeborenes gut verträglich ist. Es ist das Mittel der 1. Wahl bei
chronischer Hypertonie in der Schwangerschaft.
2.8.4
Dihydralazin
Pharmakologie und Toxikologie.
Dihydralazin (Depressan®, Nepresol®) gehört zu den bei Schwangerschaftshypertonie
am längsten eingesetzten Medikamenten. Es wird zu 80 % nach oraler Gabe resorbiert,
etwa zwei Drittel werden in der Leber inaktiviert, die Halbwertszeit beträgt 2–8 Stunden.
Seine zentrale und periphere Wirkung wird seit über 40 Jahren gründlich untersucht.
Entgegen früheren Berichten und tierexperimentellen Ergebnissen lieβ sich eine Zunahme
der uterinen Durchblutung nicht bestätigen (Suionio 1986).
Bei einer Untersuchung mit 40 im 1. Trimenon behandelten Schwangeren wurde ein Neugeborenes
mit Fehlbildungen registriert (zitiert in Briggs 2005). Ein Anhalt für teratogene
Wirkungen beim Menschen hat sich bisher nicht ergeben.
Die meisten publizierten Erfahrungen beschreiben eine Anwendung im 3. Trimenon. In
einigen Fällen wurde eine lebertoxische Wirkung bei präeklamptischen Patientinnen
beobachtet (Hod 1986). Eine Kasuistik beschreibt ein dem Lupus ähnliches Syndrom bei
Mutter und Fetus; das Neugeborene verstarb. Eine besondere Empfindlichkeit gegenüber
Dihydralazin wird in diesem Fall als Ursache diskutiert (Yemini 1989). Ein „Pseudolupus”
als Nebenwirkung ist bei mit Dihydralazin behandelten Patienten seit langem bekannt.
Magee (2003) untersucht in einer Metaanalyse mütterliche, fetale und perinatale Auswirkungen
der Behandlung mit Hydralazin bei schwerer Hypertonie - in der Regel im 2./3. Trimenon.
In den analysierten Studien wurde Hydralazin meistens mit Nifedipin oder Labetalol
verglichen. Die Ergebnisse sind uneinheitlich, doch kann der Schluss gezogen werden,
dass Dihydralazin nicht Mittel der ersten Wahl bei der Behandlung der schweren Hypertonie
in der Schwangerschaft sein sollte.
Empfehlung für die Praxis:
Dihydralazin kann bei der Hypertonie in der Schwangerschaft angewendet werden, bei
akuten Hochdruckkrisen auch intravenös.
2.8.5
Calciumantagonisten
Pharmakologie und Toxikologie.
Nifedipin (z. B. Adalat®, Corinfar®) ist der am häufigsten verordnete Calciumantagonist.
Außer bei Hypertonie werden Nifedipin und andere Calciumantagonisten bei koronarer
Herzkrankheit, als Tokolytika und als Antiarrhythmika verwendet.
Hinsichtlich der Anwendung in der Schwangerschaft sind Nifedipin und Verapamil (z.B.
Verapamil ratiopharm®) gefolgt von Amlodipin (z.B. Norvasc®) und Diltiazem (z.B. Dilzem®)
am besten untersucht. Zu Felodipin (z.B. Modip®), Gallopamil (z.B. Procorum®), Isradipin
(z.B. Lomir®), Lacidipin (Motens®), Lercanidipin (z.B. Carmen®), Manidipin (Manyper®),
Nicardipin (Antagonil®), Nilvadipin (z.B. Nivadil®), Nimodipin (Nimotop®), Nisoldipin
(Baymycard®) und Nitrendipin (z.B. Bayotensin®) liegen mit Ausnahme einiger Einzelfallberichte
(Casele 1997) keine ausreichenden Erfahrungen vor.
Im Gegensatz zu tierexperimentellen Ergebnissen gibt es beim Menschen keine Hinweise
auf eine Abnahme der uteroplazentaren Perfusion durch Calciumantagonisten. Experimentelle
Befunde weisen auf eine Calciumabhängigkeit früher embryonaler Differenzierungsvorgänge
hin, die durch Antagonisten gestört werden könnten. In diesem Zusammenhang wurden
distale Extremitätenfehlbildungen in einzelnen Tierversuchsreihen beobachtet (Yoshida
1995).
Bisherige Erfahrungen beim Menschen deuten nicht auf teratogene Effekte hin. Nach
Behandlung im 1. Trimenon fand sich unter 37 mit Nifedipin und 76 mit Verapamil exponierten
Neugeborenen keine erhöhte Rate konnataler Anomalien. Allerdings wiesen von 27 Neugeborenen,
deren Mütter mit Diltiazem behandelt wurden, vier Kinder (15%) Fehlbildungen auf,
zwei davon am Herzen. Vermutlich handelt es sich dabei um einen Zufallsbefund (zitiert
nach Briggs 2005). Magee (1996) fand bei 78 Schwangerschaften, davon waren 34 mit
Nifedipin, 32 mit Verapamil und 10 mit Diltiazem im 1. Trimenon exponiert, keine erhöhte
Rate an großen Fehlbildungen. Es fand sich jedoch sowohl eine höhere Abortrate als
auch ein niedrigeres Gestationsalter bei Entbindung, und das Geburtsgewicht der Kinder
war tendenziell geringer – Effekte, die nicht auf die Medikamentenexposition zurückgeführt
wurden. 1998 publizierte Sørensen seine Ergebnisse von 25 im 1. Trimenon exponierten
Schwangeren, bei deren Kindern keine erhöhte Fehlbildungsrate beobachtet wurde. Sørensen
und Czeizel (2001) analysierten in einer retrospektiven Vergleichsstudie mit Daten
des ungarischen Fehlbildungsregisters die Verträglichkeit der Calciumantagonisten
Ver-apamil, Nifedipin und Felodipin während des 1. Trimenons. Sie fanden weder Hinweise
für Extremitätenfehlbildungen noch ein erhöhtes Gesamtfehlbildungsrisiko. In einer
weiteren Publikation wurden 56 retrospektive Meldungen über unerwünschte Arzneimittelwirkungen
(UAW) nach Nifedipinexposition meist im 2. bzw. 3. Trimenon vorgestellt (Tabacova
2002). In 15 Fällen wurden Fehlbildungen beschrieben, davon 4 an den Extremitäten
(u.a. ein Fall mit Defekten an den Endphalangen und einer mit Syndaktylie). Da der
jeweilige Expositionszeitraum nicht genannt wird, kann eine Kausalität von Nifedipin
nicht bewertet werden. Der retrospektive Ansatz erlaubt zudem keine Berechnung einer
Fehlbildungsrate. Die bisher größte prospektive Studie mit 299 im 1. Trimenon behandelten
Schwangeren erbrachte ebenfalls weder eine erhöhte Fehlbildungsrate noch eine Häufung
von Extremitätenfehlbildungen. Am meisten vertreten waren Nifedipin (75) und Verapamil
(61), gefolgt von Diltiazem (39) und Amlodipin (38). Signifikante Unterschiede zur
Kontrollgruppe ergaben sich bei der Frühgeburtsrate. Ferner lieβ sich sowohl bei den
früh geborenen als auch bei den reif geborenen Kindern in einigen der Zentren eine
Tendenz zu einem geringeren Geburtsgewicht feststellen. Diese Effekte sind am ehesten
durch die Art und Schwere der meist zugrunde liegenden plazentaren Störungen zu erklären
und nicht durch die Medikamentenexposition (Weber-Schöndorfer 2004).
Nifedipin sollte nicht in Kombination mit Magnesium i.v. gegeben werden (Vetter 1991,
Waismann 1988), da dies zu gravierendem Blutdruckabfall mit fetaler Hypoxie oder Bradykardie
führen kann. Nifedipin kann auch nach sublingualer Anwendung zur rapiden Blutdrucksenkung
führen (Hata 1995). Gute Erfahrungen wurden mit Nifedipin als Tokolytikum gemacht
(siehe Abschnitt 2.14.6).
Khandelwal (2002) berichtet über 7 Schwangere mit chronischer Nierenerkrankung und
Proteinurie, von denen 4 Diltiazem im 2./3. Tri-menon einnahmen. Die Autoren diskutieren
Diltiazem als Alternative zu den in der Schwangerschaft kontraindizierten Angiotensin-II-Rezeptor-Antagonisten.
Verapamil, mit dem auch fetale supraventrikuläre Tachykardien behandelt werden, kann
Hyperprolaktinämie und Galaktorrhö verursachen (siehe auch unter Antiarrhythmika Abschnitt
2.8.17).
Zusammenfassend ergeben sich aus den bisherigen Publikationen keine Hinweise auf ein
nennenswertes teratogenes Risiko beim Menschen.
Empfehlung für die Praxis:
Calciumantagonisten gehören zu den Antihyper-tensiva der 2. Wahl in der Schwangerschaft,
wobei erprobte Mittel wie Nifedipin und als Antiarrhythmikum Verapamil (siehe dort)
zu bevorzugen sind. Eine Therapie mit einem weniger gut untersuchten Calciumantagonisten
im 1. Trimenon rechtfertigt weder einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch
noch invasive Diagnostik (siehe Kapitel 1.15). Eine hoch auflösende Ultraschallfeindiagnostik
kann aber zur Bestätigung der normalen Entwicklung des Fetus angeboten werden.
2.8.6
ACE-Hemmstoffe
Pharmakologie und Toxikologie.
Captopril (z.B. Lopirin®, Tensobon®) und Enalapril (z. B. Xanef®) sowie Benazepril
(z. B. Cibacen®), Cilaza-pril (Dynorm®), Fosinopril (z.B. dynacil®), Imidapril (Tanatril®),
Lisi-nopril (z.B. Acerbon®), Moexipril (z.B. Fempress), Perindopril (z.B. Coversum®),
Quinapril (z.B. Accupro®), Ramipril (z.B. Vesdil®, Delix®), Spirapril (z.B. Quadropril®)
und Trandolapril (z.B. Gopten®) sind Antihypertensiva, die das Angiotensin konvertierende
Enzymsystem hemmen (ACE-Hemmstoffe). Sie haben inzwischen eine starke Verbreitung
bei der Behandlung des Bluthochdrucks erfahren. Zu Captopril und Enalapril liegen
die meisten Erfahrungen vor. Es gibt nur wenige Fallberichte zu anderen ACE-Hemmstoffen
wie Lisinopril (Tomlinson 2000). In den bisher publizierten Fallserien mit über 200
im 1. Trimenon behandelten Schwangeren und weiteren über 450 von uns und anderen teratologischen
Zentren in Europa dokumentierten Schwangerschaften zeigten sich keine eindeutigen
Hinweise auf tera-togene Effekte beim Menschen (Briggs 2005, Burrows 1998, Bar 1997).
Eine methodisch kritisch zu bewertende Verschreibungsstudie fand ein von anderen Untersuchern
bisher nicht bestätigtes erhöhtes Fehlbildungsrisiko u.a. für Herzseptumdefekte (Cooper
2006). Tabacova (2003) analysierte 110 auffällige Schwangerschaftsverläufe nach Enala-pril-Exposition,
die der FDA in den USA gemeldet wurden. Vor allem, wenn die Substanz nach dem 1. Trimenon
eingenommen wurde, kam es zu Komplikationen. Besonders Oligohydramnion und daraus
resultierende Auffälligkeiten wie Kontrakturen, Verknöcherungsdefekte, Lun-genhypoplasie
und Niereninsuffizienz bis hin zu Anurie wurden beschrieben.
Seit längerem ist bekannt, dass ACE-Hemmstoffe in der zweiten Schwangerschaftshälfte
zur Mangeldurchblutung der Plazenta (de Moura 1995), zu fetaler Hypotonie, Oligohydramnion
und dialysepflichtiger Anurie beim Neugeborenen führen können (Murki 2005, Filler
2003, Lavoratti 1997). Der Pathomechanismus ist folgender: Die fetale Nieren- und
Urinproduktion beginnt Ende des 1. Trimenons. ACE-Inhibitoren setzen den Gefäßtonus
der Nierengefäße herab, so dass es zu einer reduzierten Urinproduktion kommt. Daraus
resultiert ein Oligohydramnion, da nach Schwangerschaftswoche 16 die fetale Urinproduktion
die Hauptquelle für die Amnionflüssigkeit ist. Eine hypoxämisch bedingte Dysgenesie
der Nierentubuli wurde beobachtet (Prasad 2003). Eine Hypoplasie der Schädelknochen
kann als Folge einer Minderperfusion und des durch das Oligohydramnion bedingten erhöhten
Druckes auf den Schädel beobachtet werden (Barr 1994). Derartige Entwicklungsstörungen
wurden auch tierexperimentell unter hoher Dosis beobachtet. Es gibt Fallbeschreibungen
zur Rückbildung eines Oligohydramnions nach Absetzen des ACE-Hemmstoffes (Muller 2002).
Inwieweit die nach Gabe von ACE-Hemmstoffen beobachteten Spontanaborte, intrauterinen
Fruchttode und Frühgeburten mit Atem-notsyndrom medikamentenbedingt oder dem behandelten
schweren Hypertonus zuzuordnen sind, ist nicht geklärt. Das gilt auch für die Fälle
des persistierenden Ductus arteriosus, der theoretisch mit durch Arzneimittel verursachte
erhöhte Bradykininkonzentrationen erklärt werden könnte.
Empfehlung für die Praxis:
ACE-Hemmstoffe sind in der gesamten Schwangerschaft kontraindiziert bzw. nur der Therapie
schwerer, nicht anders behandelbarer Erkrankungen vorbehalten. Da es keine Hinweise
auf ein nennenswertes teratogenes Potenzial in der Frühschwangerschaft gibt, rechtfertigt
eine Exposition im 1. Trimenon keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch (siehe
Kapitel 1.15). Umgehend sollte aber auf eines der empfohlenen antihypertensi-ven Mittel
umgestellt werden. Die fetale Entwicklung sollte per Ultraschallfeindiagnostik kontrolliert
und bei längerfristiger Therapie in der Spätschwangerschaft ein Oligohydramnion ausgeschlossen
werden. Beim Neugeborenen muss auf die Nierenfunktion und eine mögliche Hypotonie
geachtet werden, wenn im letzten Drittel der Schwangerschaft (versehentlich) mit ACE-Hemmstoffen
behandelt wurde.
2.8.7
Angiotensin-II-Rezeptor-Antagonisten
Pharmakologie und Toxikologie.
Candesartan (z.B. Blopress®), Eprosar-tan (z.B. Teveten®), Irbesartan (z.B. Aprovel®),
Losartan (Lorzaar®), Olmesartan (Votum®, Olmetec®) Tasosartan, Telmisartan (z. B.
Micar-dis®) und Valsartan (z.B. Diovan®) blockieren kompetitiv und selektiv den AT-I-Rezeptor,
so dass es zur Inhibition von Angiotensin II kommt. Die Sartane werden als Antihypertensiva
und bei Kardiomyopathie eingesetzt. Beim Diabetes mellitus mit Nierenbeteiligung vermindern
sie die Proteinurie und erhöhen die glomeruläre Filtrationsrate.
Erfahrungen zur Anwendung im 1. Trimenon gibt es nur wenige: In unserem Pharmakovigilanzzentrum
konnten wir bisher 66 Schwangerschaften prospektiv auswerten. Fast alle der 46 Lebendgeborenen
waren gesund. Grobstrukturelle Fehlbildungen traten in 2 Fällen auf. Ein zum Termin
geborenes Kind, dessen Mutter bis Schwangerschaftswoche 13 mit Valsartan behandelt
wurde, wies Gaumenspalte, offenen Ductus Botalli, Aortenisthmusstenose und einen Ventrikelseptumde-fekt
auf und war wachstumsretardiert. Eine weitere Schwangerschaft wurde wegen Exenzephalie
abgebrochen, und eine endete mit der Totgeburt eines äußerlich unauffälligen Kindes
(Schaefer 2003). Eine andere Publikation stellt 10 Schwangerschaften mit Einnahme
von Sar-tanen vor (Serreau 2005), von denen 7 nur bis zur Schwangerschaftswoche 13
exponiert waren: Drei gesunde Kinder wurden geboren. In einem Fall (Losartan 50 mg/Tag
bis Schwangerschaftswoche 8) wurden in Schwangerschaftswoche 30 ein Oligohydramnion
und eine intraute-rine Wachstumsverzögerung diagnostiziert. Das eine Woche später
geborene Kind hatte jedoch keine Auffälligkeiten, auch mit 18 Monaten war seine Entwicklung
altersentsprechend. Eine weitere Schwangerschaft wurde in Woche 17 abgebrochen (Irbesartan
bis zu 80 mg/Tag bis Schwangerschaftswoche 13). Der Fetus wies kraniofaziale Dysmor-phien,
eine Klinodaktylie und eine tubuläre Dysplasie mit Mikrozysten auf. Bei einer Zwillingsschwangerschaft
kam es in Woche 10 zum Abort des eines Embryos, in Woche 30 starb der zweite Fetus
(Valsartan 80 mg/Tag und Furosemid 60 mg/Tag bis zur Woche 6).
Bei Anwendung im 2. und 3. Trimenon bestehen die gleichen Risiken wie bei den ACE-Hemmstoffen.
Mindestens 19 Kasuistiken berichten über Oligo- oder Anhydramnion, Nierenfunktionsstörungen
bis zur Anurie, Lungenhypoplasie, Kontrakturen der Extremitäten, Hypoplasie des Schädeldaches
und Totgeburten bzw. Tod in der Neugeborenenpe-riode (Alwan 2005 A & B, Schaefer 2003).
Zwei Fallberichte (Valsartan bis Schwangerschaftswoche 22 und Valsartan plus Hydrochlorothiazid
bis Schwangerschaftswoche 24) mit Anhydramnion und eingeschränkter Nierenfunktion
zeigen, dass nach Absetzen der Sartane (bei Schwangerschaftswoche 22 bzw. 24) diese
Symptome zumindest teilweise reversibel sein können (Bos-Thompson 2005, Berkane 2004).
In der oben erwähnten Studie von Serreau (2005) nahm eine Schwangere Losartan und
Hydrochlorothiazid bis Woche 24 ein und bekam zum Termin ein gesundes Kind. In den
zwei anderen Fällen mit Therapie in der 2. Schwangerschaftshälfte entwickelte sich
ein Oligohydramnion. Eine dieser Schwangerschaften wurde abgebrochen, weil außerdem
eine Makrozephalie mit Ventrikulomegalie und hyperechogene Nieren im Ultraschall gesehen
wurden. Das andere Neugeborene zeigte lediglich eine vorübergehende Nierenfunktionsstörung.
Empfehlung für die Praxis:
Angiotensin-II-Rezeptor-Antagonisten sind in der gesamten Schwangerschaft kontraindiziert
bzw. schweren, nicht anders behandelbaren Erkrankungen vorbehalten. Da es keine Hinweise
auf ein nennenswertes teratogenes Potenzial in der Frühschwangerschaft gibt, rechtfertigt
eine Exposition im 1. Trimenon keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch (siehe
Kapitel 1.15). Umgehend sollte aber auf ein risikoärmeres Antihypertensi-vum umgestellt
werden. Bei längerer Therapie muss ein Oligohydramnion ausgeschlossen und die fetale
Entwicklung per Ultraschallfeindiagnostik kontrolliert werden. Beim Neugeborenen muss
auf die Nierenfunktion und eine mögliche Hypotonie geachtet werden, wenn im letzten
Drittel der Schwangerschaft behandelt wurde.
2.8.8
Clonidin
Pharmakologie und Toxikologie.
Clonidin (z.B. Catapresan®) ist ein Anti-hypertensivum mit vorwiegend zentralem Angriffspunkt.
Das Arzneimittel wird gut resorbiert, die Bioverfügbarkeit liegt bei 75 % und die
Halbwertszeit beträgt 8,5 Stunden.
Ein nennenswertes teratogenes Potenzial scheint Clonidin nicht zu besitzen. In einzelnen
Fällen wurde ein plötzlicher Fruchttod im Zusammenhang mit einer Clonidintherapie
beobachtet (Heilmann 1970). Dem stehen Berichte über gute Verträglichkeit und Wirksamkeit
in mehr als 200 Schwangerschaften gegenüber (Horvarth 1985). In einer Fallserie mit
59 im 1. Trimenon behandelten Schwangeren wurde keine erhöhte Fehlbildungsrate ermittelt
(zitiert in Briggs 2005).
Boutroy (1988) beschreibt eine vorübergehende Hypertonie bei einigen Neugeborenen,
die im Sinne einer Entzugssymptomatik interpretiert wurde. Huisjes (1986) untersuchte
Kinder im Alter von etwa 6 Jahren, deren Mütter während der Schwangerschaft eine Monotherapie
mit Clonidin erhalten hatten. Hyperaktives Verhalten und Schlafstörungen fanden sich
etwas häufiger im Vergleich zu einer Kontrollgruppe. Der Befund dieser kleinen Studie
ähnelt zwar Ergebnissen einer tierexperimentellen Untersuchung, wurde aber bisher
nicht durch andere klinische Untersuchungen bestätigt.
Empfehlung für die Praxis:
Clonidin ist als Reserveantihypertensivum in der Schwangerschaft zu betrachten. Seine
Anwendung stellt keine Indikation zum risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch oder
zu invasiver Diagnostik dar (siehe Kapitel 1.15).
2.8.9
Diazoxid
Pharmakologie und Toxikologie.
Diazoxid (Proglicem®) wird nach oraler Gabe vollständig resorbiert und ist plazentagängig.
Seine Halbwertszeit beträgt 20–40 Stunden. Zur antihypertensiven Behandlung wird es
heute kaum mehr angewandt, es ist allenfalls noch Reservemittel bei Blutdruckkrisen.
Nach Bolusinjektion beobachtete hypotone Zustände lassen sich durch kontinuierliche
Infusion oder wiederholte kleine Dosen vermeiden. Diazoxid hat eine diabetogene Wirkung
auf den Stoffwechsel der Schwangeren und nach länger dauernder Behandlung auch beim
Neugeborenen (Überblick bei Briggs 2005). Daher wird der Thiazidabkömmling Diazoxid
auch als orales Antihypoglykämikum angeboten.
Ferner wurden bei behandelten Müttern Hyperurikämie, Wasserre-tention und Wehenhemmung
beobachtet, bei Neugeborenen Alopezie, vermehrte Lanugobehaarung und verzögerte Knochenentwicklung
(Milner 1972).
Empfehlung für die Praxis:
Diazoxid sollte in der Schwangerschaft möglichst nicht eingesetzt werden. Eine dennoch
erfolgte Einnahme stellt keine Indikation zum risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch
oder zu invasiver Diagnostik dar (siehe Kapitel 1.15).
2.8.10
Nitroprussid-Natrium
Pharmakologie und Toxikologie.
Nitroprussid-Natrium (nipruss®) gehört zu den rasch wirksamen Vasodilatatoren. Es
wird ausschließlich i.v. im Bereich der Intensivmedizin angewandt. Nitroprussid ist
gut plazentagängig, erreicht beim Fetus die gleiche Konzentration wie im mütterlichen
Organismus und wird auch dort sehr schnell zu Zyanid und Thio-zyanat metabolisiert.
Daraus ergibt sich eine mögliche Toxizität, die bisher aber nicht als Fetotoxizität
beim Menschen beschrieben wurde. Hinweise auf ein teratogenes Potenzial liegen ebenfalls
nicht vor. Der Umfang an publizierten Erfahrungen ist aber für eine differenzierte
Beurteilung unzureichend.
Empfehlung für die Praxis:
Nitroprussid-Natrium sollte während der Schwangerschaft nicht eingesetzt werden. Eine
dennoch erfolgte Einnahme stellt keine Indikation zum risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch
oder zu invasiver Diagnostik dar (siehe Kapitel 1.15).
2.8.11
Reserpin
Pharmakologie und Toxikologie.
Reserpin (in Briserin®N), ein oral gut resorbierbares Sympatholytikum, wurde früher
vielfach zur Langzeittherapie bei hypertensiven Schwangerschaftskomplikationen eingesetzt.
Es führt zur Katecholamin- und Serotoninfreisetzung und wurde durch modernere Antihypertensiva
verdrängt. Nach Gabe von Reserpin im letzten Drittel der Schwangerschaft wurden gelegentlich
Atem- und Trinkstörungen bei Neugeborenen beobachtet. Ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko
besteht offenbar nicht.
Empfehlung für die Praxis:
Reserpin gehört nicht mehr zum Standardrepertoire einer antihypertensiven Behandlung.
Eine dennoch erfolgte Einnahme stellt keine Indikation zum risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch
oder zu invasiver Diagnostik dar (siehe Kapitel 1.15).
2.8.12
Weitere Antihypertensiva und Kardiaka
Pharmakologie und Toxikologie.
Prazosin (z.B. Minipress®), ein periphe-rer ci-Rezeptorenblocker, wurde in einzelnen
Fällen in Kombination mit β-Rezeptorenblockern erfolgreich bei essentieller Hypertonie
in der späten Schwangerschaft angewendet, ohne dass fetotoxische Wirkungen auftraten.
Zum teratogenen Potenzial gibt es zwar keine Hinweise, aber auch keine ausreichend
dokumentierten Verläufe, die eine fundierte Bewertung zulassen.
Zu den anderen peripheren α-Rezeptorenblockern Bunazosin (Andante®), Doxazosin (z.B.
Diblocin®), Indoramin (Wydora®), Tera-zosin (z.B. Heitrin®) und Urapidil (z.B. Ebrantil®)
liegen ebenfalls keine ausreichenden Erfahrungen zur Abschätzung des embryotoxischen
Potenzials vor.
Urapidil, intravenös injiziert, wird allerdings von der Deutschen Sektion der „International
Society for the Study of Hypertension in Pregnancy” als Alternative zu Dihydralazin
bei der Präeklampsiebehandlung empfohlen. Es soll gegenüber Dihydralazin den Vorteil
besitzen, dass der intrazerebrale Druck nicht ansteigt. Schulz (2001) kommt in einer
klinischen Vergleichsstudie zu dem Ergebnis, dass Urapidil eine gleichwertige antihypertensive
Alternative zu Dihydralazin bei Präeklampsie darstellt.
Guanabenz, Guanethidin (z.Z. nur in Augentropfen Thilodigon®), Guanfacin und Moxonidin
(z. B. Cynt®) gehören zur Gruppe der zentral wirksamen α-Rezeptoragonisten, zu denen
eine fundierte Risikobewertung mangels dokumentierter Erfahrungen nicht möglich ist.
Minoxidil (z.B. Lonolox®), ein Vasodilatator, der in lokaler Anwendung zur Förderung
des Haarwuchses benutzt wird, kann Einzelberichten zufolge eine Hypertrichosis beim
Fetus verursachen, die sich aber in den ersten 3 Lebensmonaten wieder verliert. Einzelne
Fallberichte zu Neugeborenen mit verschiedenen Fehlbildungen lassen keine differenzierte
Risikobewertung zu.
Auch zu dem Vasodilatator Diisopropylamin liegen keine ausreichenden Erfahrungen vor.
Gleiches gilt für Cicletanin (Justar®).
Phenoxybenzamin (Dibenzyran®), ein α-adrenerger Blocker, wird zur Behandlung des Phäochromozytoms
und bei neurogenen Blasenentleerungsstörungen eingesetzt. Publizierte Erfahrungen
zur Anwendung im 1. Trimenon gibt es nicht. In den Kasuistiken mit Exposition in der
späteren Schwangerschaft wurden keine Entwicklungsstörungen beschrieben.
Bosentan (Tracleer®) ist ein Endothelin-Rezeptor-Antagonist, der bei pulmonaler arterieller
Hypertonie zur Verbesserung der körperlichen Belastbarkeit eingesetzt wird. Es gibt
nur einen Fallbericht zu einer kompliziert verlaufenden Schwangerschaft mit versehentlicher
Einnahme von Bosentan und Sildenafil bis zur Entbindung in Schwangerschaftswoche 30.
Das wachstumsretardierte Mädchen hatte keine Fehlbildungen. Nach anfänglich gutem
Gedeihen verstarb es im Alter von 6 Monaten an einer RS-Virus-Infektion (Molelekwa
2005).
Sildenafil (Viagra®) wurde in einer experimentellen Vergleichstudie an menschlichen
Plazenten getestet: 27 Plazenten aus normalen Schwangerschaften und 12 aus solchen
mit fetaler Wachstumshemmung wurden mit und ohne Sildenafil untersucht. Sildenafil
verbesserte die plazentare Durchblutung bei den Plazenten, die aus Schwangerschaften
mit intrauteriner Wachstumsverzögerung stammten (Wareing 2005). In den USA soll Sildenafil
für die Indikation der pul-monalen Hypertonie zugelassen werden. Ein kürzlich publizierter
Fallbericht (siehe Bosentan) hat keine Fehlbildungen nach Sildenafil beobachtet.
Der Serotoninantagonist Ketanserin wird unter anderem auch bei arterieller Hypertonie
eingesetzt. Bisherige Erfahrungen bei der Behandlung der Präeklampsie haben keine
spezifischen fetotoxischen Effekte gezeigt.
Nesiritide ist ein neuer Wirkstoff zur Behandlung der Herzinsuffizienz. Erfahrungen
in der Schwangerschaft gibt es nicht.
Empfehlungen für die Praxis:
Urapidil kann in der Spätschwangerschaft als Alternative zu Dihydralazin bei der Präeklampsie
eingesetzt werden. Prazosin kommt im 2./3. Trimenon nur bei Versagen der primär empfohlenen
Antihyper-tensiva infrage. Phenoxybenzamin kann beim Phäochromozytom eingesetzt werden.
Die anderen genannten Substanzen sind mangels ausreichender Erfahrung in der Schwangerschaft
zu meiden. Besser erprobte, in den vorangehenden Abschnitten besprochene Mittel sind
vorzuziehen. Eine dennoch erfolgte Einnahme stellt keine Indikation zum risikobegründeten
Schwangerschaftsabbruch oder zu invasiver Diagnostik dar (siehe Kapitel 1.15).
2.8.13
Hypotonie und Antihypotonika
Eine Hypotonie ist im Prinzip ohne klinische Bedeutung für den Schwangerschaftsverlauf.
Sie sollte abgegrenzt werden von einer in der Schwangerschaft nicht seltenen Kreislaufdysregulation.
Bei deren Therapie stehen physikalische Maßnahmen, wie das Tragen von Kompressionsstrümpfen,
Beingymnastik vor dem Aufstehen, Kaltwasseranwendungen und Bürstenmassage im Vordergrund.
Auch Kaffee ist in Maßen erlaubt. Eine medikamentöse Therapie ist gewöhnlich nicht
indiziert.
In den 80er Jahren wurde, überwiegend auf den deutschsprachigen Raum begrenzt, den
Folgen einer chronischen Hypotonie in der Schwangerschaft besondere Aufmerksamkeit
gewidmet. Eine bis auf 17 % erhöhte Frühgeburtsrate schrieb man der unbehandelten
Hypotonie zu (Goeschen 1984), und es wurde für eine medikamentöse Behandlung plädiert.
Dabei wurde das Wirkungsprofil (z.B. Tonisie-rung auch des venösen Systems) bei Dihydroergotamin
günstiger als bei den adrenergen Substanzen beurteilt (Goeschen 1984). Andere Autoren
widersprachen einer Therapieempfehlung aus „fetaler” Indikation (Wolff 1990). In der
englischsprachigen Literatur finden sich zu diesem Thema und zur Risikobewertung der
betreffenden Arzneimittel praktisch keine Publikationen, da man dort die Hypotonie
in der Schwangerschaft nicht als therapiepflichtige Erkrankung betrachtet.
2.8.14
Dihydroergotamin
Siehe Abschnitt 2.1.13
2.8.15
Adrenerge Substanzen
Pharmakologie und Toxikologie.
Die adrenergen Substanzen Etilefrin (z.B. Effortil®) und Norfenefrin sowie Amezinium
(z.B. Supratonin®), Gepefrin, Midodrin (Gutron®), Oxilofrin (Carnigen®) und Pholedrin
werden als Antihypotonika verwendet.
Adrenerge Substanzen können im Tierversuch die Uterusdurchblutung reduzieren. Eine
teratogene Wirkung im therapeutischen Dosisbereich konnte man beim Menschen bisher
nicht beobachten. Jedoch sind die Erfahrungen zu gering, um ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko
auszuschließen. Die in unserem Pharmokovigilanzzentrum gesammelten Erfahrungen können
Risiken weder ausschließen noch bestätigen.
Empfehlung für die Praxis:
Im 1. Trimenon sind die genannten Substanzen zu meiden. Sollte eine Exposition während
der Organogenese stattgefunden haben, begründet dies jedoch keinen Schwangerschaftsabbruch.
Zur Bestätigung einer normalen Entwicklung des Fetus kann ein hoch auflösender Ultraschall
angeboten werden. Wenn erhebliche Symptome im 2./3. Trimenon zur medikamentösen Behandlung
einer Hypotonie zwingen, dürfen adrenerge Substanzen verordnet werden. Länger erprobte
Mittel wie Etilefrin sind zu bevorzugen. Auf Kombinationspräparate sollte verzichtet
werden.
2.8.16
Herzglykoside
Pharmakologie und Toxikologie.
Digitoxin (z.B. Digimerck®) wird zu 90–100% und Methyl- bzw. Acetyldigoxin (z.B. Novodigal)
zu etwa 80 % im Gastrointestinaltrakt resorbiert.
Methyldigoxin wird in der Leber demethyliert, Acetyldigoxin in der Darmmukosa deacetyliert.
Digoxin wird hauptsächlich über die Niere, Digitoxin über die Leber ausgeschieden.
Die Halbwertszeit von Digoxin beträgt etwa 40 Stunden, die von Digitoxin im Durchschnitt
7 Tage. Digoxin ist ein Stoffwechselprodukt des Digitoxins. Alle Digitalisglyko-side
sind plazentagängig, die fetale Plasmakonzentration entspricht der mütterlichen. Allerdings
scheint die Myokardempfindlichkeit beim Fetus geringer als beim Erwachsenen zu sein.
Digitalis wirkt im 1. Trimenon nach bisherigen Erfahrungen nicht teratogen (Aselton
1985). Toxische Effekte von Digitalisglykosiden beim Fetus in therapeutischer Dosis
sind bisher nicht bekannt. Eine Vielzahl von Fallberichten beschreibt die gute Verträglichkeit
bei der Behandlung von Tachyar-rhythmien sowohl der Schwangeren als auch des Fetus.
Empfehlung für die Praxis:
Digitalisglykoside können in der Schwangerschaft bei Herzinsuffizienz und als Antiarrhythmika
bei Mutter oder Fetus eingesetzt werden. Bei fetalen Tachykardien sind sie Antiarrhythmika
der 1. Wahl (siehe auch Abschnitte 1.6 und 2.8.17).
2.8.17
Antiarrhythmische Therapie der Schwangeren und des Fetus
Grundsätzlich sind zwei Situationen voneinander zu unterscheiden: die Therapie der
Schwangeren oder die des Fetus. Im ersten Fall ist ein geringer diaplazentarer Übergang
des Antiarrhythmikums wünschenswert, im zweiten Fall ein genügend großer, um den Fetus
via Mutter behandeln zu können. Supraventrikuläre und ventrikuläre Extrasysto-len
sind bei Mutter und Fetus in der Regel nicht behandlungsbedürftig.
Antiarrhythmika zur Behandlung der Schwangeren. Es ist selten, dass sich bei herzgesunden
Frauen erstmals in der Schwangerschaft eine „klassische” Tachykardie manifestiert.
Wenn bei supraventrikulä-ren Tachykardien, bei Vorhofflattern oder -flimmern und bei
ventriku-lären Tachykardien eine instabile Hämodynamik vorliegt, sollte ebenso wie
bei Kammerflattern oder -flimmern eine elektrische Kardioversion durchgeführt werden.
Da der Fetus außerhalb des Spannungsfeldes liegt und die Reizschwelle des fetalen
Herzens hoch ist, hat diese Behandlung keine Auswirkungen auf den Fetus. Ist die Patientin
hämo-dynamisch stabil, kann eine medikamentöse Kardioversion versucht werden. Eine
weitere Indikation für Antiarrhythmika ist die Rezidivprophylaxe. Bombelli (2003)
schildert drei therapierefraktäre Schwangere mit supraventrikulärer Tachykardie, die
im 3. Trimenon erfolgreich eine Katheterablation erhielten. Die dabei benötigten Durchleuchtungszeiten
müssen jedoch als Risiken bedacht werden. Schwangere mit kontinuierlicher behandlungsbedürftiger
Bradykardie werden mit Schrittmachern versorgt.
Antiarrhythmika zur Behandlung des Fetus. In ca. 0,4–0,6 % aller Schwangerschaften
kommt es, vor allem im 2. oder 3. Trimenon, zu einer fetalen (meist supraventrikulären)
Tachykardie (> 180 Schläge/Minute). Die meisten dieser Feten haben keine sichtbare
Fehlbildung des Herzens. Bei länger anhaltender Symptomatik kann eine Herzin-suffizienz/Kardiomyopathie
beispielsweise mit Pleura- oder Perikard-erguss, Aszites oder Hautödemen resultieren.
Bei einer Flüssigkeitsansammlung in zwei oder mehr Kompartimenten spricht man vom
Hydrops fetalis. Dieser kann einem intrauterinen Fruchttod vorausgehen. Das Medikament
der ersten Wahl ist Digitalis. Liegt ein Hydrops vor, wird möglicherweise keine ausreichende
Digoxinkonzentration im Serum erreicht. Dies könnte der Grund dafür sein, warum Digitalis
bei einem durch Tachykardie verursachten Hydrops häufig unzureichend wirkt (Oudijk
2002). Als zweite Wahl, in Kombination mit und ohne Digitalis, kommen Sotalol und/oder
Flecainid infrage (Doherty 2003, Oudijk 2003). Bei Flecainid dauert es ca. 72 Stunden
(maximal 14 Tage), bis der Umschlag in einen Sinusrhythmus zu erwarten ist (Krapp
2002). Einige Autoren diskutieren Verapamil als zweite Therapieoption (Athanssiadis
2004), andere halten es für kontraindiziert (Oudijk 2002). Falls diese Medikamente
nicht zum Sinusrhythmus führen, kann Adenosin direkt in die Vena umbilicalis appliziert
werden. Es gibt Beispiele dafür, dass der Hydrops sich allmählich nach erfolgreicher
Kar-dioversion zurückbildet (D' Souza 2002), das kann 8 Tage (Porat 2003) oder auch
4–6 Wochen dauern. Berichtet wird auch über einen Fetus mit einem Hydrops als Folge
einer tachykarden Rhythmusstörung, der über die Mutter mit Flecainid behandelt wurde.
Ein Sinusrhythmus stellte sich dennoch nicht ein. Es kam lediglich zur Abnahme der
Herzfrequenz, die aber ausreichte, um zu einer Rückbildung des Hydrops zu führen (Krapp
2002). Bei nicht erfolgreicher Therapie wird ggf. auch über eine vorzeitige Entbindung
diskutiert, um z.B. postnatal elektrisch kardiovertieren zu können. Im Allgemeinen
wird eine antiarrhythmische Therapie bei herzgesunden Schwangeren gut vertragen. Als
fetale Nebenwirkung kann es selten zur Bradykardie kommen, die bei direkter Adenosinapplikation
in die Nabelvene wahrscheinlicher ist als bei einer diaplazentaren Therapie. Nicht
auszuschließen ist auch ein arrhythmogener Effekt des Antiarrhytmikums, der zum Kammerflimmern
beim Fetus und zum intrauterinen Fruchttod führen kann.
Eine fetale Bradykardie kann zunächst durch ein kompensatorisch größeres Schlagvolumen
ausgeglichen werden. Eine fetale Herzfrequenz von 55/Minute wird als hämodynamisch
nicht mehr ausreichend beschrieben (Eronen 2001). Daraus kann sich eine Herzinsuffizienz
entwickeln, die bis zum Hydrops führen kann. Die Ursache ist meist ein AV Block III°,
der durch diaplazentare Autoantikörper der Mutter (meist anti-Ro-Antikörper) verursacht
wird. Als Therapieoption kommen die Gabe von halogenierten Steroiden (solange der
AV-Block noch nicht komplett ist) oder ggf. eine vorzeitige Entbindung infrage, um
postnatal einen Schrittmacher implantieren zu können. Auch Sympathomimetika wurden
versuchsweise eingesetzt.
Pharmakologie und Toxikologie.
Man ordnet Antiarrhythmika verschiedenen Klassen zu (IA, IB, IC, II, III und IV),
die bei unterschiedlichen Formen der Arrhythmie angewendet werden:
▪
Klasse-IA-Antiarrhythmika sind solche vom Chinidin-Typ. Dazu zählen außer dem Chinidin
selbst (z. B. Chinidin-Duriles®), Ajmalin (Gilurytmal®), Detajmium (Tachmalcor®),
Disopyramid, Prajmali-um (Neo-Gilurytmal®) und Procainamid (Procainamid Duriles®).
▪
Zu den Klasse-IB-Antiarrhythmika zählen die dem Lidocain (z.B. Xylocain®) verwandten
Mittel wie Aprindin, Mexiletin (Mexitil®), Phenytoin (z.B. Phenhydan®) sowie Tocainid.
▪
Zu den Klasse-IC-Antiarrhythmika gehören Flecainid (Tambocor®) und Propafenon (z.
B. Rytmonorm®) sowie Encainid und Lorcainid.
▪
Die Klasse-II-Antiarrhythmika umfassen die β-Rezeptorenblocker.
▪
Zu den Klasse-/II-Antiarrhythmika gehören Amiodaron (Corda-rex®) und der β-Rezeptorenblocker
Sotalol (z.B. Sotalex®) sowie Bretylium, Ibutilid, Almokalant und Dofetilid.
▪
Die Klasse-IV-Antiarrhythmika umfassen die Calciumantagonisten Verapamil (z.B. Falicard®,
Isoptin®), Gallopamil (Procorum®) und Diltiazem (Dilzem®).
Das Nukleosid Adenosin wird keiner der klassischen Antiarrhythmika-gruppen zugeordnet.
Klasse-IA-Antiarrhythmika: Chinidin wird nach oraler Zufuhr fast vollständig resorbiert
und erreicht in 1–4 Stunden seine maximale Serumkonzentration. Etwa 20 % werden über
die Nieren, 80 % über die Leber ausgeschieden. Als Vagusantagonist kann es trotz depressori-scher
Wirkung auf die Schrittmacherzellen die Herzfrequenz leicht erhöhen. Chinidin als
eines der ältesten Antiarrhythmika hat offenbar kein nennenswertes teratogenes Potenzial.
Es ist plazentagängig und erreicht beim Fetus ähnlich hohe Konzentrationen wie bei
der Mutter. Sowohl bei Schwangeren als auch bei Feten wurde es erfolgreich eingesetzt.
Der beschriebene wehenfördernde Effekt des Chinidins ist bei antiarrhythmischer Dosierung
nicht zu erwarten.
Auch Disopyramid soll eine wehenfördernde Wirkung besitzen (Briggs 2005). Fallberichte
in Zusammenhang mit Fehlbildungen nach Disopyramid oder Procainamid wurden bisher
nicht publiziert. Beide Substanzen sind plazentagängig. Procainamid wurde auch erfolgreich
bei fetaler Tachykardie eingesetzt. Zu Ajmalin, Detajmium und Praj-malium liegen keine
ausreichenden Erfahrungen zur pränatalen Verträglichkeit vor.
Klasse-IB-Antiarrhythmika: Die meisten der umfangreichen Erfahrungen mit Lidocain
in der Schwangerschaft liegen zur anästhetischen Anwendung vor. Zur antiarrhythmischen
Behandlung wird es parente-ral appliziert, da es oral nicht ausreichend wirkt. Cuneo
(2003) beschreibt einen Fetus mit QT-Verlängerung im EKG, der ventrikuläre Tachykardien
und einen intermittierenden AV-Block II° hatte und erfolgreich mit Lidocain therapiert
wurde. Ein teratogener Effekt beim Menschen ist nicht beschrieben. Lidocain ist gut
plazentagängig und kann bei hohen Konzentrationen beim Neugeborenen zur ZNS-Depression
führen, zur Anwendung unter der Geburt siehe Kapitel 2.16.6. Über eine völlig andere
Indikation wird in einer Studie aus Frankreich berichtet: die Anwendung von Lidocain
zur Herbeiführung des Fetozids in 50 Fällen. Feten (zwischen Schwangerschaftswoche
20 und 36) mit verschiedenen Fehlbildungen erhielten über die Nabelvene zunächst Sufentanil
(5 μg), dann 7 bis 30 ml Lidocain (1 %) und erlitten dadurch eine kardiale Asystolie
(Senat 2003).
Phenytoin ist ein teratogenes Antikonvulsivum (siehe Abschnitt 2.10.12). Mexiletin
ist plazentagängig und hat sich in wenigen Fallberichten bisher als nicht bedenklich
erwiesen. Zu Aprindin und Tocai-nid gibt es keine für eine Bewertung ausreichenden
Erfahrungen.
Klasse-IC-Antiarrhythmika: Eine Vielzahl an Fallberichten beschreibt die gute Wirksamkeit
von Flecainid bei der Behandlung von fetalen Tachykardien (Krapp 2002). Besonders
bei Feten, die schon einen Hydrops entwickelt haben, ist es Digitalisglykosiden überlegen.
Eine engmaschige Kontrolle der mütterlichen Serumkonzentration als Hinweis auf die
fetale Konzentration wird empfohlen (Rasheed 2003), damit Nebenwirkungen minimiert
werden können. In einer Kasuistik ist eine Hyperbilirubinämie beim Neugeborenen als
Nebenwirkung beschrieben (nach Athanassiadis 2004). Bisher ist im Gegensatz zu tierexperimentellen
Erfahrungen kein teratogener oder fetotoxischer Effekt beim Menschen erkennbar; allerdings
gibt es kaum Fallberichte zur Anwendung im 1. Trimenon. Propafenon ist bisher unzureichend
in der Schwangerschaft untersucht. Der Hersteller berichtet über mehr als 30 Schwangerschaften
unter Propafenon, aus denen kein nennenswertes vorgeburtliches Risiko abgeleitet werden
kann. In unserer Datenbank gibt es 7 im 1. Trimenon exponierte Schwangerschaften,
darunter einen Spontanabort und zwei Abbrüche wegen der mütterlichen Erkrankung. Die
4 lebend geborenen Kinder waren gesund.
Klasse-II-Antiarrhythmika: Zu β-Rezeptorenblockern siehe Abschnitt 2.8.2.
Klasse-III-Antiarrhythmika: Amiodaron hat eine sehr lange Eliminationshalbwertszeit
von 14–58 Tagen. Wenn eine fetale Exposition vermieden werden soll, müsste das Medikament
einige Monate vor der Konzeption abgesetzt werden. Folgende fetale Nebenwirkungen
sind gehäuft aufgetreten: fetale Bradykardien sowie konnatale Hypothyreo-sen, ausgelöst
durch den Jodanteil von 39 % (Lomenick 2004, Grosso 1998). In einigen Fallbeschreibungen
wurde Thyroxin intraamnial zur Substitution injiziert. Bei 26 intrauterin behandelten
Kindern fanden sich 5 mit einer Hypothyreose bei Geburt. Ein sechstes, das postnatal
weiter mit Amiodaron therapiert wurde, entwickelte im Alter von 3 Monaten eine Hypothyreose
(Strasburger 2004). Bartelena (2001) wertet 64 schon anderweitig publizierte Kasuistiken
aus. In 56 Fällen bestand eine mütterliche Indikation für die Therapie. Bei einem
Dutzend Kinder wurde eine (vorübergehende) Hypothyreose, in zwei Fällen zusammen mit
einer Struma, diagnostiziert. Diskrete neuropsycho-logische Auffälligkeiten fand man
bei einigen dieser Kinder, jedoch auch bei euthyreoten, so dass ein direkter neurotoxischer
Effekt von Amiodaron auf den Fetus diskutiert wird. Gelegentlich wurde eine QT-Verlängerung
im EKG der Neugeborenen gesehen. Intrauterine Wachstumsverzögerungen wurden beobachtet,
wobei ungeklärt ist, welchen Anteil daran Amiodaron, die Begleitmedikation (meist
β-Rezeptoren-blocker) und die Grunderkrankung hatte. Die meisten Kinder waren jedoch
unauffällig. Über die Neonatalzeit hinaus untersuchte Kinder wiesen keine erkennbaren
hypothyreosebedingten Funktionsdefizite auf (Magee 1999). Die Erfahrungen mit Amiodaron
im 1. Trimenon sind auf etwa 20 exponierte Schwangerschaften, die im Wesentlichen
unauffällig waren, begrenzt (Briggs 2005).
Sotalol ist aufgrund seines guten plazentaren Übergangs ein potentes Antiarrhythmikum,
das zur Behandlung von fetalen Tachykardien infrage kommt. In einer Fallserie von
18 Feten mit Tachykardie wurde eine Akkumulation im Fruchtwasser, nicht aber im Fetus
selbst festgestellt. Von den 14 Feten, die Sotalol als Monotherapie erhielten, konnte
bei 13 ein Sinusrhythmus wiederhergestellt werden, zwei wurden rückfällig, in einem
Fall kam es zum intrauterinen Fruchttod. Bei zwei der vier Feten, die zusätzlich Digoxin
erhielten, war die Behandlung erfolgreich (Oudijk 2003). Auch andere Fallbeschreibungen
zur Behandlung mütterlicher oder fetaler Arrhythmien lassen kein nennenswertes prä-natal
toxisches Risiko erkennen. Mit Symptomen einer β-Rezeptoren-blockade wie Bradykardie
und Hypoglykämie muss jedoch bei Neugeborenen gerechnet werden, wenn bis zur Geburt
behandelt wurde (siehe Abschnitt 2.8.2).
Bretylium und Ibutilid werden i.v verabreicht, das Erstere bei Kam-mertachykardie
und Kammerflimmern, das Zweite bei Vorhofflimmern. Zu Bretylium gibt es eine Publikation
zur durchgehenden Behandlung mit unauffälligem Kind (Gutgesell 1990), zu Ibutilid
liegen keine ausreichenden Erfahrungen über eine Anwendung in der Schwangerschaft
vor. In tierexperimentellen Studien zeigten Ibutilid, Almokalant und Dofetilid ein
Fehlbildungsmuster, das dem von Phenytoin ähnelt (Danielsson 2001).
Klasse-IV-Antiarrhythmika: Zu den bereits seit längerem eingeführten Calciumantagonisten
Verapamil und Diltiazem siehe Abschnitt 2.8.5. Tierexperimentelle Ergebnisse zeigten
zwar teratogene Entwicklungsstörungen, z.B. im Bereich der distalen Phalangen, die
bisherigen Erfahrungen beim Menschen erbrachten aber keine entsprechenden Hinweise.
Adenosin hat eine sehr kurze Halbwertszeit von weniger als 2 Sekunden und muss i.v.
injiziert werden. Die bisherigen Erfahrungen bei Schwangeren und mit der Behandlung
fetaler Arrhythmien ergaben keine fetotoxischen Effekte (Hubinont 1998).
Das gleiche gilt für die Elektrokardioversion einschließlich der implantierten Defibrillatoren.
Die Reizschwelle beim fetalen Herzen liegt relativ hoch, außerdem befindet sich der
Fetus außerhalb des direkten Spannungsfeldes bzw. Stromflusses (Joglar 1999).
Empfehlung für die Praxis:
Da Antiarrhythmika selbst Arrhythmien verursachen können, ist die Indikation einer
Behandlung kritisch zu prüfen. Mittel der Wahl für die Therapie der Schwangeren sind
in der Gruppe IA Chinidin, in IB Lidocain, in IC kommen sowohl Propafenon als auch
im 2. und 3. Trimenon Fle-cainid infrage. In Gruppe II sollten lang eingeführte β-Rezeptorenblocker
bevorzugt werden. Ist ein Klasse-III-Antiarrhythmikum erforderlich, sollte Sotalol
gewählt werden. In der Gruppe IV sind Verapamil und Diltiazem akzeptabel. Wegen erwiesener
Teratogenität ist Phenytoin kontraindiziert. Wurde mit einem der primär nicht empfohlenen
Mittel behandelt oder sind diese aus mütterlicher oder fetaler Indikation zwingend
erforderlich, rechtfertigt dies keinen risikobegründeten Abbruch der Schwangerschaft.
Abgesehen von gut untersuchten β-Rezeptorenblockern und Calciumantagonisten sollte
bei einer Exposition im 1. Trimenon eine Ultraschallfeinuntersuchung zur Bestätigung
einer normalen Entwicklung des Fetus angeboten werden. Wurde mitAmiodaron behandelt,
ist eine pränatale Strumaentwicklung per Ultraschall auszuschließen und auf eine mögliche
Hypothyreose beim Fetus und Neugeborenen zu achten. Zur Behandlung der supraventrikulären
Tachykardie beim Fetus kommen in erster Linie Digitalisglyko-side infrage. Als zweite
Option sollten Sotalol oder Flecainid versucht werden. Amiodaron ist als Reservemittel
zu betrachten, wenn andere Antiarrhythmika erfolglos waren.
2.8.18
Nitrate und andere Vasodilatatoren
Pharmakologie und Toxikologie.
Mononitrate (z. B. elantan®, Ismo 20®), Dinitrate (z.B. isoket®) und Nitroglyzerin
(Glyceroltrinitrat; z.B. Corangin® Nitrospray) wurden als Koronardilatatoren sowohl
zur Therapie nach Herzinfarkt als auch zur Prophylaxe bei Koronarspasmen in der Schwangerschaft
verwendet. Außerdem wurden sie erfolgreich bei Gallenkoliken eingesetzt, und es wurde
versucht, mit ihnen den Blutdruck bei Präeklampsie zu senken. Auch als Tokolytikum
werden sie eingesetzt (Lees 1994). Unerwünschte Wirkungen bei der Mutter, wie Kopfschmerz,
Schwäche, Schwindel, müssen bei der meist vitalen Indikation in Kauf genommen werden.
Ein toxischer Effekt auf den Fetus ist bisher nicht beobachtet worden. Allerdings
sind die Erfahrungen, besonders bei Anwendung im 1. Trimenon, begrenzt.
Andere so genannte Vasodilatatoren wie Amrinon, Buflomedil (z. B. Bufedil®), Dipyridamol
(z.B. in Aggrenox®), Molsidomin (z.B. Corva-ton®) sind bezüglich ihrer Wirksamkeit
umstritten, Dipyridamol soll eine Myokardischämie verstärken. Molsidomin ist im Tierversuch
kanzerogen, bei hohen Dosen wurde eine Methämoglobinbildung beobachtet.
Dokumentierte Erfahrungen zur Verträglichkeit in der Schwangerschaft liegen nur zu
Dipyridamol vor, das vorwiegend als Adjuvans zur Thromboseprophylaxe bei Herzklappenersatz
in den 80er Jahren verwendet wurde. Spezifische embryotoxische Effekte zeigten sich
nicht.
Empfehlung für die Praxis:
Nitrate dürfen bei entsprechender Indikation in der Schwangerschaft verabreicht werden.
Dipyridamol, Molsidomin und andere so genannte Vasodilatatoren sind dagegen kontraindiziert.
Eine dennoch erfolgte Applikation erfordert weder einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch
noch zusätzliche Diagnostik (siehe Kapitel 1.15).
2.8.19
Durchblutungsmittel
Pharmakologie und Toxikologie.
Pentoxifyllin (z.B. Trental®) und Nafti-drofuryl (z. B. Dusodril®, Naftilong®) werden
häufig beim so genannten Hörsturz verordnet, ohne dass ihre Wirksamkeit bis heute
belegt ist (Arzneimittelbrief 2004). Pentoxifyllin gehört zu den Methylxanthinen,
von denen sich auch Coffein und Theophyllin ableiten. Zwar gibt es weder zu Naftidrofuryl
noch zu Pentoxifyllin größere epidemiologische Arbeiten, doch sprechen bisherige Erfahrungen
in der Beratungspraxis und die Pharmakologie der Substanzen gegen ein nennenswertes
tera-togenes Potenzial. In unserem Pharmakovigilanzzentrum konnten wir bisher 26 Schwangere
nachverfolgen, die im 1. Trimenon Pentoxifyllin eingenommen hatten. Unter 18 lebend
geborenen Kindern (4 Spontanaborte und 4 Abbrüche aus persönlichen Gründen) befand
sich nur eines mit einer kleinen Fehlbildung (Nävus flammeus).
Ginkgo biloba (z.B. Gingopret) wird häufig verordnet. Hinweise auf spezifische teratogene
Schäden beim Menschen liegen bisher nicht vor, systematische Untersuchungen allerdings
auch nicht. Daher ist eine differenzierte Risikobewertung nicht möglich.
Hydroxyethylstärke siehe Kapitel 2.9.
Zu den Calciumantagonisten Flunarizin und Cinnarizin siehe Kapitel 2.4.9.
Erfahrungen zu anderen so genannten Durchblutungsmitteln sind nicht verfügbar.
Empfehlung für die Praxis:
Erscheint die Behandlung mit einem Durchblutungsmittel unerlässlich, können am ehesten
Pentoxifyllin oder Hydroxyethylstärke verwendet werden. Die Applikation eines der
anderen Mittel rechtfertigt keinen risikobegründeten Abbruch der Schwangerschaft (siehe
Kapitel 1.15). Im Zweifelsfall kann eine Ultraschallfeindiagnostik zur Bestätigung
einer normalen Entwicklung des Fetus angeboten werden.
2.8.20
Diuretika
Nur in seltenen Fällen, wie z.B. bei Herzinsuffizienz oder Lungenödem, sind Diuretika
in der Schwangerschaft indiziert.
Die Indikationsstellung hat sich gegenüber früheren Jahren geändert und unterscheidet
sich von der bei nicht schwangeren Patientinnen. Seit man die Ursachen der Präeklampsie
besser versteht (siehe Abschnitt 2.8.1), werden Hypertonie und Ödeme und vor allem
die Präeklampsie nicht mehr mit diesen Wirkstoffen behandelt. Diuretika können das
Plasmavolumen herabsetzen. Die daraus resultierende Minderperfusion der Plazenta beeinträchtigt
die intrauterine Versorgung zusätzlich.
2.8.21
Thiaziddiuretika
Pharmakologie und Toxikologie.
Hydrochlorothiazid (z.B. Esidrix®, Dis-alunil®), Chlortalidon (Hygroton®), Mefrusid
sowie Bendroflumethia-zid, Butizid (z.B. in Modenol®), Chlorazanil, Clopamid, Indapamid
(Natrilix®), Metolazon, Polythiazid, Trichlormethiazid und Xipamid (Aquaphor®) sind
Benzothiadiazidderivate bzw. -analoga, deren Wirkung auf die Hemmung der Resorption
von Natrium und Chlorid im distalen Tubulusbereich zurückzuführen ist. Diese Mittel
führen zu Kaliumverlusten und einer Verminderung des Plasmavolumens, außerdem hemmen
sie die Harnsäureausscheidung.
Benzothiadiazide werden gut im Magen-Darm-Trakt resorbiert und unverändert mit dem
Urin ausgeschieden. Sie passieren die Plazenta und können, sub partu gegeben, zu Elektrolytveränderungen
(Hypona-triämie, Hypokaliämie), zu Thrombozytopenie und reaktiver Hypoglyk-ämie (infolge
eines diabetogenen Effekts auf die Mutter) beim Neugeborenen führen. Außerdem wurde
eine Geburtsverzögerung durch die hemmende Wirkung auf die glatte Muskulatur beschrieben.
Bei Patientinnen mit schwerer Präeklampsie ist das intravasale Volumen in den meisten
Fällen vermindert; Benzothiadiazidderivate würden es noch zusätzlich reduzieren (Sibai
1985). Außerdem wurde eine Herabsetzung der Plazentaperfusion beobachtet, die über
eine Beeinträchtigung der fetalen Versorgung zu vermindertem intrauterinen Wachstum
führt. Klinisch gibt es bisher keinen Anhalt für teratogene Wirkungen dieser Saluretika,
dies haben publizierte Erfahrungen an insgesamt über 5.000 behandelten Schwangeren
ergeben.
Am besten untersucht ist Hydrochlorothiazid. In einer Gruppe von 567 im 1. Trimenon
behandelten Schwangeren wurde weder eine Häufung spezieller Anomalien noch eine erhöhte
Gesamtfehlbildungsrate gefunden (Übersicht in Briggs 2005).
Auch bei 46 Neugeborenen mit Indapamid-Exposition im 1. Trimenon waren weder Häufigkeit
noch Art der Anomalien auffällig (Übersicht in Briggs 2005).
Anhand dänischer und schottischer Register wurden 315 bzw. 73 Schwangerschaften analysiert,
in denen mindestens einmal Diuretika verschrieben worden waren (Olesen 2001). Um Thiaziddiuretika
handelte es sich dabei in 232 bzw. 31 Fällen. Fehlbildungen wurden bei 3 von 35 im
1. Trimenon behandelten Schwangeren beobachtet. Das Geburtsgewicht wurde nach Diuretikabehandlung
als signifikant erniedrigt beschrieben, vorzeitige Entbindungen waren häufiger. Die
Studie hat allerdings methodische Mängel.
Empfehlung siehe unter 2.8.25.
2.8.22
Schleifendiuretika
Pharmakologie und Toxikologie.
Furosemid (z.B. Furosemid Stada®, Lasix®), Etacrynsäure (z.B. Hydromedin®), Azosemid,
Bumetanid (Burinex®), Etozolin, Piretanid (z.B. Arelix®) und Torasemid (z.B. Torem®)
sind Schleifendiuretika und forciert wirkende Natriuretika.
Furosemid wird nach oraler Gabe gut resorbiert und fast unverändert mit Urin und Faeces
ausgeschieden. Seine Wirkung klingt nach 2–4 Stunden ab. Bei der Mutter kann Furosemid
zu einer Verminderung des intravasalen Volumens und zu einer Abnahme der utero-plazentaren
Durchblutung führen, so dass die Versorgung des Fetus beeinträchtigt sein kann (Sibai
1985). Beim Fetus kann es zu einer kurzfristigen Stimulierung der Urinproduktion kommen.
Über Prostaglandin E2 vermittelt, wird eine den physiologischen Verschluss des Ductus
arteriosus hemmende Wirkung bei Frühgeborenen mit resultierendem Atemnot-syndrom diskutiert.
Die Häufigkeit angeborener Fehlbildungen war bei 350 im 1. Trimenon exponierten Neugeborenen
allenfalls geringfügig erhöht (5,1%), ein spezifisches Muster war nicht erkennbar
(Briggs 2005). Insbesondere bei Kombination mit Aminoglykosiden wird eine ototoxische
Wirkung beschrieben (Brown 1991, Salamy 1989).
In zwei Fallberichten wurden nach Behandlung mit Etacrynsäure im 3. Trimenon eine
Schädigung des Innenohres (Jones 1973) und Störungen des Säure-Basen-Haushaltes (Fort
1971) beschrieben. Bisher gibt es keine anderen substantiellen Hinweise auf teratogene
Schäden beim Menschen. Der Umfang an dokumentierten Erfahrungen ist jedoch unzureichend
für eine differenzierte Risikobewertung.
Nach Therapie mit Bumetanid im 1. Trimenon wurden in einer Gruppe von 44 Schwangeren
zwei Kinder mit Fehlbildungen des Herzens geboren (zitiert in Briggs 2005). Zu den
anderen Schleifendiuretika Azosemid, Etozolin, Piretanid und Torasemid, liegen keine
Erfahrungen in ausreichendem Umfang vor. Eine spezifische teratogene Wirkung ist bisher
bei keinem der genannten Mittel zu erkennen.
Anhand dänischer und schottischer Register wurden 315 bzw. 73 Schwangerschaften analysiert,
in denen mindestens einmal Diuretika verschrieben worden waren (Olesen 2001). Um ein
Schleifendiureti kum handelte es sich dabei in 83 bzw. 31 Fällen. Fehlbildungen wurden
bei 5 von 43 im 1. Trimenon behandelten Schwangeren beobachtet. Das Geburtsgewicht
war in der dänischen Teilgruppe um 105 g höher. Da aber auch ein Diabetes gehäuft
auftrat (10,3 %), mag dieser den Befund erklären. Vorzeitige Entbindungen waren häufiger.
Die Studie hat allerdings methodische Mängel.
Empfehlung siehe unter 2.8.25.
2.8.23
Aldosteronantagonisten
Pharmakologie und Toxikologie.
Spironolacton (z.B. Aldactone®) ist der wichtigste Vertreter der Aldosteronantagonisten,
deren diuretische Wirkung auf der Hemmung von Rezeptoren für Aldosteron und andere
Mineralocorticoide an den Tubuluszellen beruht. Eine antiandrogene Wirkung ist ebenfalls
bekannt, die bei Frauen mit Hirsutismus und bei Jungen mit Pubertas praecox therapeutisch
genutzt wurde. Bei behandelten Männern kann sich eine Gynäkomastie entwickeln.
Spironolacton führt im Gegensatz zu den oben besprochenen Salure-tika zur Retention
von Kalium. Eine für Spironolacton typische Nebenwirkung ist daher die Hyperkaliämie.
Kanzerogene Eigenschaften wurden tierexperimentell beobachtet, ohne dass sich bisher
Hinweise auf eine klinische Relevanz dieser Befunde ergeben haben. Bei 31 im 1. Trimenon
exponierten Neugeborenen gab es keine Anzeichen für spezifische Fehlbildungen (Briggs
2005). Ein Fallbericht beschreibt eine Frau, die in 3 Schwangerschaften Spironolacton
eingenommen und 3 gesunde Kinder (1 Junge, 2 Mädchen) zur Welt gebracht hat, die sich
auch hinsichtlich antiandrogener Effekte unauffällig entwickelten. Das älteste Kind
wurde bis zum 13. Lebensjahr nachuntersucht (Groves 1995).
Eplerenon (Inspra®), ein neuer Aldosteronantagonist, wird als Zusatzmedikament zur
Verringerung des Risikos der kardiovaskulären Mortalität und Morbidität bei Patienten
mit linksventrikulärer Dys-funktion und klinischen Zeichen einer Herzinsuffizienz
nach kürzlich aufgetretenem Herzinfarkt angewendet. Erfahrungen in der Schwangerschaft
liegen bisher nicht vor.
Empfehlung siehe unter 2.8.25.
2.8.24
Amilorid und Triamteren
Pharmakologie und Toxikologie.
Amilorid (z.B. Tensoflux®) und der schwache Folsäureantagonist Triamteren (z.B. in
Dytide® H) gehören zu den kaliumsparenden Diuretika, deren Wirkung auf einer direkten
Beeinflussung des tubulären Transportes beruht. Sie sind im Gegensatz zu Spironolacton
keine Aldosteronantagonisten.
In einem Bericht wurden 318 Neugeborene nach Exposition mit Triamteren und 28 mit
Amilorid im 1. Trimenon beschrieben. Eine Häufung spezieller Fehlbildungen war nicht
zu beobachten (zitiert in Briggs 2005). Weitere Einzelfalldarstellungen zu Amilorid,
meist bei mütterlichem Bartter-Syndrom, beschreiben gesunde Neugeborene (Deruelle
2004, Almeida 1989).
Eine spezifische teratogene Wirkung von Amilorid oder Triamteren ist bisher nicht
zu erkennen.
Empfehlung siehe unter 2.8.25.
2.8.25
Mannit
Pharmakologie und Toxikologie.
Mannit (Mannitol; z. B. Osmofundin®) ist das am häufigsten eingesetzte osmotische
Diuretikum. Es wird intravenös appliziert, unverändert über die Niere ausgeschieden
und führt zu einer raschen Verminderung des interstitiellen Flüssigkeitsvolumens bei
gleichzeitiger Vermehrung der intravasalen Flüssigkeit mit daraus resultierender Hämodilution.
In der Vergangenheit wurde über eine günstige Wirkung von Mannit bei Anwendung in
der Schwangerschaft berichtet (Schwarz 1980). Heute spielt es bei der Therapie der
Präeklampsie keine Rolle mehr.
Empfehlung für die Praxis:
Diuretika gehören nicht zur Standardtherapie bei Schwangerschaftshochdruck und -ödemen.
Ihre Anwendung ist speziellen Indikationen vorbehalten. In einem solchen Fall ist
Hydrochlorothiazid Mittel der Wahl. Auch Furosemid kann zur Behandlung von Herz- oder
Niereninsuffizienz gegeben werden. Wird längerfristig therapiert, sind bei der Mutter
Elektrolyte und Hämatokrit zu überwachen und die Entwicklung eines Oligohydramnions
auszuschließen. Wird bis zur Geburt behandelt, sollte auf eine eventuelle Hypo-glykämie
beim Neugeborenen geachtet werden. Mannit darf in der Schwangerschaft angewendet werden,
wenn ein osmotisches Diuretikum erforderlich ist. Andere Benzothiadiaziddiuretika,
Etacrynsäure sowie andere Schleifendiuretika, Amilorid, Triamteren und Aldosteronantagonisten
sind während der Schwangerschaft möglichst zu meiden. Falls eine Therapie mit einem
Aldosteronantagonisten zwingend erforderlich ist, sollte Spironolacton gewählt werden.
Keines dieser Mittel stellt eine Indikation zum risikobegründeten Abbruch der Schwangerschaft
oder zu invasiver Diagnostik dar (siehe Kapitel 1.15).
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2.9
Antikoagulanzien, Fibrinolytika und Volumenersatzmittel
2.9.1
Indikationen zur Antikoagulation
In der Schwangerschaft steigt die Konzentration nahezu aller Gerinnungsfaktoren kontinuierlich
an. Gleichzeitig nimmt die Aktivität der Gerinnungsinhibitoren, wie z. B. Antithrombin
III (AT III), und des fib-rinolytischen Potenzials ab. Die Zunahme des Gerinnungspotenzials
erscheint im Hinblick auf die Sicherstellung einer effektiven Blutstillung unter der
Geburt nach Plazentalösung sinnvoll. Allerdings hat sie auch zur Folge, dass thrombembolische
Erkrankungen in der Schwangerschaft etwa 5-mal häufiger auftreten als sonst. Bei Schwangeren
mit entsprechenden anamnestischen Hinweisen oder aktuell erhobenen Befunden sollte
unbedingt eine Thromboseprophylaxe durchgeführt werden.
Generell ist die Therapie mit Antikoagulanzien in folgenden Fällen indiziert:
▪
bei thrombembolischen Vorerkrankungen,
▪
bei erblicher thrombophiler Diathese, wie z.B. Antithrombin-III-Mangel, Protein-C-oder
-S-Mangel, Faktor-V-Leiden (Resistenz gegen aktiviertes Protein C), Prothrombin-Gen-Mutation,
eingeschränktem Fibrinolysepotenzial und dem Antiphospholipidsyn-drom, einer erworbenen
Thrombophilie,
▪
bei Begleiterkrankungen mit hohem Thromboserisiko, wie z.B. Malignomen, Autoimmunerkrankungen
sowie nach operativen Eingriffen, Trauma, Herzklappenersatz oder bei anderen kardiovaskulären
Vorerkrankungen,
▪
bei Immobilisation, wie z.B. bei therapeutischer Bettruhe in der Schwangerschaft.
Seit Einführung der Thromboseprophylaxe sind Todesfälle aufgrund thrombembolischer
Erkrankungen erheblich seltener geworden. Anti-koagulanzien werden auch zur Therapie
thrombembolischer Ereignisse während der Schwangerschaft und im Wochenbett eingesetzt.
Da die verschiedenen o.g. Thrombophilien (und neuerdings auch eine möglicherweise
thrombosenbegünstigende Genmutation der Methylen-Tetrahydrofolatreduktase; Martinelli
2000) als eine der Ursachen rezidi-vierender Spontanaborte betrachtet werden, kann
eine Antikoagulan-zientherapie auch schwangerschaftserhaltend wirken (Brewster 1999).
2.9.2
Heparine
Pharmakologie.
Heparin (z.B. Calciparin®) ist ein kettenförmiges, sulfatreiches Mukopolysaccharid
mit einer Molekularmasse von etwa 15.000, das natürlicherweise in hohen Konzentrationen
in den Gewebemastzellen vorkommt. Heparin wirkt hauptsächlich über eine Aktivierung
des körpereigenen Glykoproteins Antithrombin III, das sich wiederum irreversibel an
Gerinnungsfaktoren bindet, wie z.B. Faktor IIa (Thrombin). Heparin ist die stärkste
organische Säure, die im Organismus vorkommt. Für die Gerinnungshemmung ist die stark
negative Ladung des Heparins wichtig. Salzbildung mit organischen Kationen wie Protamin
(siehe unten) hebt die Wirkung von Heparin prompt auf. Bei niedrig dosierter Heparintherapie
ist der gerinnungshemmende Effekt wahrscheinlich überwiegend eine Folge der Aktivierung
von Antithromin III und Faktor Xa, der in der Gerinnungskaskade eine Schlüsselrolle
einnimmt und dem Thrombin übergeordnet ist.
Heparin wird nach oraler Gabe kaum resorbiert. Es ist aber nach subkutaner, intravenöser
und intramuskulärer Applikation gut wirksam. Heparin wird in der Leber metabolisiert
und hat eine Halbwertszeit von nur 6 Stunden. Aufgrund seiner Struktur (Ladung und
Molekularmasse) gelangt Heparin nicht durch die Plazenta zum Fetus. Das gilt auch
für die niedermolekularen Heparine Certoparin (Mono-Embo-lex®), Dalteparin (Fragmin®),
Enoxaparin (Clexane®), Nadroparin (z.B. Fraxiparin®), Reviparin (Clivarin®) und Tinzaparin
(Innohep®) mit einer oberen Molekularmasse von etwa 5.000. Niedermolekulare Heparine
sind besser verträglich und weisen eine längere Halbwertszeit auf, so dass nur eine
oder zwei Injektionen pro Tag erforderlich sind.
Überempfindlichkeitsreaktionen sind selten. Bei niedermolekularen Heparinpräparaten
werden allergische Reaktionen an der Haut sowie die gefürchtete heparininduzierte
Thrombozytopenie (HIT), die paradoxerweise zur Thrombozytenaggregation führen kann,
seltener beobachtet als bei unfraktionierten Heparinpräparaten (Arzneimittelbrief
1995). Greer (2005) hat alle bis 2003 veröffentlichten Studien zu niedermolekularen
Heparinpräparaten analysiert und bei insgesamt fast 2.800 Schwangerschaften eine gute
Verträglichkeit und Wirksamkeit zur Thromboseprophylaxe und zur Abortprävention bei
entsprechender Vorgeschichte gefunden. Osteoporotische Knochenfrakturen traten bei
0,04% auf, die Autoren fanden keinen Fall von HIT. Neuere Fallsammlungen zu Enoxaparin
in 85 bzw. 24 Schwangerschaften (Huxtable 2005, Glueck 2004) und zu Nadroparin bei
30 Patientinnen (Ruffati 2005) kamen zu vergleichbaren Ergebnissen. Di Nisio und Mitarbeiter
(2005) sahen jedoch keinen ausreichenden Wirksamkeitsnachweis für eine Abortprävention,
wenn keine Gerinnungsstörung wie das Antiphospholipid-Syndrom vorliegt. Ihr Ergebnis
basiert auf den vorliegenden randomisierten Studien zur Abortprävention, die insgesamt
242 Schwangere umfassen.
Eine Untersuchung an 284 Schwangeren mit durchschnittlich 251 Tage dauernder Enoxaparin-Behandlung
ergab gegenüber einer nicht behandelten Kontrollgruppe keine erhöhte Komplikationsrate
bei vaginaler oder operativer Entbindung sowie bei Epiduralanästhesie, wenn Enoxaparin
mindestens 12 Stunden vorher abgesetzt wurde (Maslovitz 2005).
Toxikologie.
Entgegen früheren Berichten wirkt Heparin beim Menschen nicht embryo- oder fetotoxisch.
Die Langzeittherapie mit täglich 15.000 IE Heparin über mehrere Monate kann auch bei
Schwangeren über eine Aktivierung der Osteoklasten zur Osteoporose führen. Außerdem
besteht ein erhöhtes Blutungsrisiko, das gilt auch für niedermolekulare Heparine (Lindqvist
2000).
Bisher publizierte Erfahrungen mit tausend Schwangeren, die mit den niedermolekularen
Heparinen Certoparin, Enoxaparin, Daltepa-rin und Nadroparin behandelt worden waren
- davon in zwei neueren Studien allein 700 zu Enoxaparin - ergeben keine Hinweise
auf entwicklungstoxische Effekte oder ein besonderes Risiko im Vergleich zu den unfraktionierten
Heparinen (Rowan 2003, Lepercq 2001, Bar 2000, S⊝rensen 2000, Chan 1999, Sanson 1999,
Schneider 1997, Dulitzki 1996). Eher anekdotischen Charakter hat ein Fallbericht zur
Aplasia cutis bei Tinzaparin-Therapie ab Woche 10 (Sharif 2005). Daher können im Bedarfsfall
die Vorzüge niedermolekularer Heparine auch in der Schwangerschaft genutzt werden,
so beispielsweise bei schwerer, früh manifester Präeklampsie, Abortneigung und intrauteriner
Wachstums-retardierung infolge erworbener oder angeborener Thrombophilie (Bar 2000,
Kupferminc 1999). Obwohl niedermolekulare Heparine die menschliche Plazenta nicht
oder kaum überwinden (Greer 1999, Sanson 1999), wurden im Tierexperiment dennoch Auswirkungen
auf die fetale Gerinnung beobachtet.
Empfehlung für die Praxis:
Heparine können auch in der Schwangerschaft bei entsprechender Indikation, z. B. bei
angeborenen Thrombophilien, dem Antiphos-pholipid-Syndrom, bei Lupus erythematodes
etc. verordnet werden. Dies gilt auch für die ausreichend erprobten niedermolekularen
Präparate.
2.9.3
Thrombininhibitoren und Thrombozytenaggregationshemmer
Pharmakologie und Toxikologie.
Hirudinverbindungen wie Desirudin (Revasc®) und Lepirudin (Refludan®) sind gentechnologisch
hergestellte gerinnungshemmende Polypeptide des Leberegels. Sie wirken als Thrombininhibitoren.
Diese und auch das Heparinoid Danaparoid (Orgaran®) werden bei Heparinunverträglichkeit
(Heparininduzierte Thrombozytopenie, HIT) verwendet. Es gibt bisher keine Hinweise
darauf, dass diese Mittel eine entwicklungstoxische Wirkung entfalten. Zumindest Danaparoid,
zu dem etwa 50 dokumentierte Schwangerschaften vorliegen (Lindhoff-Last 2005, Schindewolf
2004, Myers 2003), soll die Plazenta nicht überschreiten. Zu Bivalirudin (Angiox®)
für die perkutane Koronarintervention liegen keine Erfahrungen in der Schwangerschaft
vor.
Ximelagatran (Exanta®) ist ein oral resorbierbarer Thrombininhibi-tor (Bioverfügbarkeit
20 %), der nach der Aufnahme in das aktive, lipo-phile synthetische Dipeptid Melagatran
umgewandelt wird (Molekularmasse 430). Melagatran wirkt als indirekter Inhibitor sowohl
von freiem als auch fibringebundenem Thrombin und hemmt darüber hinaus die Thrombinbildung.
Es verstärkt den fibrinolytischen Effekt von Gewebeplasminogen-Aktivator (t-PA) durch
Hemmung sowohl der Carboxypeptidase U als auch der Wirkung von thrombomodulinge-bundenem
Thrombin. Ximelagatran hat mit 3–4 Stunden eine kürzere Halbwertszeit als Vitamin-K-Antagonisten
und ist in fixer Dosierung ohne regelmäßige Kontrolle der Blutgerinnung zu verabreichen.
Erfahrungen zur Anwendung in der Schwangerschaft liegen nicht vor.
Argatroban (Argatra) ist ein parenteral anzuwendender Thrombin-inhibitor. Ausreichende
Erfahrungen in der Schwangerschaft liegen nicht vor. Fondaparinux (Arixtra®), ein
selektiver synthetischer Hemmstoff des aktivierten Faktor X (Xa) wird s.c. verabreicht.
Im Tierversuch ist es nicht teratogen. In-vitro-Versuche an der Plazenta des Menschen
ergaben keinen nennenswerten Übergang zum Fetus. Klinische Erfahrungen in der Schwangerschaft
liegen nicht vor.
Zu den Thrombozytenaggregationshemmern Clopidogrel (z.B. Isco-ver®) und Ticlopidin
(z.B. Tiklyd®) liegen nur Einzelfallberichte vor (Klinzing 2001, Ueno 2001). Diese
deuten ebenso wenig wie tierexperimentelle Ergebnisse auf teratogene oder fetotoxische
Risiken hin, erlauben jedoch keine differenzierte Bewertung der Verträglichkeit für
das Ungeborene.
Zur „Low-dose”-Therapie mit Acetylsalicylsäure siehe Kapitel 2.1.2.
Empfehlung für die Praxis:
Falls zwingend erforderlich, z. B. bei Heparinunver-träglichkeit oder unzureichender
Thrombozytenaggregationshemmung bzw. Unverträglichkeit im Zusammenhang mit einer „Low-dose”-Therapie
mit Acetylsalicylsäure, dürfen die o.g. Mittel verwendet werden. Bei vergleichbarer
Wirksamkeit könnte sich Ximelagatran gegenüber den entwicklungstoxischen Vita-min-K-Antagonisten
als vorteilhaft erweisen. Eine Therapie mit den genannten Mitteln im 1. Trimenon stellt
keine Indikation zum risikobegründeten Abbruch einer Schwangerschaft dar (siehe Kapitel
1.15). Eine Ultraschallfeinuntersuchung zur Bestätigung einer normalen Entwicklung
sollte angeboten werden.
2.9.4
Cumarinderivate
Pharmakologie.
Zu den oralen Antikoagulanzien mit Vitamin-K-Antago-nismus zählen die Cumarinderivate
Acenocoumarol, Phenprocoumon (z.B. Falithrom®, Marcumar®, Phenpro-ratiopharm®) und
Warfarin (Coumadin®) sowie die Indanedione Fluindion und Phenindion. Vitamin-K-Antagonisten
sind indirekt wirkende Antikoagulanzien, die aufgrund ihrer strukturellen Ähnlichkeit
mit Vitamin K dosisabhängig in der Leber die Synthese der Gerinnungsfaktoren II, VII,
IX und X hemmen.
Die meisten Vitamin-K-Antagonisten werden nach oraler Gabe vollständig resorbiert
und im Blut zu mehr als 95 % an Albumin gebunden. Die Halbwertszeit beträgt 24 Stunden
bei Acenocoumarol (einschließlich seiner Metaboliten), 36 Stunden bei Warfarin und
150 Stunden bei Phenprocoumon. Der langsame Wirkungseintritt ist darauf zurückzuführen,
dass es 1–3 Tage dauert, bis die Hemmung der Synthese der Gerinnungsfaktoren in der
Leber zu einer Konzentrationsminderung im Blut führt.
Cumarine werden in der Leber oxidativ metabolisiert und über die Nieren ausgeschieden.
Die Wirkung der Cumarine wird durch gleichzeitige Gabe anderer Medikamente beeinflusst,
die mit dem Cumarin um die arzneimitteloxidierenden Enzyme in der Leber einerseits
sowie um die Bindung an Plasmaproteine andererseits konkurrieren. Vitamin-K-Antagonisten
sind plazentagängig und erreichen den Fetus. Bei einem Neugeborenen wurde beispielsweise
ein Quick von 5 % gemessen, während der Wert der mit Phenprocoumon behandelten Mutter
> 25 % betrug (eigene Beobachtung).
Cumarinembryopathie.
Cumarinembryopathien wurden vor allem in den USA im Zusammenhang mit Warfarin veröffentlicht.
Das führte zu dem Begriff Warfarinembryopathie. Es ist nicht geklärt, ob dies auf
eine größere Publikationsfreudigkeit in den USA, wo hauptsächlich dieses Cumarin verwendet
wird, oder aufgrund der im Vergleich zu den anderen Mitteln häufigeren Anwendung,
einer höheren Dosierung oder stärkeren teratogenen Potenz des Warfarins zurückzuführen
ist.
Das teratogene Risiko von Vitamin-K-Antagonisten ist von zunehmender Aktualität, weil
immer mehr Frauen auch nach Herzklappenersatz eine Schwangerschaft austragen und Kardiologen
zunehmend eine durchgehende Cumarinantikoagulation in der Schwangerschaft empfehlen
mit dem Hinweis, dass diese die mütterliche Letalität durch Klappenthrombose zuverlässiger
senkt als eine durchgehende oder im 1. Trimenon eingeschaltete Heparintherapie (Chan
2000, Vitale 1999, Wellesley 1998).
In einer Übersicht aller seit 1955 veröffentlichten Berichte zu insgesamt 63 Cumarinembryopathien
stehen mit 51 von 63 Fällen (81%) Skelettanomalien an erster Stelle (van Driel 2002).
Eine Mittelgesichts-hypoplasie wurde in 47 Fällen beschrieben. Hierzu gehören eine
kleine, aufwärts gerichtete Nase mit Einbuchtungen zwischen Nasenspitze und Nasenflügeln,
tiefliegender Nasenwurzel und Fehlanlage des Nasenseptums. Ferner wurden Mikrognathie,
prominente Stirn, flache Gesichtsstruktur und punktförmige Kalzifizierungen in den
Epiphysen der langen Röhrenknochen, intrauterine Wachstumsretardierung sowie Gliedmaßenverkürzungen
beobachtet. Einzelfallberichte beschreiben u.a. Störungen der Augen- und Ohrenentwicklung,
Herzfehlbildungen, Asplenie, Nierenagenesie, Lippen-Kiefer-Gaumenspalten und Lungen-hypoplasie.
Eine kausale Assoziation ist zumindest bei den häufiger beobachteten Anomalien anzunehmen.
Teratogener Mechanismus.
Cumarinderivate entfalten ihre teratogene Wirkung wahrscheinlich über eine Synthesehemmung
verschiedener Vitamin-K-abhängiger Proteine in Knochen, Knorpel und ZNS. Nach dem
1. Trimenon können Mikroblutungen mit nachfolgender Narbenbildung zu Entwicklungsstörungen
des Zentralnervensystems führen (Hall 1980). Besonders gefürchtet sind größere zerebrale
Blutungen in der Spätschwangerschaft und unter der Geburt.
Die Cumarinembryopathie ähnelt der Chondrodysplasia punctata Conradi-Hünermann (Savarirayan
1999, Becker 1975). Im Zusammenhang mit diesem Krankheitsbild wurde die ätiologisch
relevante Mutation der Arylsulfatase E (ARSE) beschrieben, die zum (völligen) Aktivitätsverlust
dieses Enzyms führt. Die Cumarinembryopathie als identischer Phänotyp wird mit einer
cumarinbedingten ARSE-Hemmung in Zusammenhang gebracht (Savarirayan 1999).
Häufigkeit von Fehlbildungen.
In der älteren Literatur wird das Fehlbildungsrisiko mit 15–30% angegeben. Eine Analyse
aller publizierten Fallserien und Kohortenstudien errechnet nur noch rund 6 % (23/394)
Cumarinembryopathien, selbst wenn während der gesamten Schwangerschaft mit Cumarinderivaten
behandelt wird. Insgesamt wurden in diesem Review 17 Studien mit zusammen 979 Schwangerschaften
analysiert (449 Acenocoumarol, 327 Warfarin, 203 nicht spezifiziert) (van Driel 2002).
In einer weiteren Fallserie, die 71 Schwangere mit Warfa-rintherapie bei künstlicher
Herzklappe umfasst, wurden 4 Kinder mit Zeichen einer Cumarinembryopathie registriert
(Cotrufo 2002). Hier wie in einer anderen Untersuchung (Vitale 1999) wurde ein ungünstiger
Schwangerschaftsausgang vor allem bei höheren Warfarindosen (> 5 mg) beobachtet.
Die bisher größte, prospektive Kohortenstudie mit 666 Frauen, bei denen in eine Schwangerschaft
hinein mit einem oralen Antikoagulanz behandelt wurde, ermittelt ebenfalls nur ein
geringes Cumarinembryo-pathie-Risiko (Schaefer 2006). In dieser, von uns durchgeführten,
mul-tizentrischen Studie wurden 226 Schwangere mit Acenocoumarol the-rapiert, 280
mit Phenprocoumon, 99 mit Fluindion, 2 mit Phenindion und 63 mit Warfarin. Vier der
Patientinnen erhielten 2 Vitamin-K-Ant-agonisten.
Im Vergleich zu einer nichtbehandelten Kontrollgruppe fand sich ein mit 4,9% vs. 1,4%
(OR 3,86) signifikant erhöhtes Risiko für große Fehlbildungen nach Exposition im 1.Trimenon.
Die beobachteten Fehlbildungen waren jedoch heterogen, nur zwei Cumarinembryopathien
unter insgesamt 356 Lebendgeborenen wurden beobachtet (0,6%).
Andere Auswirkungen einer Cumarintherapie.
Weitere Ergebnisse der mul-tizentrischen Kohortenstudie (Schaefer 2006) sind ein geringeres
Geburtsgewicht, das nur zum Teil durch die erhöhte Frühgeburtenrate erklärt wurde.
Spontanaborte traten 3-mal häufiger unter Cumarintherapie auf, am höchsten war die
Rate bei Phenprocoumon mit 42% gegenüber 14 % in der Kontrollgruppe. Natürlich kann
auch die Grunderkrankung der Mütter, wie Herzklappendefekte, Embolien, verschiedene
Koagulopathien, zum ungünstigeren Abschneiden der Cumarin-gruppe beigetragen haben.
Die mütterliche Erkrankung war in einigen Fällen auch der Grund für den medizinisch
indizierten Schwangerschaftsabbruch. Ein Problem stellen die undifferenzierten, das
terato-gene Risiko übertreibenden Warnhinweise auf Packungsbeilagen dar, die häufig
zu einer erheblichen Verunsicherung von Patientinnen und Ärzten führen.
Sensible Phase.
Weder in den früher publizierten Fallberichten noch bei den von uns beobachteten,
ausschließlich vor Schwangerschaftswoche 9 exponierten 235 Lebendgeborenen ergeben
sich Hinweise darauf, dass bis Schwangerschaftswoche 8 p.m. ein nennenswertes Risiko
für eine Cumarinembryopathie besteht. Es wird gelegentlich von einer sensiblen Phase
in den Wochen 6 bis 9 gesprochen. Eine kritische Analyse derjenigen Fallberichte,
die als Beleg für ein Embryopathierisiko vor Woche 9 p.m. interpretiert werden könnten
(Hall 1989, Balde 1988, Ruthnum 1987, Lapiedra 1986, Cox 1977), lässt Zweifel an der
Richtigkeit dieser Hypothese aufkommen. Es ist zumindest nicht eindeutig, dass in
diesen Fallberichten ausschließlich vor Woche 9 p.m. behandelt wurde, dass es sich
um cumarinspezifische Anomalien handelte und dass nicht weitere teratogene Faktoren
im Spiel waren. Die zwei in unserer Studie erfassten typischen Embryopathien ereigneten
sich bei Schwangeren, die deutlich länger als bis Woche 8 bzw. ausschließlich danach
behandelt wurden. Andererseits könnte das erhöhte Spontanabortrisiko Ergebnis einer
embryotoxischen Schädigung sein. Es kann aber auch ebenso wie die erhöhte Rate an
Frühgeburten, Folge der Grunderkrankung sein.
Mentale Entwicklung.
Die spätere Entwicklung im Alter von 7 bis 15 Jahren wurde in einer Studie an etwa
300 Kindern mit pränataler Cumarin-exposition untersucht (van Driel et al., 2001,
van Driel et al., 2002, Wesseling et al., 2000, Wesseling et al., 2001). Nur zwei
Kinder in dieser Gruppe wiesen bei der Geburt typische Zeichen einer Cumarinembryopathie
auf. Diese waren im Alter von 9 bzw. 13 Jahren normal entwickelt (van Driel 2002).
Die durchschnittliche Größe der exponierten Kinder unterschied sich nicht von einer
Kontrollgruppe. Keines der exponierten Kinder war hinsichtlich seiner neurologischen
Entwicklung deutlich auffällig. Lediglich leichte neurologische Abweichungen traten
etwas häufiger auf, wenn die Mutter im 2. oder 3. Trimenon behandelt wurde. Der durchschnittliche
IQ unterschied sich nicht signifikant von der Kontrollgruppe. Allerdings wurden in
der Cumaringruppe mit 11 gegenüber 3 mehr Kinder mit einem IQ<80 gezählt. Diese Kinder
wiesen keine typischen Dysmor-phiezeichen auf. Auch hinsichtlich der Verhaltensentwicklung
gab es keine Häufung von problematischen Entwicklungen, allenfalls leichte Differenzen
bei einzelnen Tests. Drei andere Studien mit insgesamt 72 Kindern fanden ebenfalls
keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich körperlicher und mentaler Entwicklung
(Olthof 1994, Wong 1993, Chong 1984).
Empfehlung für die Praxis:
Da Vitamin-K-Antagonisten, wie z. B. das Phenpro-coumon, teratogen sind, ist bei Planung
einer Schwangerschaft und weiter bestehender Indikation für eine Gerinnungshemmung
ein anderes Antikoagulanz in Betracht zu ziehen. Wenn ein Wechsel vor der Schwangerschaft
für die Mutter zu riskant ist, erscheint es verantwortbar, bis in die Frühschwangerschaft
hinein weiter zu behandeln. Dies erhöht zwar das Abortrisiko, und auch ein erhöhtes
Fehlbildungsrisiko ist bei Therapie bis in die Frühschwangerschaft nicht auszuschließen.
Ein Risiko für Cumarinembryopathien ist aber bei einer Behandlung ausschließlich bis
Woche 8 p.m. nicht zu erkennen. Bei einigen Erkrankungen, vor allem bei speziellen
Herzklappenprothesen, ist eine durchgehende Behandlung der Schwangeren aufgrund eines
hohen Thrombose- bzw. Embolierisikos erforderlich. Aufgrund der vor allem nach Schwangerschaftswoche
8 bestehenden Gefahren für eine Cumarinembryopathie und für Hirnblutungen sollte die
früher verbreitete Empfehlung einer Wiederaufnahme der Therapie ab Ende des 1. Trimenons
sehr kritisch betrachtet werden. Entweder ist eine durchgehende Behandlung zur Sicherheit
der Mutter erforderlich oder es sollte spätestens in der Frühschwangerschaft für die
gesamte Gravidität auf andere Antikoagulan-zien umgestellt werden. Der Abbruch einer
gewünschten und intakten Schwangerschaft aufgrund einer (versehentlichen) Exposition
in der (Früh-)Schwanger-schaft ist nicht indiziert. Es gibt jedoch Situationen, in
denen die Erkrankung selbst gegen das Austragen einer Schwangerschaft spricht. Mit
einem hoch auflösenden Ultraschall sollte die Entwicklung des Fetus im Fall einer
Exposition kontrolliert werden.
2.9.5
Vitamin K
Pharmakologie und Toxikologie.
Vitamin K ist das Antidot bei der Cuma-rinbehandlung. Es hat eine besondere Bedeutung
in der Therapie der verstärkten Blutungsneigung bei Neugeborenen. Bei diesen besteht
ein relativer Vitamin-K-Mangel und zwar einerseits wegen der noch fehlenden Besiedlung
des Darmes mit Kolibakterien, die beim Erwachsenen Vitamin K2 aus Vitamin K1 bilden,
und andererseits aufgrund der entwicklungsbedingten geringen Syntheseleistung der
Leber, die in Gegenwart von Vitamin K die für die Blutgerinnung wichtigen Proteine
bildet. Man unterscheidet Vitamin
K1
(Phytomenadion; z.B. Konakion®), Vitamin K2
(siehe oben) und die synthetischen Derivate Vitamin K3 (Me-nadiol; Adek Falk®), K4,
K5
etc.
Zur Gabe von Vitamin K in der Schwangerschaft liegen hauptsächlich für das 3. Trimenon
Erfahrungen vor, weil es vor der Geburt zur Prophylaxe der verstärkten Blutungsneigung
bei Neugeborenen verordnet wurde. Bisher konnte weder ein Übergang von Vitamin K1
auf den Fetus nachgewiesen werden noch eine Verbesserung des Gerinnungsstatus (Anai
1993; siehe auch Abschnitt 2.10.9). Eine Menadiol-Thera-pie bei der Mutter vor der
Geburt soll eine Hyperbilirubinämie beim Neugeborenen begünstigen. Der vor einiger
Zeit geäußerte Verdacht, dass die parenterale Applikation von Vitamin K beim Neugeborenen
eine spätere Malignombildung begünstigen könnte, gilt inzwischen als widerlegt.
Empfehlung für die Praxis:
Neugeborene erhalten routinemäßig bei den ersten drei Vorsorgeuntersuchungen oral
1–2 mg Vitamin K1. Falls die Mutter Medikamente einnimmt, die Vitamin K antagonisieren
(z. B. bestimmte Antiepileptika -siehe dort sowie Rifampicin und Cumarinantikoagulanzien)
oder wenn es sich um Frühgeborene oder andere Risikogeburten handelt, sollte das Kind
unmittelbar post partum 1 mg parenteral (i.m.) erhalten. Falls eine parenterale Verabreichung
nicht infrage kommt, sollten durch mütterliche Medikamente mit Vitamin-K-Antagonismus
gefährdete Neugeborene zusätzlich zu den Vorsorgeuntersuchungen in den ersten Lebenswochen
2-mal pro Woche 1–2 mg Vitamin K1 oral erhalten.
2.9.6
Protamin
Pharmakologie und Toxikologie.
Protamin-HCl (Protamin ICN®) ist bei Gerinnungsstörungen infolge der Überdosierung
von Heparin auch in der Schwangerschaft als Antidot indiziert. Protamine sind niedermolekulare
basische Proteine aus Fischspermien, die sich mit dem stark sauren Heparin zu stabilen
Salzen verbinden. Diese weisen keine gerin-nungshemmende Wirkung mehr auf. Die Protamin-Heparin-Komplexe
werden über die Nieren ausgeschieden. Untersuchungen über embryotoxische Wirkungen
von Protamin liegen nicht vor. Gegen niedermole-kuleres Heparin soll das Antidot Protamin
schwächer wirksam sein.
Empfehlung für die Praxis:
Protamin-HCl darf im Fall einer Heparinüberdosie-rung auch in der Schwangerschaft
eingesetzt werden.
2.9.7
Fibrinolyse
Fibrinolytika lösen thrombotische Gefäßverschlüsse auf. Fibrin, das Endprodukt der
Blutgerinnung, ist ein Polymer, das durch Plasmin, eine Peptidase, in wasserlösliche
Bruchstücke gespalten wird. Dies führt zu einer Auflösung des Fibrins und damit des
Thrombus. Plasmin wiederum entsteht aus dem körpereigenen Glykoprotein Plasminogen
unter dem Einfluss körpereigener Aktivatoren, wie z. B. Urokinase und Gewebs-Plasminogen-Aktivator.
Außerdem fördern auch körperfremde Stoffe wie Streptokinase die Bildung von Plasmin.
Schließlich gibt es körpereigene (Antithrombin III) und synthetische Hemmstoffe (Tranexamsäure,
p-Aminomethylbenzoesäure = PAMBA) des Plasmins, die bei Blutungen infolge einer fibrinolytischen
Therapie rasch wirksam sind.
2.9.8
Streptokinase
Pharmakologie und Toxikologie.
Streptokinase (z.B. Streptase®) ist ein Fibrinolytikum, das aus Streptokokken gewonnen
wird und durch Aktivierung des inaktiven Plasminogens zum wirksamen Plasmin eine Fibri-nolyse
frischer, nur wenige Stunden alter Thromben bewirken kann. Zur Therapie mit Streptokinase
in der Schwangerschaft liegen Berichte zu etwa 200 vor allem nach dem 1. Trimenon
behandelter Frauen vor. Diese ergaben weder teratogene Effekte noch andere gravierende
Auswirkungen (Nassar 2003, Anbarasan 2001, Henrich 2001, Turrentine 1995). Auch tierexperimentell
liegen keine Hinweise auf Teratogenität vor.
Streptokinase gelangt beim Menschen allenfalls in Spuren durch die Plazenta (Ludwig
1965). Streptokinase kann jedoch als Antigen die Bildung von Immunantikörpern hervorrufen,
die plazentagängig sind und die zu einer passiven Immunisierung der Frucht führen.
In der Perinatal-phase birgt die fibrinolytische Therapie die Gefahr gesteigerter
Blutverluste.
Empfehlung für die Praxis:
Streptokinase darf in der Schwangerschaft bei vitalen Indikationen eingesetzt werden.
2.9.9
Andere Fibrinolytika
Urokinase (z. B. Corase®) ist ein in verschiedenen Organen vorkommender Aktivator
des Plasminogens, der die Auflösung von physiologisch auftretenden Fibringerinnseln
fördert, wie z.B. im Menstrualblut. Über den Einsatz von Urokinase als Fibrinolytikum
in der Schwangerschaft liegen einige Fallberichte mit unauffälligem Ausgang vor (La
Valleur 1996, Turrentine 1995). Auch tierexperimentell gibt es keine Hinweise auf
Teratogenität.
Alteplase (Gewebs-Plasminogen-Aktivator, rt-PA; Actilyse®) ist ein körpereigener Faktor
aus Endothelzellen, der seine Aktivität vorwiegend bei Kontakt mit Fibrin aus Thromben
entwickelt. Zur Anwendung in der Schwangerschaft liegen noch keine ausreichenden Erfahrungen
vor. Dies gilt auch für Anistreplase (Eminase®), APSAC (acetylierter Plasmino-gen-Streptokinase-Aktivator-Komplex)
und Reteplase (Rapilysin®).
Empfehlung für die Praxis:
Die Fibrinolytika Urokinase, Alteplase (rt-PA), Anistreplase, APSAC und Reteplase
sind vitalen Indikationen vorbehalten. Besondere Vorsicht ist in der Perinatalphase
geboten. Eine Behandlung im 1. Trimenon rechtfertigt weder einen risikobegründeten
Abbruch der Schwangerschaft noch eine invasive Diagnostik (siehe Kapitel 1.15).
2.9.10
Antifibrinolytika
Epsilon-Aminocapronsäure bzw. Aminohexansäure (Epsilon-Amino-capronsäure Roche®) wirkt
im Tierversuch beim Kaninchen nicht tera-togen, für den Menschen liegt nur ein Fallbericht
über einen unauffälligen Verlauf vor. Bei der Therapie mit diesem antifibrinolytisch
wirkenden Medikament besteht die Gefahr einer gesteigerten Thrombenbildung mit Embolien
und Nierenversagen durch Thrombosierung der glomerulären Kapillaren.
p-Aminomethylbenzoesäure (PAMBA, Gumbix®) und Tranexamsäure (z. B. Cyklokapron®) sind
synthetische Antifibrinolytika, die ähnlich wie Epsilon-Aminocapronsäure wirken und
therapeutisch bei Koagulopathien mit gesteigerter Fibrinolyse eingesetzt werden. Einige
Fallberichte zu Tranexamsäure (z.B. Lindoff 1993) sowie tierexperimentelle Ergebnisse
deuten nicht auf erhebliche fetotoxische Risiken hin. Im Nabelschnurblut wurden 70
% der mütterlichen Konzentration gemessen.
Aprotinin (Trasylol®) ist ein Polypeptid, das eine große Zahl von Pro-teinasen hemmt,
zu denen auch Plasmin und Aktivatoren des Plasmi-nogens gehören, so dass auf diese
Weise die antifibrinolytische Wirkung zu erklären ist. Aprotinin kann als artfremdes
Protein (aus Rinderlunge) Überempfindlichkeitsreaktionen bis hin zum Schock verursachen.
Erfahrungen mit dieser Therapie in der Schwangerschaft liegen nicht vor.
Empfehlung für die Praxis:
Für Epsilon-Aminocapronsäure, p-Aminomethylbenzoesäure, Tranexamsäure und Aprotinin
gibt es keine schwangerschaftsspezifischen Indikationen. Eine Behandlung im 1. Trimenon
rechtfertigt weder einen risikobegründeten Abbruch der Schwangerschaft noch invasive
Diagnostik (siehe Kapitel 1.15).
2.9.11
Volumenersatzmittel
Zu den Volumenersatzmitteln gehören Dextrane, Gelatinederivate, Hydroxyethylstärke
und Humanalbuminlösungen. Bei entsprechender Indikation, insbesondere beim Kreislaufschock,
können sie auch bei Schwangeren indiziert sein, nicht jedoch zur Hämodilution, die
mit Elektrolytlösungen - wenn überhaupt - ebenso wirkungsvoll zu erreichen ist.
Bluttransfusionen verlangen in der Schwangerschaft aus virologi-scher Sicht (HIV,
Hepatitis, Cytomegalie) eine besonders strenge Indikationsstellung.
Dextrane
Dextrane sind Glukopolysaccharide, die als Volumenersatzmittel eingesetzt werden,
und zwar mit einer Molekularmasse (MM) von 60.000 als Dextran 60 (z.B. Macrodex®)
und mit einer Molekularmasse von 40.000 als Dextran 40 (z.B. Rheomacrodex®). Dextran
60 hat eine Halbwertszeit von 24 Stunden und Dextran 40 von 6 Stunden. Das Risiko
anaphylaktischer Reaktionen lässt sich mindern, wenn vor einer Dextraninfusion 20
ml des niedermolekularen Dextran 1 (Promit®, MM etwa 1.000) injiziert werden. Spezifische
embryo- oder fetotoxische Wirkungen von Dextranen sind nicht bekannt. Bei anaphylaktischen
Reaktionen ist mittelbar auch der Fetus gefährdet.
Empfehlung für die Praxis:
Dextrane sind im Notfall als Volumenersatzmittel akzeptabel.
Gelatine
Gelatineabbauprodukte, die über Harnstoffbrücken vernetzt sind, werden als Polymerisate
mit einer Molekularmasse von etwa 35.000 in 4%iger Lösung als Plasmaersatzmittel angeboten
(z.B. Gelafundin®). Spezifische embryo- oder fetotoxische Wirkungen sind nicht bekannt.
Empfehlung für die Praxis:
Gelatinepräparate sind im Notfall als Volumenersatzmittel akzeptabel.
Hydroxyethylstärke
Hydroxyethylstärke (HES) ist ähnlich wie Dextran ein vernetztes Poly-saccharid. Die
mittlere Molekularmasse liegt je nach Präparat bei 70.000 (Expafusin®), 200.000 (z.B.
Hämofusin®) bzw. 450.000 (z.B. Plasmafusin®, Plasmasteril®). Niedermolekulare Hydroxyethylstärke
soll die Fließeigenschaften des Blutes verbessern. Anaphylaktische Reaktionen können
auch bei Hydroxyethylstärke auftreten. Außer Ablagerungen in der Plazenta wurden keine
spezifischen embryo- oder fetotoxischen Effekte beschrieben. Die Indikation sollte
entsprechend streng gestellt werden.
Empfehlung für die Praxis:
Hydroxyethylstärke darf bei Schwangeren in kritischen Situationen als Volumenersatzmittel
oder zur Verbesserung der Mikrozirkulation eingesetzt werden.
Humanalbumin
Humanalbumin (z.B. Humanalbin®) ist eine Albuminlösung, die aus dem Blut gesunder
Spender hergestellt wird und frei von HI- und Hepatitisviren sein soll.
Humanalbumin wird insbesondere bei Albuminmangel zur Hebung des onkotischen Druckes
bei Ödemen und intravasalem Volumenmangel infundiert. Humanalbumin kann die Plazenta
nicht passieren. Spezifische embryo- oder fetotoxische Wirkungen sind nicht bekannt.
Bei signifikanter Proteinurie als Hinweis auf eine renale Störung ist keine der aufgeführten
Substanzen in der Lage, den onkotischen Druck mit Sicherheit aufrecht zu erhalten
bzw. günstig zu beeinflussen. Es muss abgewogen werden, ob – unter Berücksichtigung
von Vor- und Nachteilen – eine Gabe von Humanalbumin überhaupt indiziert ist.
Empfehlung für die Praxis:
Humanalbumin ist bei entsprechender Indikation in der Schwangerschaft akzeptabel.
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2.10
Epilepsie und antiepileptische Medikation
Etwa jede 200.-250. Schwangere leidet an Epilepsie bzw. wird mit Antiepileptika behandelt
(Morrow 2003). Kinder von Müttern, die mit (klassischen) Antiepileptika behandelt
werden, unterliegen einem erhöhten Risiko für Fehlbildungen, Dysmorphien des Mittelgesichts
und der Endphalangen, intrauterine Wachstumsretardierung und funk-tionelle Entwicklungsstörungen
des Zentralnervensystems (ZNS). Jedes 5.-10. pränatal exponierte Kind weist nach heutigen
Erkenntnissen zumindest eine dieser Auffälligkeiten auf. Antiepileptika werden zunehmend
auch bei anderen Erkrankungen eingesetzt, z.B. in der Psychiatrie als Affektstabilisatoren
bei bipolaren Störungen oder in der Neurologie bei neuropathischen Schmerzen. Wegen
des teratogenen Potenzials der Antiepileptika muss ihr Einsatz außerhalb der Krampfprophylaxe
immer dann kritisch geprüft werden, wenn eine Schwangerschaft nicht ausgeschlossen
werden kann.
2.10.1
Epilepsie, Antiepileptika und Reproduktion
▪
Antiepileptika besitzen ein embryotoxisches Potenzial. Dies betrifft vor allem die
klassischen Antiepileptika Carbamazepin, Valproin-säure, Phenobarbital/Primidon und
Phenytoin. Ursprünglich wurde auch der Epilepsie selbst eine teratogene Wirkung zugeschrieben.
Dies konnte jedoch weder für die Grunderkrankung noch für Grandmal-Anfälle eindeutig
bestätigt werden (Kapitel 2.10.7).
▪
Sexualhormone können bei entsprechender Disposition krampffördernd (Estrogene) oder
antikonvulsiv (Gestagene) wirken. Dies spielt z. B. bei zyklusabhängigen Krampfanfällen
eine Rolle.
▪
Bestimmte Antiepileptika führen zum „Pillenversagen”. Carbamazepin, Phenobarbital,
Primidon, Phenytoin, Felbamat und mit dosisabhängigen Einschränkungen auch Oxcarbazepin
und Topiramat können das Cytochrom-P450-Enzymsystem induzieren und über den verstärkten
Abbau oraler Kontrazeptiva zu unerwünschten Schwangerschaften führen (Kuhl 2002).
Es empfiehlt sich daher, in erster Linie keine systemische Hormontherapie, also auch
keine oralen Kontrazeptiva vorzusehen, da selbst die gelegentlich empfohlene Verdopplung
der Dosis nicht die gewünschte Sicherheit garantiert. Ein Intrauterinsystem mit lokaler
Gestagenabgabe (Mirena®) wäre zu bevorzugen oder bei etwas geringerer Sicherheit ein
Intrauterinpessar (IUD). Nur wenn diese Methoden nicht vertragen werden, ist eine
höher dosierte hormonelle Kontrazeption -ggf. mit Einschränkungen der Verlässlichkeit
- in Betracht zu ziehen. Hierfür kommt eine durchgehende Einnahme von täglich 2 Dosen
eines niedrig dosierten monophasischen Präparates infrage und zwar im Langzyklus durchgehend
für 3–9 Monate. Andere Empfehlungen zielen auf „Pillen” mit einer höheren ovula-tionshemmenden
Dosis ab.
Bei Benzodiazepinen, Ethosuximid, Gabapentin, Lamotrigin, Leve-tiracetam, Tiagabin,
Valproinsäure, Vigabatrin und Zonisamid sind keine Wirkungsverluste bei gleichzeitig
eingenommenen hormonel-len Kontrazeptiva bekannt (Crawford 2002).
▪
Epilepsie und Antiepileptika können die Fertilität herabsetzen. Beispielsweise besteht
ein bisher noch nicht vollständig geklärter Zusammenhang zwischen einer Temporallappen-Epilepsie
und einer Valproat-Therapie einerseits und einer anovulatorisch bedingten Fer-tilitätsminderung
mit polyzystischem Ovar-Syndrom (PCOS) andererseits. Dieses Syndrom wird bei 10–25%
der epilepsiekranken Frauen beobachtet - bei Patientinnen unter Valproattherapie noch
häufiger - und bei 5 % aller gesunden Frauen. Eine Adipositas mit Hyperinsulinismus
bzw. Insulinresistenz scheint eine fördernde Rolle zu spielen. Daher sind Antiepileptika,
die eine Gewichtszunahme begünstigen (Valproinsäure, Carbamazepin, Gabapentin, Vigabatrin)
auch in dieser Hinsicht kritisch zu beurteilen.
▪
Während der Schwangerschaft können Anfälle häufiger auftreten, weil der Wirkspiegel
von Antiepileptika vermindert ist, und zwar durch schlechte Compliance (Absetzen der
Medikation, um das Kind zu schützen), erhöhte Clearance und durch Schlafstörungen.
2.10.2
Instrumente zur Risikoabschätzung
Obwohl die klassischen Antiepileptika zu den am häufigsten verschriebenen und am besten
untersuchten teratogenen Arzneimitteln gehören, ist die individuelle Risikobestimmung
immer noch schwierig. In den wichtigsten epidemiologischen Studien der vergangenen
Jahre (Kaaja 2003, Dean 2002, Diav-Citrin 2001, Holmes 2001, Canger 1999, Kaneko 1999,
Samren et al., 1997, Samrén et al., 1999, Mastroiacovo 1998) und den international
etablierten Registern für Epilepsie und Schwangerschaft in Europa, EURAP (2005; www.eurap.org)
und UK Epilepsy and Pregnancy Register (Morrow 2003), in Australien (Vajda 2003) und
Nordamerika (NAREP) wurden bisher annähernd 10.000 vorwiegend in Monotherapie mit
klassischen Antiepileptika exponierte Schwangerschaften erfasst. Die Häufigkeitsangaben
zu großen Fehlbildungen schwanken zwischen 3 und 11 % bei Monotherapie. Bei einer
Kombinationstherapie mit mehreren Antiepileptika liegt das Risiko durchschnittlich
etwas höher als bei Monotherapie; deutlich erhöht auf mindestens 10 % ist es bei Kombinationen
mit Valproinsäure. Diese Werte entsprechen dem Zwei- bis Vierfachen der jeweiligen
Kontrollgruppen gesunder Schwangerer. Die Unterschiede zwischen den Studienergebnissen
sind durch mehrere Faktoren bedingt: a) das vorwiegend untersuchte Antiepileptikum
(Valproinsäure hat die höchste Teratogenität), b) die Definition einer großen Fehlbildung,
c) den Beobachtungszeitraum nach der Geburtje später man untersucht und je gründlicher,
desto höher ist die ermittelte Rate an Anomalien d) regionale und zeitliche Unterschiede
der Fehlbildungs-Prävalenzen in den Kontrollgruppen, e) andere Merkmale des Studiendesigns
und der Erfassungs- und Dokumentationsqualität angeborener Anomalien.
Noch unterschiedlicher fallen die Studienergebnisse bei kleinen Anomalien aus, den
Gesichts- und Fingerdysmorphien und den funkti-onellen ZNS-Störungen.
2.10.3
Große und kleine Anomalien bei Behandlung mit klassischen Antiepileptika
Durch Antiepileptika erhöht sich vor allem das Risiko jener Organanomalien, die auch
spontan am häufigsten vorkommen. Dazu gehören die folgenden Fehlbildungen (in Klammern:
Häufigkeiten nach Exposition mit Antiepileptika; Schardein 2000):
▪
Herzfehler (Häufigkeit etwa 1,8%),
▪
Lippen- und Gaumen-Spalten (Häufigkeit etwa 1,7%),
▪
Neuralrohrdefekte (bei Carbamazepin und Valproat, Häufigkeit 1–2%),
▪
Harnwegsanomalien, insbesondere Hypospadien,
▪
Skelettanomalien, z.B. Klumpfuβ, Hüftdysplasie,
▪
Augenanomalien (Ptosis, Iriskolobom).
Zu den kleinen Anomalien und Dysmorphien, dem so genannten „fetalen Antiepileptika-Syndrom”,
gehören:
▪
Mittelgesichtshypoplasie (kurze Nase, tief liegender, breiter Nasenrücken bzw. Hypertelorismus,
Epikanthus, lange Oberlippe),
▪
Auffälligkeiten der distalen Phalangen (kleine Nägel, kurze Fingerendglieder, fingerähnlicher
Daumen),
▪
Wachstumsrückstand,
▪
Mikrozephalie (insbesondere bei Phenytoin und Kombinationstherapie),
▪
mentale Entwicklungsstörungen, Verhaltensauffälligkeiten sowie Hinweise auf autismusartige
Symptome speziell bei Valproinsäure.
Die Diagnose der Dysmorphiezeichen ist nicht immer einfach, sie unterliegt subjektiven
Bewertungsunterschieden und ist z.T. nur radiologisch nachweisbar (Harvey 2003, Lu
2000).
Gewöhnlich treten nur einige und nicht alle beschriebenen Fehlbildungen bzw. Dysmorphien
auf.
2.10.4
Mentale Entwicklungsstörungen
Funktionsstörungen des ZNS kommen häufiger bei Kindern mit Mittel-gesichtshypoplasie
vor; die Angaben bewegen sich im zweistelligen Prozentbereich. Moore und Mitarbeiter
(2000) untersuchten 57 Kinder mit einem Antiepileptika-Syndrom und fanden bei etwa
80 % Verhaltensauffälligkeiten, Sprachentwicklungsstörungen, Lernstörungen und bei
60 % zwei oder mehr autistische Symptome. Im Vergleich der verschiedenen Antiepileptika
finden sich diese Entwicklungsauffälligkeiten vor allem nach vorgeburtlicher Exposition
mit Valproinsäure (Übersicht in Schmitz 2006, Adab et al., 2001, Adab et al., 2004).
2.10.5
Wie spezifisch wirken die einzelnen Antiepileptika?
Eine spezifische Zuordnung von Fehlbildungsmustern zu den einzelnen Antiepileptika
ist, abgesehen von einigen Ausnahmen, nicht möglich (Morrow 2003). Es gibt Fehlbildungen,
die typisch für Valproinsäure sind, wie z. B. Neuralrohrdefekte, insbesondere die
lumbale Spina bifida sowie präaxiale Extremitätenfehlbildungen, die z.B. den Radiusstrahl
betreffen. Unter dem Begriff Antiepileptika-Syndrom fasst man heute das Carbamazepin-,
Phenytoin- und Barbiturat-Syndrom zusammen. Als Syndrom werden alle Symptome jenseits
der großen Fehlbildungen verstanden, also Dysmorphien, Wachstumsretardierung, Mikrozephalie
und mentale Funktionsstörungen. Die einzelnen Entwicklungsanomalien werden bei den
jeweiligen Antiepileptika eingehender beschrieben.
Valproinsäure verursacht eine höhere Fehlbildungsrate als alle anderen Antiepileptika
und eine Kombinationstherapie mit Valproinsäure wirkt stärker teratogen als die Monotherapie.
2.10.6
Teratogene „Mechanismen”
Es gibt verschiedene Erklärungsversuche für die teratogene Wirkung von Antiepileptika,
die vor allem experimentell abgeleitet wurden. Demnach können mehrere „Mechanismen”
die Teratogenität eines Arzneimittels begründen.
▪
Carbamazepin, Phenobarbital, Phenytoin können die Folsäureauf-nahme beeinträchtigen
oder deren Metabolismus über eine Induktion des Cytochrom-P450-Enzymsystems verändern.
Valproinsäure hemmt die Glutamat-Formyl-Transferase und beeinträchtigt darüber die
Produktion von Folinsäure. Ggf. ist auch ein genetisch determinierter Mangel an Methylentetrahydrofolat-Reduktase
relevant.
▪
Valproinsäure hemmt die Genexpression des Enzyms Histon-Acety-lase (HDAC). Dieses
Enzym ist an der Kontrolle der Nukleosomen-struktur beteiligt. Ein HDAC-Mangel führt
zur Hyperacetylierung embryonaler Proteine besonders im Bereich des kaudalen Neural-rohrs
und stellt damit einen Folsäure-unabhängigen Mechanismus der Entwicklung einer Spina
bifida dar (Massa 2005).
▪
Valproinsäure bewirkt Veränderungen an Wachstumsfaktorgenen, wie z.B. brain-derived
growth factor (BDGF) und nerve growth factor (NGF) und den entsprechenden Rezeptoren.
▪
Ein Mangel des mikrosomalen Enzyms Epoxidhydrolase bei der Mutter und beim Embryo
führt u.a. bei Carbamazepin und Phenytoin zur Anhäufung teratogener Arenoxidmetabolite
(Raymond 1995, Omtzigt 1993). Diese durch Cytochrom-P450-assoziierte Monooxygenase
produzierten Arenoxide können nach Bindung an Makromoleküle die Zellfunktion stören
und bis zum Zelltod führen (Wells 1997).
▪
Phenytoin vermindert die mRNA-Expression mehrerer Wachstumsfaktoren (z.B. TGFbeta,
NT3 und WNT1) (Musselman 1994).
▪
Eine durch Phenytoin verursachte Hemmung des Kaliumkanals führt zu einer Hypoxie mit
darauf folgender Reoxygenierung (Danielsson 1997).
▪
Phenytoin hemmt die Genexpression von Retinsäurerezeptoren (Gelineau-van Waes 1999).
▪
Valproinsäure setzt den intrazellulären pH z.B. in den Extremitätenknospen herab (zitiert
in Dean 2002).
▪
Klinische Beobachtungen von familiärer Häufung typischer Anomalien unter Antiepileptika
und Ergebnisse von Gensequenzierungen sprechen dafür, dass eine genetische Disposition
Voraussetzung für die teratogene Wirksamkeit eines potenziell schädigenden Arzneimittels
ist. Ein Zusammenspiel äußerer (medikamentöser) und genetischer Faktoren wurde zuerst
beim Antiepileptikum Phenytoin vor etwa 25 Jahren am Beispiel eines dizygoten Zwillingspaares
erörtert: ein Zwilling war gesund, der andere zeigte die typischen Phenytoinauffälligkeiten
trotz gleichen intrauterinen Milieus (Phelan 1982). Individuelle genetische Metabolisierungsmuster
können auch die beobachteten Unterschiede bei einer dreieiigen Drillingsschwangerschaft
erklären, die unter Phenytoin/Phenobarbital-Medikation ausgetragen wurde. Die drei
Kinder zeigten verschieden ausgeprägte intrauterine Wachstumsretardierung, Mittelgesichts-
und Endpha-langenhypoplasie. Ein Drilling wies zusätzlich eine Lippen-Gaumen-Spalte
auf und ein anderer eine Kraniosynostose (Bustamante 1978).
2.10.7
Wirkt die Epilepsie teratogen?
Nach heutigem Kenntnisstand sind die beobachteten Fehlbildungen eher Folge der antiepileptischen
Therapie als des Anfallsleidens selbst. Allerdings ist eine Klärung schwierig, weil
nur bei leichteren Formen der Erkrankung auf eine Therapie verzichtet werden kann.
Manche Autoren beobachteten höhere Fehlbildungsraten, wenn die Mütter während des
1. Trimenons Grand-mal-Anfälle hatten (Lindhout 1992). Mastroiacovo und Mitarbeiter
(1998) ermittelten an einer sehr kleinen Kohorte ein signifikant erhöhtes Fehlbildungsrisiko
bei nicht behandelter Epilepsie (4/31=13%). Die meisten anderen Untersuchungen fanden
jedoch weder teratogene Effekte bei unbehandelter Epilepsie noch bei Grand-mal-Anfällen
während der Schwangerschaft. Auch zeigte sich kein Zusammenhang zwischen der Dauer
einer antiepileptischen Therapie vor der Schwangerschaft und dem Schwangerschaftsausgang
(Dansky 1991). Im Belfaster UK Epilepsy and Pregnancy Register wurden 3,5 % große
Fehlbildungen bei 239 Schwangeren gefunden, deren Epilepsie nicht medikamentös behandelt
wurde. Bei antiepileptischer Monotherapie wurden durchschnittlich 3,7% große Fehlbildungen
errechnet. Bei Kombinationstherapie waren es 6,0% (Morrow 2006).
In einer Metaanalyse werteten Fried und Mitarbeiter (2004) 10 Studien aus, die 400
Schwangerschaften von Frauen mit unbehandelter Epilepsie umfassten. Sie konnten keinen
teratogenen Effekt der Erkrankung selbst belegen, geben aber zu bedenken, dass die
unbehan-delten Epilepsien wahrscheinlich leichtere Erkrankungen seien. Eine später
von Artama und Mitarbeitern (2005) publizierte Untersuchung mit Daten des finnischen
medizinischen Geburtsregisters fand mit 26 Fehlbildungen bei 939 Schwangerschaften
ebenfalls eine unverdächtige Fehlbildungsrate von 2,8%. Holmes und Mitarbeiter (2000)
haben 57 Kinder untersucht, deren Mütter eine Epilepsie in der Vorgeschichte angaben
und die während der Schwangerschaft weder unter Krampfanfällen litten noch antiepileptisch
behandelt wurden. Diese Kinder zeigten gegenüber einer Kontrollgruppe weder Einschränkungen
der Intelligenzentwicklung noch die nach antikonvulsiver Behandlung in der Schwangerschaft
gehäuft beschriebenen Dysmorphien des Gesichts oder der Finger. Adab und Mitarbeiter
(2004) stellten hingegen einen niedrigen Sprach-IQ (< 79) signifikant häufiger fest,
wenn während der Schwangerschaft - unabhängig von einer antikonvulsiven Therapie -mehr
als 5 generalisiert tonisch-klonische Anfälle auftraten.
2.10.8
Folsäure und Antiepileptika
Eine Substitution mit Folsäure bei Therapie mit Folsäure-antagonisti-schen Antiepileptika
in der Schwangerschaft wird verschiedentlich empfohlen, der Nachweis protektiver Wirksamkeit
wurde bisher jedoch nicht erbracht (Hernandez-Diaz 2000). Da heute generell für alle
Frauen mindestens bis Schwangerschaftswoche 9 eine Folsäureprophy-laxe empfohlen wird
(siehe Kapitel 2.18 Vitamine), sollten selbstverständlich auch an Epilepsie erkrankte
Frauen mit Kinderwunsch eine Folsäuresubstitution durchführen, und zwar mit einer
Dosis von 5 mg/Tag, wie sie auch zur Minderung des Wiederholungsrisikos von Neural-rohrdefekten
empfohlen wird. Dabei ist zu beachten, dass Folsäure den Arzneimittelmetabolismus
der Hydroxylasen in der Leber anregt, so dass die Konzentrationen von Antiepileptika
im Blut der Mutter erniedrigt sein können.
2.10.9
Vitamin K und Antiepileptika
Unabhängig von einer Medikation der Mutter weisen Neugeborene und insbesondere Frühgeborene
einen Vitamin-K-Mangel auf, der zur Verhütung von Blutungskomplikationen unmittelbar
nach Geburt durch Substitution behoben werden muss. Darüber hinaus gehören Carbama-zepin,
Ethosuximid, Oxcarbazepin, Phenytoin, Phenobarbital, Topir-amat, Vigabatrin und Zonisamid
zu den Enzym induzierenden Arzneimitteln, die eine Verminderung der Vitamin-K-abhängigen
Gerinnungsfaktoren induzieren können. Als indirekter Marker kann die Prothrom-binvorstufe
PIVKA II (Protein induced by Vitamin K abscence of factor II) beim Neugeborenen erhöht
sein.
Es wurde vielfach empfohlen, dass bei einer Therapie mit Vitamin-K-antagonisierenden
Medikamenten die Mutter in den letzten vier Schwangerschaftswochen täglich Vitamin
K1 (z.B. Konakion®) einnimmt, zunächst 10 mg am Tag und während der letzten beiden
Wochen 20 mg. Die Wirksamkeit dieses Vorgehens ist umstritten (Hey 1999).
Kaaja und Mitarbeiter (2002) konnten keine höhere Rate an Blutungskomplikationen bei
667 Neugeborenen mit pränataler Antiepilep-tika-Medikation (davon 463 Carbamazepin,
212 Phenytoin, 44 Phenobarbital) gegenüber einer Kontrollgruppe mit 1.324 Kindern
nicht erkrankter Mütter feststellen. Die Mütter hatten während der Schwangerschaft
kein Vitamin K erhalten, alle Kinder jedoch nach Geburt 1 mg Vitamin K1i.m. In einer
weiteren Untersuchung an etwa 200 Kindern von Müttern mit Antiepileptika-Therapie,
die während der Schwangerschaft keine Vitamin-K-Prophylaxe durchgeführt hatten, wurde
keine erhöhte Blutungsneigung bei den Neugeborenen festgestellt (Choulika 2004).
Vitamin K wird zwar oral ähnlich gut aufgenommen wie parenteral, aber unmittelbar
nach der Geburt kann diese Verabreichungsform aufgrund der Situation im Kreissaal
unzuverlässig sein, so dass eine intramuskuläre Applikation von 0,5–1 mg Vitamin K1
zu empfehlen ist. Diese soll vor allem zur Prävention von Spätblutungen (ab 2 Wochen)
der oralen Verabreichung überlegen sein (American Academy of Pediatrics 2003). Wird
die orale Prophylaxe gewählt, ist gewissenhaft darauf zu achten, dass das Neugeborene
die Dosis auch tatsächlich herunterschluckt und in den ersten beiden Wochen alle 3
Tage eine zusätzliche orale Dosis erhält.
2.10.10
Die neueren Antiepileptika
Zu den neueren Antiepileptika zählen Felbamat, Gabapentin, Lamotri-gin, Levetiracetam,
Oxcarbazepin, Pregabalin, Tiagabin, Topiramat, Vigabatrin, Zonisamid. Sie wurden in
den 90er Jahren zunächst als so genannte Add-on-Antiepileptika eingeführt als Zusatz
zu klassischen Antiepileptika bei fokalen Epilepsien. Die Proteinbindung ist bei den
neuen Antiepileptika meist niedriger als bei den klassischen Antiepileptika: Felbamat
30%, Gabapentin 0%, Lamotrigin 55%, Oxcarbazepin 40%, Tiagabin 96%, Topiramat 15%,
Vigabatrin 0%, Zonisamid 40–50%. Die neuen Antiepileptika induzieren das Cytochrom-P450-Enzymsystem
gar nicht oder, wie Oxcarbazepin und Topiramat, in geringerem Umfang und sie bilden
keine potenziell teratogenen Arenoxid- bzw. Epoxidmetaboliten (Bruno 2002). Im Gegensatz
zu den klassischen Antiepileptika besitzen sie keine nennenswerte Antifolatwir-kung
und zeigen eine geringere Interaktion mit Sexualhormonen. Tierexperimentell haben
Felbamat, Gabapentin und Lamotrigin bisher keine Hinweise auf Teratogenität erbracht,
während alle klassischen Antiepileptika im Tierversuch teratogen wirken. Die mit Ausnahme
von Lamotrigin noch recht spärlich vorliegenden klinischen Verlaufsbeobachtungen zur
Schwangerschaft deuten bei Monotherapie nicht auf eine spezifische Teratogenität hin.
Möglicherweise ist das terato-gene Risiko dieser Gruppe bei Monotherapie geringer
als bei den klassischen Antiepileptika. Eine abschließende Beurteilung der neuen Antiepileptika
ist jedoch noch nicht möglich.
2.10.11
Generelle Empfehlungen zur antiepileptischen Therapie in der Schwangerschaft
▪
Keine Schwangere sollte ohne zwingenden Grund mit Antiepileptika behandelt werden.
Dies gilt erst recht für die Antiepileptikatherapie bei neurologischen oder psychiatrischen
Indikationen. Bei einer Frau, die über mehrere Jahre anfallsfrei ist, soll geprüft
werden, ob die Medikation vor einer geplanten Schwangerschaft abgesetzt werden kann,
denn nahezu 50% aller an Epilepsie Erkrankten können zu einem gegebenen Zeitpunkt
auf die Medikation verzichten (Morrow 2003). Andererseits gibt es schwerste Verläufe
von epileptischen und psychiatrischen Erkrankungen, bei denen nur die als teratogen
erwiesenen klassischen Antiepileptika, wie z. B. Valproinsäure, wirksam sind.
▪
Wurde unter einer antiepileptischen Therapie bereits ein Kind mit typischen Anomalien
geboren, sollte vor der nächsten Schwangerschaft die Therapie auf andere Antiepileptika
umgestellt werden, da aufgrund einer arzneimittelspezifischen, pharmakogenetischen
Disposition von Mutter und Kind ein erhöhtes Wiederholungsrisiko besteht.
▪
Auf Valproinsäure sollte bei Frauen im reproduktionsfähigen Alter verzichtet werden,
wenn nicht begründete Ausnahmefälle, wie z. B. schwere Verlaufsformen, diese Therapie
erforderlich machen.
▪
Eine Monotherapie ist anzustreben, da die gleichzeitige Gabe mehrerer Antiepileptika
zu einem deutlichen Anstieg des embryotoxischen Risikos führen kann (Wide 2004, Kaneko
1999, Samrén 1999).
▪
Insbesondere während der Organogenese sollte die Arzneimitteldosis so niedrig wie
möglich gehalten und auf 2–4 Einzeldosen pro Tag verteilt werden. Konzentrationsbestimmungen
des freien, nicht an Protein gebundenen Wirkstoffes im mütterlichen Blut sollten einmal
in jedem Trimenon durchgeführt werden, ggf. auch öfter. Vor allem bei Lamotrigin und
Oxcarbazepin machen Clearancesteigerungen während der Schwangerschaft eine Dosiserhöhung
erforderlich.
▪
Eine an Epilepsie erkrankte Frau muss darüber aufgeklärt werden, dass das Risiko für
große Fehlbildungen unter einer antiepileptischen Medikation durchschnittlich um das
2- bis 3fache erhöht ist.
▪
Eine stabile medikamentöse Einstellung sollte während der Schwangerschaft nicht überstürzt
abgesetzt oder umgestellt werden.
▪
Weder eine Monotherapie noch eine Kombinationstherapie mit mehreren Antiepileptika
oder die Epilepsie selbst stellen per se eine Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch
dar.
▪
Jeder Schwangeren, die Antiepileptika erhält und jeder schwangeren Frau mit Epilepsie,
ob behandelt oder nicht, sollte eine erweiterte vorgeburtliche Diagnostik angeboten
werden. Hierzu gehört eine hoch auflösende Ultraschalluntersuchung durch einen erfahrenen
Untersucher.
Klassische Antiepileptika
2.10.12
Carbamazepin
Pharmakologie.
Carbamazepin (z.B. Tegretal®, Timonil®) weist strukturelle Ähnlichkeit mit den trizyklischen
Antidepressiva auf und wird bei Grand-mal-Epilepsie, fokalen und komplex-fokalen Anfällen,
als Pha-senprophylaktikum bzw. Affektstabilisator und bei Trigeminusneuralgie eingesetzt.
Die antikonvulsive Wirkung von Carbamazepin ist ähnlich wie bei anderen Antiepileptika
über eine membranstabilisierende Wirkung zu erklären.
Carbamazepin wird nach oraler Gabe gut resorbiert, weist eine hohe Proteinbindung
auf und besitzt eine Plasmahalbwertszeit von 1–2 Tagen. Carbamazepin erreicht im Fetus
50–80 % der mütterlichen Konzentration. Während der Schwangerschaft bleiben die Konzentrationen
von proteingebundenem und freiem Wirkstoff relativ stabil.
Orale Kontrazeptiva können durch die ausgeprägte Cytochrom-P450-Enzyminduktion ihre
Wirksamkeit verlieren (siehe Kapitel 2.10.1).
Typische Fehlbildungen.
Carbamazepin wirkt wie die anderen klassischen Antiepileptika nicht nur im Tierversuch,
sondern auch beim Menschen teratogen. Ein spezifisches Carbamazepin-Syndrom wurde
Ende der 80er-Jahre postuliert, das Epikanthus, antimongoloide Lidachse, kurze Nase,
langes Philtrum, Hypoplasie der Endphalangen, Mikrozephalie und Entwicklungsretardierung
umfasste (Jones 1989). Andere Untersucher konnten die Spezifität dieser Auffälligkeiten
nicht bestätigen oder fanden keine Häufung von Hypoplasien der distalen Phalangen.
Fehlbildungen, die im Zusammenhang mit Carbamazepin vermehrt beschrieben wurden, betreffen
Herz und Extremitäten, Hüftanomalien, Inguinalher-nien, Gaumenspalten und Hypospadien
(Ornoy 1996). Sie ähneln den Wirkungen von Phenytoin und Phenobarbital; siehe auch
Kapitel 2.10.3 und 2.10.5. Typisch für Carbamazepin ist wie bei Valproinsäure das
Risiko für Neuralrohrdefekte. Insbesondere die Meningomyelozele (Spina bifida) im
Lumbalbereich tritt unter Carbamazepin etwa 10-mal häufiger auf, d.h. bei etwa einem
von 100 exponierten Feten (Källén 1994).
Häufigkeit großer Fehlbildungen.
Nach einer Metaanalyse an 1.255 exponierten Schwangeren verdoppelt Carbamazepin die
Rate großer Fehlbildungen von etwa 2 auf 4–5 % (Matalon 2002). Im Belfaster UK Epilepsy
and Pregnancy Register wurden unter Monotherapie mit Carbamazepin nur 2,2% große Fehlbildungen
bei 900 Schwangerschaften gefunden (Morrow 2006). Die Vollständigkeit der Datenerhebung
ist in solchen Registern allerdings kritisch zu werten. Auch bei den über 900 vorwiegend
mit Carbamazepin-Monotherapie behandelten Schwangeren einer finnischen Studie (Artama
2005) fand sich kein signifikant erhöhtes Risiko für große Fehlbildungen.
Kaaja und Mitarbeiter (2003) verglichen 740 pränatal mit Antiepilep-tika exponierte
Kinder mit 239 anderen, deren Mütter zwar in der Vorgeschichte eine Epilepsie aufwiesen,
in der Schwangerschaft aber nicht behandelt wurden. Ein signifikant erhöhtes Risiko
für große Fehlbildungen fand sich nur bei einer Kombinationstherapie mit Carbamaze-pin,
nicht jedoch bei Monotherapie.
Studienergebnisse zu anderen Entwicklungsanomalien.
Holmes und Mitarbeiter (2001) untersuchten mit einem dysmorphologisch geschulten Kinderarzt
316 Neugeborene antiepileptisch behandelter Mütter auf das Vorhandensein von mindestens
einem der folgenden Merkmale: große Fehlbildungen, Mikrozephalie, Wachstumsretardierung,
Mittel-gesichtshypoplasie und Fingerhypoplasie. Die Ergebnisse wurden mit zwei Kontrollgruppen
verglichen: 98 Kinder, deren Mütter eine Epilepsie in der Vorgeschichte aufwiesen,
aber während der Schwangerschaft nicht behandelt worden waren, und 508 Kinder gesunder
Mütter. Signifikant erhöht war die Rate der Anomalien nach einer Kombinationstherapie
mit mehr als einem Antiepileptikum. Nach einer Monotherapie mit Carbamazepin war das
Ergebnis mit 8/58 = 14% nicht signifikant auffällig.
Dean und Mitarbeiter (2002) haben 149 pränatal exponierte Kinder mit 38 (älteren)
Geschwistern dieser Kinder verglichen, bei denen die Mütter (noch) keine Antiepileptika
genommen hatten. Bei einer Monotherapie mit Carbamazepin ergab sich ein höheres, jedoch
statistisch nicht signifikantes Risiko für große Fehlbildungen (11% versus 5%). Die
Häufigkeit von Gesichtsdysmorphien bei Carbamazepin lag jedoch mit 60% gegenüber 25%
signifikant über der nicht exponierten Geschwistergruppe. Es ergaben sich ebenfalls
signifikante Effekte für eine postnatale Entwicklungsverzögerung (22% versus 11%)
und für Verhaltensauffälligkeiten sowie für andere Anomalien in der späteren Kindheit
(Sehstörungen, Otitis media, Gelenkprobleme). Die Ergebnisse dieser Studie sind u.a.
aufgrund der kleinen Fallzahlen und einiger methodischer Aspekte vorsichtig zu bewerten,
andererseits gibt der hohe Anteil auffälliger Kinder zu denken. Ornoy (1996) ermittelte
eine Beeinträchtigung der kognitiven Entwicklung und zwar besonders bei Kindern, die
auch Gesichtsdysmorphien aufweisen. Demgegenüber haben Gaily und Mitarbeiter (2004)
bei 86 Kindern nach Monotherapie mit Carbamazepin keine Beeinträchtigung des verbalen
und nonverbalen IQ im Vergleich zu einer nicht exponierten Kontrollgruppe gefunden.
Als weiteren Effekt fanden Diav-Citrin und Mitarbeiter (2001) ein um 250 g reduziertes
Geburtsgewicht bei der Auswertung von 210 exponierten Schwangeren. Ein Fallbericht
beschreibt einen Jungen, der nach Geburt 5 Wochen lang Symptome einer cholestatischen
Hepatitis zeigte, und dessen Mutter eine Monotherapie mit Carbamazepin während der
gesamten Schwangerschaft und in der Stillzeit erhielt (Frey 2002
). Zum Vitamin-K-Mangel beim Neugeborenen siehe Kapitel 2.10.9.
Empfehlung für die Praxis:
Die Ergebnisse zum Fehlbildungsrisiko bei Carba-mazepin sind widersprüchlich insofern,
dass in mehreren Studien keine signifikant erhöhten Häufigkeiten gegenüber Kontrollgruppen
gefunden wurden. Das darf aber nicht über die deutlich erhöhten Risiken spezieller
Anomalien, wie z.B. Spina bifida, hinweg täuschen und zur Schlussfolgerung fehlender
Teratogenität führen. Zusammenfassend liegt das Risiko für Fehlbildungen bei Monotherapie
nicht höher als das Zweifache der Spontaninzidenz. Auswirkungen auf die mentale Entwicklung
sind nicht auszuschließen.
Bei behandlungspflichtiger Epilepsie und stabiler Einstellung mit Carbamazepin kann
unter Beachtung der genannten Risiken die Therapie in der Schwangerschaft fortgesetzt
werden. Eine Monotherapie ist anzustreben. Die Arzneimittelkonzentration muss regelmäßig
kontrolliert werden. Die tägliche Dosis sollte so gering wie therapeutisch verantwortbar
eingestellt werden. Außerdem sind Leber- und Nierenfunktion sowie hämatologische Parameter
bei der Schwangeren zu überwachen. Bei Behandlung bis zur Geburt sind Auswirkungen
auf das Neugeborene möglich, es muss deshalb auf klinische Symptome in den ersten
Lebenstagen geachtet werden. Eine Carbamazepin-Therapie im 1. Trimenon rechtfertigt
keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel 1.15). Als zusätzliche
Vorsorge sollte aber ein hoch auflösender Ultraschall angeboten werden. Zur erweiterten
Folsäureprophylaxe bei Planung einer Schwangerschaft und zur Vitamin-K-Prophylaxe
beim Neugeborenen siehe Kapitel 2.10.9. Bei psychiatrischen und anderen nicht epileptischen
Indikationen sind Alternativen zu Carbamazepin zu suchen.
2.10.13
Clobazam und Clonazepam
Pharmakologie und Toxikologie.
Clobazam (Frisium®) und Clonazepam (z. B. Rivotril®) sind Benzodiazepine, die beide
als Antiepileptika zugelassen sind, Clobazam auch als Anxiolytikum. Zu Clobazam liegen
kaum Daten zur Anwendung in der Schwangerschaft vor. Daher muss auf die mit anderen
Benzodiazepinen gemachten Erfahrungen verwiesen werden (siehe auch Kapitel 2.11.16).
In einer Metaanalyse zeigten die gesammelten Daten von Kohortenstudien zu einer Benzodiazepin-therapie
in der Schwangerschaft keine Auffälligkeiten. Die Analyse aller Daten aus retrospektiven
Fall-Kontroll-Studien erbrachte hingegen eine erhöhte Rate an großen Fehlbildungen
und speziell an isolierten Mundspaltbildungen nach einer Behandlung der Mütter mit
Benzodiazepinen (Dolovich 1998).
Speziell zu Clonazepam liegen Erfahrungen mit mehr als 175 Schwangeren vorwiegend
im 1. Trimenon vor (Lin 2004, Vajda 2003, Weinstock 2001, Ornoy 1998). Die beobachteten
Anomalien, wie z.B. Fallot-Tetralogie, Mikrozephalie und Dysmorphiezeichen ergeben
weder ein typisches Muster noch ist ihre Häufigkeit Besorgnis erregend. Eine von anderen
Autoren nicht bestätigte Beobachtung beschreibt einen Mekoniumileus im 3. Trimenon
unter Langzeitbehandlung mit Clonazepam (Haeusler 1995). Die Symptomatik besserte
sich kurz nach Geburt. Aus den vorliegenden Daten ist kein nennenswertes tera-togenes
Potenzial erkennbar. Neonatal muss mit den gleichen Anpassungsstörungen gerechnet
werden wie bei Diazepam, wenn langfristig und bis zur Geburt behandelt wird. Einerseits
ist eine Atemdepression beim Neugeborenen möglich, andererseits kann nach andauernder
Exposition eine Entzugssymptomatik mit Unruhe, Tremor, Muskelhypertonus, Erbrechen
und Durchfall auftreten. Auch Krampfanfälle in der Neonatalphase sind möglich sowie
ein Wochen bis Monate anhaltendes „Floppy-infant-Syndrom” mit Muskelschlaffheit, Lethargie,
Temperaturregulationsstörungen und Trinkschwäche.
Empfehlung für die Praxis:
Sollte eine Indikation für Clobazam oder Clonazepam vorliegen, darf auch im 1. Trimenon
behandelt werden. Bei einer länger-fristigen Therapie, insbesondere im letzten Trimenon,
sollte das Neugeborene zumindest zwei Tage auf mögliche Symptome hin beobachtet werden.
Das Gleiche gilt für die hoch dosierte Applikation unter der Geburt, die eine Atemdepression
verursachen kann. Eine Exposition mit Clobazam oder Clonazepam rechtfertigt keinen
risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel 1.15).
2.10.14
Ethosuximid und andere Succinimide
Pharmakologie.
Ethosuximid (z.B. Petnidan®, Suxilep®) ist ausschlie;ßlich bei Abscencen wirksam.
Es erreicht 3–4 Stunden nach oraler Gabe maximale Konzentrationen im Blut. Es liegt
nur zu einem geringen Anteil an Plasmaproteine gebunden vor. Zur Therapie von Petit-mal-Anfällen
sind Plasmakonzentrationen von 40–100 μg/ml erforderlich.
Toxikologie.
Es gibt nur wenige Berichte über die Therapie mit Ethosuximid in der Schwangerschaft.
Typische Fehlbildungsmuster wurden bei den Kindern von 57 behandelten Frauen nicht
beobachtet (Lindhout 1992). Eine andere Fallsammlung mit 18 im 1. Trimenon exponierten
Schwangeren ergab keinen Anhalt für Fehlbildungen (Rosa, zitiert in Briggs 2005).
Auch wenn die vorliegenden Berichte für eine differenzierte Risikobewertung nicht
ausreichen, scheint kein erhebliches tera-togenes Potenzial vorzuliegen. Über eine
erhöhte neonatale Blutungsbereitschaft durch einen Vitamin-K-Antagonismus wurde berichtet
(siehe Kapitel 2.10.9).
Zu den anderen Succinimiden Mesuximid (Petinutin®) und Phen-succimid liegen keine
für eine Beurteilung ausreichenden Erfahrungen vor.
Empfehlung für die Praxis:
Falls Ethosuximid bei Petit-mal-Anfällen indiziert ist, kann es auch in der Schwangerschaft
weiter genommen werden. Mesuximid und Phensuccimid sind weniger gut untersucht und
deshalb nicht zu empfehlen. Eine Monotherapie ist anzustreben. Die Arzneimittelkonzentration
muss regelmä;ßig kontrolliert werden. Die tägliche Dosis sollte so gering wie therapeutisch
verantwortbar eingestellt werden. Bei Behandlung bis zur Geburt sind Auswirkungen
auf das Neugeborene möglich. Es muss deshalb auf klinische Symptome in den ersten
Lebenstagen geachtet werden. Als zusätzliche Vorsorge sollte ein hoch auflösender
Ultraschall angeboten werden. Zur erweiterten Folsäurepro-phylaxe bei Planung einer
Schwangerschaft und zur Vitamin-K-Prophylaxe beim Neugeborenen siehe Kapitel 2.10.9.
2.10.15
Phenobarbital und Primidon
Pharmakologie.
Von den Barbituraten werden vor allem Phenobarbital (z.B. Luminal®) und Primidon (z.B.
Liskantin®, Mylepsinum®) als Antiepileptika eingesetzt. Primidon wird zu den antikonvulsiv
wirksamen Metaboliten Phenobarbital und Phenylethylmalonamid umgebaut. Barbexaclon
ist eine Verbindung von Phenobarbital und Levopropyl-hexedrin, einem Psychostimulans,
das gegen Sedierung wirksam sein soll.
Phenobarbital und Primidon haben sich bei fokaler Epilepsie und bei Grand-mal-Anfällen
bewährt. Phenobarbital wird schon seit 100 Jahren als Sedativum und Antikonvulsivum
eingesetzt (Hauptmann 1912). In der Schwangerschaft liegen langjährige Erfahrungen
mit dieser Therapie vor. Phenobarbital wird nach oraler Gabe gut resorbiert. Im Blut
wird es zu 50 % an Protein gebunden. Im Verlauf der Schwangerschaft sinkt der freie,
nicht an Protein gebundene Wirkstoffanteil deutlich. Etwa 25 % werden unverändert
über die Nieren ausgeschieden und 75 % nach Oxidation und Metabolisierung. Die Halbwertszeit
beträgt 2–6 Tage. Zur Beeinträchtigung oraler Kontrazeptiva siehe Kapitel 2.10.1.
Phenobarbital erreicht den Fetus rasch und führt besonders in der Perinatalphase zu
einer Aktivitätssteigerung der fetalen Leberenzyme. Das gilt auch für die glucuronidierenden
Enzyme, die für die Ausscheidung des Bilirubins verantwortlich sind.
Typische Fehlbildungen.
Heinonen (1977) fand bei 1.415 Schwangeren, die im 1. Trimenon mit Phenobarbital behandelt
wurden, keine Hinweise auf Teratogenität. Bei anderen Barbituraten ermittelte er jedoch
ein leicht erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Fehlbildungen. Jones und Mitarbeiter
(1992) diagnostizierten bei 7 von 46 pränatal exponierten Neugeborenen Gesichtsdysmorphien,
die auch von anderen Antiepileptika bekannt sind, z.B. Epikanthus, Hypertelorismus,
flache Nasenwurzel und aufwärts gerichtete Nasenspitze. Elf dieser Kinder wiesen hypoplastische
Fingernägel auf und 3 von 16 Entwicklungsver- zögerungen. Bereits in den 70er Jahren
des vergangenen Jahrhunderts wurden intrauterine und postnatale Wachstumsretardierung
bei Behandlung mit Phenobarbital in der Schwangerschaft beschrieben. Im Gegensatz
zur langfristigen antiepileptischen Anwendung sind Einzeldosen von Barbituraten (auch
anderen als Phenobarbital) in (nicht mehr empfohlenen) Schmerzmitteln oder im Rahmen
einer Narkose wahrscheinlich nicht teratogen.
Häufigkeit gro;ßer Fehlbildungen.
Samren und Mitarbeiter (1999) fanden bei Monotherapie mit Phenobarbital mit 3% (5/172)
und Primidon mit 1% (1/151) keine erhöhten Fehlbildungsraten. In zwei weiteren Studien
wurden unter Monotherapie 5% Fehlbildungen beobachtet (Canger 1999, Kaneko 1999).
Holmes und Mitarbeiter (2004) haben im amerikanischen Register für Antiepileptika
und Schwangerschaft bei 77 ausschließlich mit Phenobarbital behandelten Schwangeren
5 große Fehlbildungen (6,5%) ermittelt und gegenüber einer gesunden Kontrollgruppe
ein 4fach erhöhtes Risiko errechnet. Die Autoren thematisieren einen häufig vernachlässigten
Aspekt, dass es zum preiswerten Antiepileptikum Phenobarbital in armen Ländern keine
Alternativen gibt und unerwünschte Arzneimittelwirkungen wie Teratogenität in Kauf
genommen werden müssen oder keine Beachtung finden. Einige Untersucher betonen, dass
Coffein in Kombinationspräparaten mit Phenobarbital das Fehlbildungsrisiko zusätzlich
erhöht (Samrén 1999).
Studienergebnisse zu anderen Entwicklungsanomalien.
Holmes und Mitarbeiter (2001) untersuchten mit einem dysmorphologisch geschulten Kinderarzt
316 Neugeborene antiepileptisch behandelter Mütter auf das Vorhandensein von mindestens
einem der folgenden Merkmale: große Fehlbildungen, Mikrozephalie, Wachstumsretardierung,
Mittel-gesichtshypoplasie und Fingerhypoplasie. Die Ergebnisse wurden mit zwei Kontrollgruppen
verglichen: 98 Kinder, deren Mütter eine Epilepsie in der Vorgeschichte aufwiesen,
aber während der Schwangerschaft nicht behandelt worden waren, und 508 Kinder gesunder
Mütter. Ein mit 27% (17 von 64) signifikant erhöhter Anteil der Kinder, deren Mütter
eine Monotherapie mit Phenobarbital hatten, wies zumindest eine der genannten Entwicklungsanomalien
auf. Dean und Mitarbeiter (2002) haben 149 pränatal exponierte Kinder mit 38 (älteren)
Geschwistern verglichen, bei denen die Mütter keine Antiepileptika in der Schwangerschaft
genommen hatten. Bei einer Monotherapie mit Phenobarbital ergab sich eine erhöhte,
aber statistisch nicht signifikante Rate gro;ßer Fehlbildungen (10% versus 5%). Gesichtsdysmor-phien
und Entwicklungsretardierung waren mit 21 und 10% nicht häufiger als in der unbehandelten
Kontrollgruppe.
Entzugssymptome traten bei Neugeborenen auf, wenn die Mütter in den letzten Monaten
der Schwangerschaft täglich 60–300 mg Phenobar-bital eingenommen hatten. Hyperirritabilität
und Tremor können sich verzögert erst 3–14 Tage nach Geburt entwickeln.
Auch eine Störung des Steroid-, Vitamin-D- und Vitamin-K-Metabo-lismus durch Phenobarbital
wurde erörtert mit daraus resultierender Hypocalcämie sowie Gerinnungsstörung und
Blutungsneigung beim Neugeborenen (siehe auch Kapitel 2.10.9). Der Vergleich einer
Pheno-barbitalbehandlung gegenüber Plazebo im Rahmen einer Studie an 436 Kindern,
erbrachte weder Vor- noch Nachteile für intrakranielle Blutungen und den neurologischen
Entwicklungsstatus im Alter von 18–22 Monaten (Shankaran 2002).
Zahlreiche Kasuistiken und die Ergebnisse epidemiologischer Arbeiten (Adams 2004,
van der Pol 1991) sprechen dafür, dass nach antikonvulsiver Therapie mit Phenobarbital
häufiger als in gesunden Kontrollgruppen mentale Entwicklungsverzögerungen, insbesondere
im Bereich der Sprachentwicklung auftreten. Koch und Mitarbeiter (1999) haben 116
Kinder im Alter von 11 bis 18 Jahren nachuntersucht. Sie ermittelten einen signifikant
geringeren Intelligenzquotienten, wenn während der Schwangerschaft mit einer Kombinationstherapie
aus Primidon und Phenytoin behandelt wurde. Der IQ korrelierte negativ mit der Primidondosis.
Das Ergebnis war unabhängig vom sozioökonomi-schen Status. Ein Einfluss des mütterlichen
IQ kann jedoch nicht ausgeschlossen werden.
Empfehlung für die Praxis:
Zusammenfassend liegt das Risiko für Fehlbildungen bei einer antiepileptischen Monotherapie
mit Phenobarbital nicht höher als das Zweifache der Spontaninzidenz. Auswirkungen
auf die mentale Entwicklung sind nicht auszuschlie;ßen. Primidon ist wahrscheinlich
analog zu Phenobarbital zu bewerten. Bei behandlungspflichtiger Epilepsie und stabiler
Einstellung mit Phenobarbital oder Primidon kann unter Beachtung der genannten Risiken
die Therapie in der Schwangerschaft fortgesetzt werden. Eine Monotherapie ist anzustreben.
Die Arzneimittelkonzentration muss regelmäßig kontrolliert werden. Die tägliche Dosis
sollte so gering wie therapeutisch verantwortbar eingestellt werden. Bei Behandlung
bis zur Geburt sind Auswirkungen auf das Neugeborene möglich. Es muss deshalb auf
klinische Symptome in den ersten Lebenstagen geachtet werden. Nach hoch dosierter
Applikation unter der Geburt kann es beim Neugeborenen zur Atemdepression kommen.
Eine Barbiturattherapie im 1. Trimenon rechtfertigt keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch
(siehe Kapitel 1.15). Als zusätzliche Vorsorge sollte aber ein hoch auflösender Ultraschall
angeboten werden. Zur erweiterten Folsäureprophylaxe bei Planung einer Schwangerschaft
und zur Vitamin-K-Prophylaxe beim Neugeborenen siehe Kapitel 2.10.9.
2.10.16
Phenytoin
Pharmakologie.
Phenytoin (z.B. Phenhydan®, Zentropil®, Epanutin®) und Mephenytoin gehören zu den
Hydantoinderivaten, die bereits 1938 in die antiepileptische Therapie eingeführt wurden.
Sie haben aus- geprägte krampfhemmende Wirkung und sind bei Grand-mal-Anfällen, fokaler
Epilepsie und auch beim Status epilepticus wirksam, ohne dabei ausgeprägt sedativ-hypnotische
Eigenschaften zu entfalten. Auch bei der Eklampsie wurde Phenytoin gelegentlich eingesetzt
(Friedman 1993). Phenytoin wird durch Hydroxylierung in der Leber inaktiviert, der
Hauptmetabolit wird über die Nieren ausgeschieden. Die Halbwertszeit von Phenytoin
schwankt zwischen 20 und 50 Stunden. Phe-nytoin reichert sich im Fettgewebe an. Die
Plasmakonzentration ist während der Schwangerschaft vermindert. Im letzten Drittel
wird dies teilweise dadurch kompensiert, dass der nicht an Plasmaproteine gebundene
Anteil ansteigt. Die verminderte Plasmakonzentration wird auch als Ursache für eine
erhöhte Anfallsbereitschaft während der Schwangerschaft angesehen. Falls erforderlich
sollte der freie Pheny-toinanteil im Blut bestimmt werden. Eine Beeinträchtigung der
Wirkung oraler Kontrazeptiva wird im Abschnitt 2.10.1 erörtert.
Typische Fehlbildungen.
Das teratogene Potenzial von Phenytoin ist seit 1964 bekannt (Janz 1964) und gilt
als erwiesen, auch wenn dies nicht in allen Studien bestätigt werden konnte (Samrén
1999). Im Vordergrund stehen Herzfehlbildungen, Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten und urogenitale
Fehlbildungen. Ursprünglich wurden diese Anomalien als „fetales Hydantoin-Syndrom”
bezeichnet (siehe Kapitel 2.10.3 und 2.10.5).
Häufigkeit gro;ßer Fehlbildungen.
Kaaja und Mitarbeiter (2003) fanden in einer Studie mit pränatal exponierten Kindern
gegenüber einer Kontrollgruppe, deren Mütter nicht behandelt wurden, aber eine Epilepsie
in der Vorgeschichte aufwiesen, bei Phenytoin eine mit 2% (3/124) nicht signifikant
erhöhte Fehlbildungsrate. Im Belfaster UK Epilepsy and Pregnancy Register wurden unter
Monotherapie mit Phenytoin 3,7% gro;ße Fehlbildungen bei 82 Schwangerschaften gefunden
(Morrow 2006). Die Vollständigkeit der Datenerhebung ist in solchen Registern allerdings
kritisch zu werten.
Studienergebnisse zu anderen Entwicklungsanomalien.
Dean und Mitarbeiter (2002) haben 149 pränatal exponierte Kinder mit 38 (älteren)
Geschwistern verglichen, bei denen die Mütter keine Antiepileptika genommen hatten.
Bei Monotherapie mit Phenytoin ergab sich eine erhöhte Fehlbildungsrate (16% versus
5%), Dysmorphiezeichen des Gesichts waren mit 52% gegenüber 25% ebenfalls häufiger,
aber nur der Unterschied bei der postnatalen Entwicklungsverzögerung (33% versus 11%)
war statistisch signifikant. Die Ergebnisse dieser Studie sind u.a. aufgrund der kleinen
Fallzahlen vorsichtig zu bewerten. Andererseits gibt der hohe Anteil auffälliger Kinder
zu denken.
Holmes und Mitarbeiter (2001) untersuchten mit einem dysmorpho-logisch geschulten
Kinderarzt 316 Neugeborene antiepileptisch behandelter Mütter auf das Vorhandensein
von mindestens einem der folgenden Merkmale: gro;ße Fehlbildungen, Mikrozephalie,
Wachstumsretar- dierung, Mittelgesichtshypoplasie und Fingerhypoplasie. Die Ergebnisse
wurden mit zwei Kontrollgruppen verglichen: 98 Kinder, deren Mütter eine Epilepsie
in der Vorgeschichte aufwiesen, aber während der Schwangerschaft nicht behandelt worden
waren, und 508 Kinder gesunder Mütter. Ein mit 21% (18 von 87) signifikant erhöhter
Anteil der Kinder, deren Mütter eine Monotherapie mit Phenytoin hatten, wies zumindest
eine der genannten Entwicklungsanomalien auf.
Einschränkungen der kognitiven Entwicklung wurden unter Pheny-tointherapie gehäuft
beobachtet (Scolnik 1994, Vanoverloop 1992, Hättig 1987). Eine Gesichtsdysmorphie
kann auf ein erhöhtes Risiko mentaler Entwicklungseinschränkungen hinweisen (Orup
2000). Koch und Mitarbeiter (1999) haben 116 Kinder im Alter von 11 bis 18 Jahren
nachuntersucht und einen signifikant geringeren IQ ermittelt, wenn während der Schwangerschaft
mit einer Kombinationstherapie aus Phenytoin und Primidon behandelt wurde. Das Ergebnis
war unabhängig vom sozioökonomischen Status, ein Einfluss des mütterlichen IQ ist
jedoch nicht auszuschließen. Ein Bericht diskutiert bei pränatal mit Phenytoin exponierten
Kindern Konflikte bei der späteren geschlechtsspezifischen Identitätsentwicklung (Dessens
1999).
Bei Neugeborenen kann es nach Phenytoinexposition zu Gerinnungsstörungen durch Vitamin-K-Mangel
kommen (siehe Kapitel 2.10.9).
Einige Veröffentlichungen beschäftigten sich mit dem möglichen Risiko der transplazentaren
Karzinogenese durch Phenytoin. Zwölf pränatal exponierte Kinder mit neuroektodermalen
Tumoren wurden beschrieben, sechs davon hatten Neuroblastome (Übersicht in Briggs
2005). Die Fallzahlen sind zu klein, um einen kausalen Zusammenhang zu belegen.
Empfehlung für die Praxis:
Zusammenfassend liegt das Risiko für Fehlbildungen bei einer antiepileptischen Monotherapie
mit Phenytoin nicht höher als das Zweifache der Spontaninzidenz. Auswirkungen auf
die mentale Entwicklung sind nicht auszuschlie;ßen.
Bei behandlungspflichtiger Epilepsie und stabiler Einstellung mit Phenytoin kann unter
Beachtung der genannten Risiken die Therapie in der Schwangerschaft fortgesetzt werden.
Eine Monotherapie ist anzustreben. Die Arzneimittelkonzentration muss regelmäßig kontrolliert
werden. Die tägliche Dosis sollte so gering wie therapeutisch verantwortbar eingestellt
werden. Bei Behandlung bis zur Geburt sind Auswirkungen auf das Neugeborene möglich.
Es muss deshalb auf klinische Symptome in den ersten Lebenstagen geachtet werden.
Eine Phe-nytointherapie im 1. Trimenon rechtfertigt keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch
(siehe Kapitel 1). Als zusätzliche Vorsorge sollte aber ein hoch auflösender Ultraschall
angeboten werden. Zur erweiterten Folsäureprophylaxe bei Planung einer Schwangerschaft
und zur Vitamin-K-Prophylaxe beim Neugeborenen siehe Kapitel 2.10.9.
2.10.17
Sultiam
Pharmakologie und Toxikologie.
Sultiam (Ospolot®) wird vorwiegend im Kindesalter bis zur Pubertät bei fokaler Epilepsie
eingesetzt. Eine über 30 Jahre alte Fallsammlung beschreibt 11 Schwangere, von denen
3 eine Fehlgeburt erlitten. Über Fehlbildungen wurde nicht berichtet. Für eine Risikobewertung
in der Schwangerschaft reichen diese Daten nicht aus.
Empfehlung für die Praxis:
Eine Sultiamexposition im 1. Trimenon rechtfertigt keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch
(siehe Kapitel 1). Wie bei anderen Antiepileptika, insbesondere bei Kombinationstherapie,
muss jedoch mit einem erhöhten Fehlbildungsrisiko gerechnet werden. Ein hoch auflösender
Ultraschall sollte zur Bestätigung einer normalen Entwicklung des Fetus angeboten
werden.
2.10.18
Valproinsäure
Pharmakologie.
Unter den klassischen Antiepileptika ist Valproinsäure (Valproatnatrium, 2-Propylpentansäure;
z.B. Convulex®, Ergenyl®, Orfiril®) ein vergleichsweise neues Mittel, das bei verschiedenen
Formen der Epilepsie wirksam ist (seine antikonvulsiven Eigenschaften wurden 1963
entdeckt). Es wird diskutiert, dass die therapeutische Wirkung durch eine Erhöhung
der Konzentration der hemmenden Überträgersubstanz Gammaaminobuttersäure (GABA) vermittelt
wird. Inzwischen wird Valproinsäure (VPA) auch bei anderen neurologischen und psychiatrischen
Indikationen eingesetzt, z. B. als Phasenpro-phylaktikum bzw. Affektstabilisator bei
bipolaren Erkrankungen.
VPA wird nach oraler Gabe gut resorbiert und liegt im Plasma zu 95 % an Eiwei;ß gebunden
vor. Die Lipophilie erklärt, dass VPA die Blut-Hirn-Schranke und die Plazenta leicht
überwindet.
Gegen Ende der Schwangerschaft wird VPA in stärkerem Umfang in der Leber metabolisiert,
gleichzeitig nimmt der ungebundene Anteil im Plasma zu. Beide Effekte können sich
aufheben, so dass die verfügbare aktive Substanz in etwa gleich bleibt (Nau 1981).
Die Konzentration im Nabelvenenblut ist bei Geburt mit dem 1,4–2,4fachen deutlich
höher als im mütterlichen Plasma (Nau 1981). Neugeborene scheiden VPA aufgrund der
noch nicht ausgereiften Leberenzyme verzögert aus. Die Halbwertszeit kann von 8–15
auf 15–60 Stunden verlängert sein. VPA verstärkt möglicherweise Zyklusunregelmä;ßigkeiten
und wird im Zusammenhang mit dem polycysti-schen Ovar-Syndrom (PCOS) diskutiert, das
mit einer herabgesetzten Fertilität und einem erhöhtem Testosteronspiegel einhergeht
(Isojärvi 1993). Eine nennenswerte Beeinträchtigung oraler Kontrazeptiva durch Enzyminduktion
ist nicht bekannt.
Typische Fehlbildungen.
Ein Valproinsäure-Syndrom wurde in den 80er Jahren definiert, das dysmorphe Entwicklungen
an Augenlidern, Nase und Mund umfasste, wie z.B. Epikanthus, flache Nasenwurzel, flaches
Philtrum sowie schmale sich überkreuzende Finger und Zehen und hyperkonvexe Nägel
(Kozma 2001). Au;ßerdem wurde über eine als Tri-gonozephalie imponierende Auffälligkeit
der Schädelform berichtet. Weitere Fallberichte beschreiben verschiedene präaxiale
Extremitätenanomalien (Rodriguez-Pinella 2000, Sharony 1993, Robert 1992), z.B. doppelter
oder fehlender Daumen, Aplasie des Radiusstrahls sowie Rippen- und Wirbelsäulenanomalien,
Herzfehlbildungen, Hypospadie, Porenzephalie und andere Hirnanomalien (Arpino 2000).
Typisch für VPA ist vor allem das 20fach erhöhte Risiko für Spina bifida und andere
Neuralrohrdefekte, wenn die Mutter zwischen dem 17. und 28. Tag nach Konzeption behandelt
wurde (Dansky 1991, Robert 1982), d.h. etwa 1–2% der exponierten Kinder sind betroffen.
Häufigkeit gro;ßer Fehlbildungen.
Bei Monotherapie mit VPA ist das Gesamtfehlbildungsrisiko um das 2- bis mehr als 4fache
höher als das Basisrisiko für unbehandelte, nicht an Epilepsie erkrankte Schwangere
und es ist ebenfalls höher als bei Monotherapie mit allen anderen Anti-epileptika
(Alsdorf 2004). Wide und Mitarbeiter (2004) bestätigten das in einer Studie des schwedischen
Geburtsregisters mit Daten von 1.398 Schwangeren, die mit Antiepileptika behandelt
wurden, davon 310 mit VPA. Auch Artama und Mitarbeiter (2005) kamen anhand von 263
mit Monotherapie behandelten Schwangeren aus dem finnischen Geburtsregister zu vergleichbaren
Ergebnissen, die sich wiederum von allen anderen Antiepileptika deutlich abhoben.
Im Belfaster UK Epilepsy and Pregnancy Register wurden bei 715 Schwangerschaften nach
VPA-Monotherapie 6,2% gro;ße Fehlbildungen gefunden. Die Durchschnittsrate für alle
Antiepileptika (Monotherapie) in diesem Register betrug 3,7% (Morrow 2006). Im Australischen
Epilepsieregister wurde bei den 110 mit VPA-Monotherapie Exponierten eine ungewöhnlich
hohe Rate von 17,1% ermittelt (Vajda 2005).
Kaaja und Mitarbeiter (2003) in Finnland verglichen pränatal mit Antiepileptika exponierte
Kinder mit einer Kontrollgruppe, deren Mütter nicht behandelt wurden, aber eine Epilepsie
in der Vorgeschichte aufwiesen. Bei einer Monotherapie mit VPA fanden sich mit 7%
(4/61) signifikant häufiger gro;ße Fehlbildungen.
Samren und Mitarbeiter (1999) fanden mit 6% (9/158) ebenfalls signifikant häufiger
gro;ße Fehlbildungen.
Mastroiacovo und Mitarbeiter (1998) haben in einer prospektiven, kontrollierten Studie
des europäischen teratologischen Netzwerkes ENTIS mehr als 1.650 Schwangerschaften
ausgewertet. Unter Monotherapie waren gro;ße Fehlbildungen nur bei VPA signifikant
häufiger (10/163 = 6%).
Eine antiepileptische Kombinationstherapie mit VPA ergab in den o.g. Studien z. T.
über 10 % gro;ße Fehlbildungen (siehe auch Wyszynski 2005).
Speziell für fehlende oder hypoplastische Extremitätenanlagen errechneten Rodriguez-Pinella
und Mitarbeiter (2000) gegenüber einer Kontrollgruppe ein etwa 6fach erhöhtes Risiko,
danach sind 0,4% der exponierten Kinder von einer derartigen Entwicklungsstörung betroffen.
Dosis-Wirkungs-Beziehung.
Einige Studien untersuchten für VPA die Dosisabhängigkeit des Fehlbildungsrisikos.
Mehr als 1.000 mg/Tag oder eine Serumkonzentration über 70 μg/ml ergab ein signifikant
höheres Risiko (Kaneko 1999, Samren et al., 1997, Samrén et al., 1999). Morrow und
Mitarbeiter (2006) fanden bei > 1.000 mg/Tag unter Monotherapie mit 9,1 % gro;ßen
Fehlbildungen ein deutlich höheres, jedoch statistisch nicht signifikantes Risiko
als bei niedrigeren Tagesdosen. Einen besonders ausgeprägten Risikoanstieg für Neuralrohrdefekte,
Herzfehlbildungen, Gaumenspalten und Hypospadien fanden auch Vajda und Mitarbeiter
(2005) ab 1.400 mg/Tag. Sie diskutieren unterschiedliche Metabolisie-rungswege für
Dosen bis 1.000 mg/Tag, die unterschiedliche teratogene Mechanismen zur Folge haben
könnten. Andere Untersucher konnten Schwellendosis oder Schwellenkonzentrationen nicht
feststellen (Kaaja 2003).
Andere Organanomalien.
Dean und Mitarbeiter (2002) verglichen 149 pränatal exponierte Kinder mit 38 (älteren)
Geschwistern, bei denen die Mütter keine Antiepileptika in der Schwangerschaft genommen
hatten. Bei Monotherapie mit VPA ergab sich ein signifikant höheres Risiko für Gesichtsdysmorphien
(70% versus 25%). Erkrankungen in der späteren Kindheit (Sehstörungen, Otitis media,
Gelenkprobleme) wurden ebenfalls häufiger beobachtet. Die Ergebnisse dieser Studie
sind aufgrund der kleinen Fallzahlen vorsichtig zu bewerten, bemerkenswert ist der
hohe Anteil auffälliger Kinder bei den pränatal exponierten und den Kontrollen. Die
Autoren einer anderen Studie warnen von der Überbewertung der Zeichen einer Gesichtsdysmorphie
(Kini 2006). Sie fanden Auffälligkeiten am häufigsten bei VPA, allerdings wiesen auch
45 % der Kinder nicht behandelter, an Epilepsie erkrankter Mütter einige der Dysmorphiezeichen
auf.
Neonatale Auffälligkeiten.
Zu weiteren Auffälligkeiten der Therapie mit VPA gehören fetale Hypoxie mit niedrigen
Apgar-Werten, Mikrozephalie und ein vermindertes postnatales Wachstum. Auch Leberzellnekro-sen
wurden bei einzelnen Kindern nach VPA-Behandlung der Mutter beschrieben (Legius 1987),
ebenso Hämorrhagien infolge von Fibrino-genmangel und gestörter Thrombozytenfunktion
(Bavoux 1994) und eine Hypoglykämie des Neugeborenen (Ebbesen 1998).
Mentale Entwicklungsauffälligkeiten.
Koch und Mitarbeiter (1996) zeigten, dass Übererregbarkeit und andere neurologische
Auffälligkeiten im Verlauf der Kindheit mit der VPA-Konzentration im Nabelschnurblut
bei Geburt korrelieren. Eine Beeinträchtigung der kognitiven Entwicklung wird von
einigen Autoren diskutiert (Ornoy 1996) und zwar besonders bei Kindern, die auch Gesichtsdysmorphien
aufweisen. In zahlreichen Publikationen des vergangenen Jahrzehnts wurden mentale
Entwicklungseinschränkungen, Verhaltensauffälligkeiten, wie z.B. Aufmerksamkeitsdefizit
und Hyperaktivität, sowie autismusartige Symptome (ASD - autism spectrum disorders)
nach Therapie mit VPA beschrieben. Erstmalig hat Christianson (1994) das Auftreten
von Autismus im Zusammenhang mit intrauteriner VPA-Exposition in einer Fallstudie
beschrieben. Vorgestellt wurden 2 Geschwisterpaare, von denen drei Kinder eine globale
Entwicklungsstörung mit Sprachstörungen und Dysmorphiezeichen aufwiesen. Bei einem
dieser Kinder wurde zusätzlich die Diagnose eines infantilen Autismus gestellt. Das
vierte Kind wies leichte Dysmorphiezeichen auf und hatte einen reduzierten IQ, vor
allem hinsichtlich verbaler Leistungen. Williams und Mitarbeiter (2001) berichteten
in der Folge über insgesamt 6 Patienten mit einem fetalen VPA-Syndrom, mentaler Retardierung
und der Manifestation einer autistischen Symptomatik.
In einer Untersuchung an 57 Kindern mit Antiepileptika-Syndrom -46 waren VPA-exponiert
- zeigten 80% der Kinder Sprachentwick-lungsstörungen, Lernstörungen und Verhaltensauffälligkeiten.
Bei 60 % fanden sich mindestens 2 autistische Symptome, bei 4 Kindern wurde regelrecht
die Diagnose Autismus gestellt, bei zweien ein Asperger Syn-drom diagnostiziert (Moore
2000). Eine andere Untersuchung an 40 Kindern, deren Mütter mit einem Antikonvulsivum
(mono)therapiert wurden, fand man bei einer Nachuntersuchung die stärksten Auffälligkeiten
in der VPA-Gruppe. Gaily und Mitarbeiter (2004) haben bei 13 Kindern nach einer Monotherapie
mit VPA oder einer antiepileptischen Kombinationstherapie eine Beeinträchtigung des
verbalen Intelligenzquotienten gefunden, die bei 86 Kindern nach einer Monotherapie
mit Carbamazepin nicht nachweisbar war. Mütterlicher Epilepsietyp und generalisiert
tonisch-klonische Anfälle in der Schwan- gerschaft waren nicht mit der kindlichen
Intelligenz assoziiert. Adab und Mitarbeiter (2001) haben in einer Untersuchung, die
etwa 70 Schulkinder mit vorgeburtlicher VPA-Exposition einschloss, nur bei diesen
signifikant häufiger zusätzliche schulische Fördermaßnahmen ermittelt (OR = 3,4 bei
Monotherapie und 2,5 bei Kombinationstherapie mit Valproat). Eine weiterführende Untersuchung
ergab negative Auswirkungen auf die sprachliche Entwicklung (Sprach-IQ), wenn die
tägliche Valproat-dosis über 800 mg lag. Dysmorphiezeichen waren mit einem erniedrigten
Sprach-IQ (< 79) assoziiert: 55 % der Kinder mit mittleren bis ausgeprägten Dysmorphiezeichen
gegenüber 22% mit leichten oder keinen dysmorphen Merkmalen hatten einen Sprach-IQ
< 79. Andere Antiepileptika ergaben keine signifikanten Effekte, hingegen korrelier-ten
mehr als 5 generalisiert tonisch-klonische Anfälle in der Schwangerschaft - unabhängig
von der antiepileptischen Medikation - signifikant mit einem geringeren Sprach-IQ
(Adab 2004). Eriksson und Mitarbeiter (2005) fanden unter 13 Kindern mit Valproat-Exposition
einen niedrigeren IQ im Vergleich zu nicht exponierten bzw. nach Therapie mit Carbamazepin.
Bei einigen dieser Untersuchungen ist nicht auszuschließen, dass der Bildungsgrad
der Eltern zum statistisch signifikanten Effekt beigetragen hat (Schmitz 2006).
VPA und Autismus.
Der postulierte Zusammenhang zwischen VPA und Autismus wird unterstützt durch Beobachtungen,
dass Allelvarianten des HoxA1-Gens bei autistischen Personen gefunden wurden und VPA
in der Lage ist, die Expression von HoxA1 beim Embryo zu verändern. Auch anderen teratogenen
Einflüssen wie Rötelninfektion, Misopro-stol, Alkoholabusus und Thalidomid wird unterstellt,
autismusartige Symptome pränatal induzieren zu können. Bei Thalidomid waren autistische
Symptome vermehrt dann beobachtet worden, wenn die Exposition während des Zeitraumes
stattfand, in dem sich das Neural-rohr schlie;ßt (Stromland 1994). Neuropathologisch
fanden sich sowohl in einer Humankasuistik eines pränatal Thalidomid exponierten Patienten
als auch tierexperimentell bei Ratten mit intrauteriner VPA-Exposition eine Läsion
der Hirnnervenkerne im Stammhirn sowie Kleinhirnanomalien mit verringerter Zahl von
Purkinjezellen (Übersicht in Arndt 2005, Rodier 1997). Andere Untersucher haben gravierende
Auswirkungen von VPA auf serotonerge Neurone nachgewiesen, deren Entwicklung auch
bei autistischen Patienten gestört ist (Miyazaki 2005).
Empfehlung für die Praxis:
VPA ist das riskanteste Antiepileptikum in der Schwangerschaft. Es erhöht das Fehlbildungsrisiko
mindestens um das 2–3fache und verursacht auch mentale Entwicklungsstörungen. Bei
einer antiepileptischen Kombinationstherapie ist das Risiko noch höher. Wurde bereits
ein durch VPA geschädigtes Kind geboren, ist aufgrund der genetischen Disposition
mit einem Wiederholungsrisiko von etwa 50% für eine teratogene Schädigung zu rechnen.
Im reproduktionsfähigen Alter, zumindest aber bei Planung einer Schwangerschaft, sollte
VPA strikt gemieden und nur in therapierefraktären Fällen bei Epilepsie eingesetzt
werden. Falls es keine therapeutische Alternative zu VPA, wie z. B. Lamotrigin, gibt,
ist eine Monotherapie anzustreben. Die Tagesdosis sollte möglichst unter 1.000 mg
liegen und auf 3–4 Einzeldosen verteilt werden. Die Konzentration im Plasma sollte
regelmäßig kontrolliert werden und 70 μg/ml möglichst nicht überschreiten. Zur erweiterten
Folsäureprophylaxe bei Planung einer Schwangerschaft siehe Kapitel 2.10.8. Die Behandlung
mit VPA rechtfertigt keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel
1.15). Es sollte jedoch eine erweiterte vorgeburtliche Diagnostik mit hoch auflösendem
Ultraschall angeboten werden.
Neuere Antiepileptika
2.10.19
Felbamat
Pharmakologie und Toxikologie.
Zu Felbamat (Taloxa®), das im Kindesalter zur Behandlung des Lennox-Gastaut-Syndrom
verwendet wird, liegen 7 vom Hersteller beobachtete Schwangerschaftsverläufe vor,
die zur Geburt von 4 unauffälligen Kindern, zwei Abbrüchen sowie einem Spontanabort
führten.
Empfehlung für die Praxis:
Eine Felbamat-Behandlung im 1. Trimenon rechtfertigt keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch
(siehe Kapitel 1). Wie bei anderen Antiepileptika muss jedoch insbesondere bei Kombinationstherapie
mit einem erhöhten Fehlbildungsrisiko gerechnet werden. Es sollte eine erweiterte
vorgeburtliche Diagnostik mit hoch auflösendem Ultraschall angeboten werden.
2.10.20
Gabapentin
Pharmakologie und Toxikologie.
Gabapentin (z. B. Neurontin®) wird vor allem bei fokaler Epilepsie und bei neuropathischen
Schmerzen angewendet. Es liegt im Serum frei, d. h. nicht an Protein gebunden vor.
Von mehr als 50 Schwangerschaften wird aus dem Register des Herstellers berichtet
(Montouris 2003). Neben weiteren Einzelfallberichten liegen einige Dutzend dokumentierte
Schwangerschaften aus einer Verschrei-bungsstudie (Wilton und Shakir 2002), aus dem
australischen Register für Epilepsie und Schwangerschaft sowie eigenen Beobachtungen
vor. Unter den gesammelten prospektiven und retrospektiven Berichten finden sich 4
(gro;ße) Fehlbildungen: ein Kind mit Holoprosenzephalie und Zyklopie (Rosa 1995) und
ein weiteres mit Gehörgangsatresie (zitiert in Briggs 2005; beide in Kombination mit
anderen Antiepileptika), eines mit Hypospadie nach Kombinationstherapie mit Valproin-säure
und ein Kind mit einseitiger Nierenagenesie nach Kombinationstherapie mit Phenobarbital.
Von den 11 Neugeborenen aus dem o.g. Schwangerschaftsregister, deren Mütter in der
gesamten Schwangerschaft eine Monotherapie erhielten, wies keines Fehlbildungen auf
(Montouris 2003). Im Belfaster UK Epilepsy and Pregnancy Register wurde nach Monotherapie
mit Gabapentin nur eine gro;ße Fehlbildung unter 31 Schwangerschaften (3,2%) gefunden
(Morrow 2006). Unter 15 prospektiv (Monotherapie) und 9 retrospektiv von uns dokumentierten
Schwangerschaften sahen wir keine gro;ße Fehlbildung. Chambers und Mitarbeiter (2005)
berichten über 13 pränatal exponierte Neugeborene, von denen 2 (eines mit Monotherapie)
Zeichen einer Gesichts-dysmorphie aufwiesen, die sonst bei klassischen Antiepileptika
be- obachtet werden. Die bisher vorliegenden Daten lassen kein spezifisches Muster
an gro;ßen Fehlbildungen und keine Häufung von kleineren Anomalien bzw. Dysmorphien
erkennen. Allerdings reichen Fallzahl und Methodik der Datenerhebung nicht aus, um
ein Risiko auszuschlie;ßen. Tierexperimentell gibt es bisher keine Hinweise auf Teratoge-nität.
Empfehlung für die Praxis:
Nach den bisher vorliegenden klinischen und tierexperimentellen Daten scheint das
teratogene Risiko im Vergleich zu den klassischen Antiepileptika nicht höher, sondern
eventuell sogar geringer zu sein. Gabapentin kann bei Epilepsie in der Schwangerschaft
eingesetzt werden, wenn die noch bestehende Unsicherheit zum teratogenen Risiko akzeptiert
wird. Eine Kombination mit Valproinsäure ist zu vermeiden. Bei nicht epileptischen
Behandlungsindikationen sollten primär Mittel aus dem jeweiligen Indikationsbereich
bevorzugt werden, d.h. Schmerzmittel oder Psychopharmaka. Die Gabapentin-Behandlung
im 1. Trimenon rechtfertigt keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch (siehe
Kapitel 1.15). Ein hoch auflösender Ultraschall sollte zur Bestätigung einer normalen
Entwicklung des Fetus angeboten werden.
2.10.21
Lamotrigin
Pharmakologie.
Lamotrigin (Lamictal®) wird bei partiellen und sekundär generalisierten tonisch-klonischen
Anfällen sowie als Phasenprophylaxe bei bipolaren psychiatrischen Erkrankungen eingesetzt.
Es ist chemisch ein Phenyltriazin und hemmt die Dihydrofolsäure-Reduktase. Dennoch
lässt sich beim Erwachsenen keine nennenswerte folatantagonistische Wirkung darstellen.
Die Proteinbindung ist bei Lamotrigin mit etwa 55 % deutlich geringer als bei den
klassischen Antiepileptika.
Anders als bei der Valproinsäure liegen bisher keine Hinweise für nennenswerte Störwirkungen
auf Menstruationszyklus bzw. Fertilität vor. Nach Umstellung von Valproinsäure auf
Lamotrigin bei Frauen mit polycystischem Ovar-Syndrom (PCOS) besserte sich die Symptomatik
(Übersicht zur geschlechtsspezifischen Pharmakologie siehe Schmitz 2003, Isojärvi
1998). Eine leichte Beeinträchtigung oraler Kontrazep-tiva durch Enzyminduktion ist
möglich (siehe Kapitel 2.10.1). Andererseits kann bei gleichzeitiger Einnahme der
Pille die Lamotriginkonzen-tration abnehmen bzw. nach Absetzen der Pille wieder ansteigen
(Sabers 2001). Werden hormonale Kontrazeptiva vor einer (geplanten) Schwangerschaft
abgesetzt, normalisiert sich die durch Kontrazeptiva erhöhte Clearance wieder. Wird
Lamotrigin in unverändert hoher Dosis weiter gegeben, können zum Zeitpunkt einer nun
folgenden Konzeption (zu) hohe Lamotriginspiegel vorliegen (de Haan 2004).
Erhebliche Clearancesteigerungen während der Schwangerschaft mit einem Maximum von
über 300% um Schwangerschaftswoche 32 erfordern monatliche Serumkonzentrationsbestimmungen,
wenn es nicht zur erhöhten Krampfbereitschaft kommen soll (Petrenaite 2005, Pennell
2004). Die entsprechende Dosissteigerung kann nach der Geburt zu toxischen Symptomen
führen, wenn die Dosis nicht wieder reduziert wird.
Toxikologie.
Fallserien und Schwangerschaftsregister mit über 1.000 prospektiv beobachteten Schwangerschaftsverläufen
unter Monotherapie ergeben bislang keine eindeutigen Hinweise auf teratogene Effekte
(GlaxoSmithKline: Lamotrigine Pregnancy Register 2006, Morrow 2006, Sabers 2004, eigene
Erfahrungen). Allein das Lamotrigine Pregnancy Register des Herstellers (Interim Report
1.9.1992 bis 31.9.2005) überblickt 766 prospektiv erfasste, mit Monotherapie im 1.
Trimenon behandelte Schwangere. Bei 20 von 707 auszuwertenden Schwangerschaften (2,8%)
wurden gro;ße Fehlbildungen gefunden. In Kombination mit Valproinsäure waren es hingegen
14/119 (11,8%) und in Kombination mit anderen Antiepileptika 7/256 (2,7%). Sowohl
gro;ße Fehlbildungen wie auch kleine Anomalien deuten nicht auf ein spezifisches Muster
hin.
Die bei den klassischen Antiepileptika beobachteten Dysmorphiezei-chen sind aus diesen
Registerdaten bisher nicht zu erkennen. Allerdings zielt die Erfassung auch vordergründig
auf gro;ße Fehlbildungen.
Im Belfaster UK Epilepsy and Pregnancy Register wurden unter 647 Schwangerschaften
mit Monotherapie 3,2% gro;ße Fehlbildungen gefunden. Eine Doppelterfassung mit dem
Register des Herstellers ist nicht auszuschlie;ßen. Die Belfaster Daten ergaben ein
mit 5,4% signifikant höheres Fehlbildungsrisiko für Dosen über 200 mg/Tag (Morrow
2006). Eine solche Dosisabhängigkeit lieβ sich anhand der Daten des Herstellers (Lamotrigine
Pregnancy Register 2006) nicht darstellen. Unter 52 vorwiegend mit Kombinationstherapie
behandelten Schwangeren des australischen Epilepsieregisters wurde mit 4 (7,7%) Fehlbildungen
eine erhöhte, aber statistisch nicht signifikante Rate ermittelt (Vajda 2003). Im
dänischen Epilepsieregister fand man unter 51 vorwiegend mit Monotherapie behandelten
Schwangeren nur eine gro;ße Fehlbildung (Sabers 2004). Im nordamerikanischen Epilepsieregister
NAREP wurde kürzlich eine andernorts nicht beobachtete erhöhte Rate von Mundspaltbildungen
(5/564) ermittelt (pers. Mitteilung 2006). In unserer eigenen Datenbank mit 134 vorwiegend
in Monotherapie behandelten Schwangeren ergeben sich beim Vergleich zu einer unbe-handelten
Kontrollgruppe keine erhöhten Fehlbildungsziffern.
Tierversuche haben bisher keinen Anhalt für Teratogenität erbracht.
Hinweise auf nennenswerte neonatale Störungen wurden bislang nicht bekannt. Untersuchungen
zu Langzeitauswirkungen auf die mentale Entwicklung liegen nicht vor.
Empfehlung für die Praxis:
Lamotrigin ist unter den neuen Antiepileptika das derzeit am besten untersuchte Mittel.
Dennoch reichen die vorliegenden Daten nicht für eine abschlie;ßende Risikobewertung
aus. Da bislang weder tierexperimentelle noch nennenswerte klinische Hinweise auf
Teratogenität bei Monothe-rapie vorliegen, sollte es bei Planung einer Schwangerschaft
als Antiepileptikum bevorzugt werden. Insbesondere sollte bei bestehender Valproattherapie
eine Umstellung auf Lamotrigin vor einer Schwangerschaft angestrebt werden. Eine Kombination
mit Valproinsäure muss vermieden werden. Ein hoch auflösender Ultraschall sollte zur
Bestätigung einer normalen Entwicklung des Fetus angeboten werden. Der erheblich gesteigerte
Abbau von Lamotrigin während der Schwangerschaft erfordert monatliche Serumkonzentrationsbestimmungen
und eine Dosisanpassung.
2.10.22
Levetiracetam
Pharmakologie und Toxikologie.
Nach Levetiracetam (Keppra®), das bei fokaler und generalisierter Epilepsie eingesetzt
wird, kamen drei gesunde Kinder zur Welt, die im Alter von 6 bzw. 12 Monaten normal
entwickelt waren (Long 2003). Elf in den Niederlanden im Rahmen des EURAP-Projektes
registrierte Schwangerschaften (Ten Berg 2005) und etwa 60 dem Hersteller vorliegende
Schwangerschaftsverläufe (vorwiegend unter Kombinationstherapie) ergaben bislang ebenfalls
keine Hinweise auf teratogene Effekte. Im Belfaster UK Epilepsy and Pregnancy Register
wurde unter Monotherapie bei 22 Schwangerschaften keine gro;ße Fehlbildung gefunden
(Morrow 2006). In unserer Datenbank beobachteten wir unter 14 prospektiv erfassten
Schwangerschaften nur eine kleine Fehlbildung (Hexadaktylie) nach einer Kombinationstherapie
mit Carbamazepin. Tierexperimentell wurden bei Ratten und Kaninchen kleinere Extremitätenanomalien
beobachtet.
Empfehlung für die Praxis:
Die vorläufigen Ergebnisse zu Levetiracetam reichen für eine Risikobewertung nicht
aus. Bei behandlungspflichtiger Epilepsie und stabiler Einstellung mit Levetiracetam
kann in der Schwangerschaft thera-piert werden, wenn die bestehende Unsicherheit zum
teratogenen Risiko akzeptiert wird. Eine Kombination mit Valproinsäure ist zu vermeiden.
Eine Behandlung im 1. Trimenon rechtfertigt keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch
(siehe Kapitel 1.15). Ein hoch auflösender Ultraschall sollte zur Bestätigung einer
normalen Entwicklung des Fetus angeboten werden.
2.10.23
Oxcarbazepin
Pharmakologie.
Oxcarbazepin (z. B. Trileptal®), das bei fokaler Epilepsie verwendet wird, ist dem
Carbamazepin verwandt, wird aber im Gegen- satz zu diesem nicht über potenziell (embryo)toxische
Epoxidmetabo-lite abgebaut, sondern zum aktiven Metaboliten 10,11-Dihydro-10-Hydroxy-Carbazepin
(MHD). Durch Enzyminduktion kann die hormonale Kontrazeption versagen. Daher sollte
primär nicht mit hormonalen Kontrazeptiva verhütet werden (siehe Kapitel 2.10.1).
Eine verstärkte Ausscheidung ist während der Schwangerschaft möglich und kann eine
Dosiserhöhung erforderlich machen. Im Nabelschnurblut wurden ähnliche Konzentrationen
wie bei der Mutter nachgewiesen.
Toxikologie.
Es liegen über 300 dokumentierte Schwangerschaftsverläufe vor, etwa zwei Drittel mit
Monotherapie (Artama 2005, Meischenguiser 2004, Sabers 2004, Kaaja 2003, Andermann
1994, Friis 1993, Herstellerdatenbank, eigene Beobachtungen). Andermann und Mitarbeiter
(1994) haben unter 28 Schwangerschaften ein Kind mit Neural-rohrdefekt (dessen Mutter
zusätzlich Valproinsäure eingenommen hatte), ein Kind mit Amnionbandsyndrom und ein
weiteres mit Dys-morphiezeichen dokumentiert. Unter den 108 vom Hersteller erfassten
Schwangerschaften gibt es 15 Fehlbildungen, davon 5 nach Monotherapie. Ein typisches
Fehlbildungsmuster ist bislang nicht zu erkennen. Die Datensammlung erlaubt noch keine
Risikoberechnung, da es sich sowohl um prospektive als auch retrospektive Berichte
handelt, die Monotherapien und Kombinationen mit anderen Antiepileptika umfassen.
Kaaja und Mitarbeiter (2003) fanden in einer grÖßeren Studie, zu der auch 9 pränatal
mit Oxcarbazepin exponierte Kinder gehörten, eine gro;ße Fehlbildung. Dies Ergebnis
(1/9 = 11%) dieser sehr kleinen Gruppe wurde als signifikant erhöht gegenüber der
Kontrollgruppe mit 239 Kindern gewertet, deren Mütter nicht behandelt wurden, aber
eine Epilepsie in der Vorgeschichte aufwiesen. Eine weitere Publikation aus Finnland
berichtet über eine (urogenitale) Fehlbildung unter 99 Schwangerschaften mit Monotherapie
(Artama 2005). Einige dieser 99 Schwangerschaften sind möglicherweise bereits bei
Kaaja (2003) publiziert.
Meischenguiser und Mitarbeiter (2004) haben unter 55 Neugeborenen (20 mit Kombinationstherapie,
35 mit Monotherapie) nur eine gro;ße Fehlbildung (des Herzens; Kombinationstherapie
mit Phenobar-bital) beobachtet. Alle Kinder aus der Monotherapiegruppe waren gesund.
Diese 55 Fallberichte enthalten offenbar (teilweise) auch die 42 Kinder, die von Rabinowicz
(2002) publiziert wurden. Sabers und Mitarbeiter (2004) fanden unter 37 Schwangerschaften
zwei Herzfehlbildungen (davon eine Kombinationstherapie mit Lamotrigin). In einem
Review errechnet Montouris (2005) eine Fehlbildungshäufigkeit von 2,4% (6/248) unter
Monotherapie mit Oxcarbazepin.
Tierexperimentell wirkt Oxcarbazepin teratogen. An Eizellen beim Hamster wurden genotoxische
Effekte beobachtet und bei Ratten kra-niofaziale, kardiovaskuläre und Skelettfehlbildungen
in einem Dosis- bereich, der dem therapeutischen beim Menschen (auf die Körperoberfläche
bezogen) entspricht.
Empfehlung für die Praxis:
Zusammenfassend lässt eine Monotherapie mit Oxcarbazepin bislang keine teratogene
Wirkung beim Menschen erkennen. Die vorläufigen Ergebnisse reichen jedoch für eine
differenzierte Risikobewertung noch nicht aus. Bei behandlungspflichtiger Epilepsie
und stabiler Einstellung mit Oxcarbazepin kann in der Schwangerschaft therapiert werden,
wenn die bestehende Unsicherheit zum teratogenen Risiko akzeptiert wird. Eine Kombination
mitValproinsäure muss vermieden werden. Die Oxcarbazepin-Behandlung im 1. Trimenon
rechtfertigt keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel 1.15).
Ein hoch auflösender Ultraschall sollte zur Bestätigung einer normalen Entwicklung
des Fetus angeboten werden. Zur erweiterten Folsäurepro-phylaxe bei Planung einer
Schwangerschaft und zur Vitamin-K-Prophylaxe beim Neugeborenen siehe Abschnitt 2.10.9.
2.10.24
Pregabalin
Pharmakologie und Toxikologie.
Pregabalin (Lyrica®) wird bei partiellen Anfällen mit und ohne Generalisierung und
bei neuronalen Schmerzen eingesetzt. Seine analgetische Wirkung soll es über selektive
Bindung an spezielle Untereinheiten der spannungsabhängigen Calciumkanäle an den Endigungen
der primär afferenten Nozirezeptoren im Rückenmark entfalten und darüber den Calciumeinstrom
in die Nervenzellen-digung modellieren. Daraus resultieren eine verminderte Freisetzung
exzitatorischer Überträgersubstanzen und die Abschwächung der Übererregung. Eine Interaktion
mit hormonalen Kontrazeptiva hat sich nicht gezeigt. Zur Anwendung in der Schwangerschaft
liegen keine Erfahrungen vor.
Empfehlung für die Praxis:
Eine Behandlung mit Pregabalin im 1. Trimenon rechtfertigt keinen risikobegründeten
Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel 1.15). Wie bei anderen Antiepileptika, insbesondere
bei Kombinationstherapie, ist ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko nicht auszuschlie;ßen.
Ein hoch auflösender Ultraschall sollte zur Bestätigung einer normalen Entwicklung
des Fetus angeboten werden.
2.10.25
Tiagabin
Pharmakologie und Toxikologie.
Tiagabin (Gabitril®) ist ein reversibler GABA-Wiederaufnahmehemmstoff, der durch die
Erhöhung des extrazellulären GABA (Gammaaminobuttersäure), einem inhibitorischen Neurotransmitter,
antikonvulsiv wirkt und bei fokaler Epilepsie verwendet wird. Von 22 in einer Publikation
erwähnten Schwangerschaften wurden 9 ausgetragen. Darunter befand sich ein Kind mit
Hüftluxa-tion bei Stei;ßlage (Leppik 1999). Weitere, teils unter Kombinationstherapie
ausgetragene Kinder, wiesen keine Fehlbildungen auf (z. B. Vajda 2003, eigene Beobachtungen).
Tierexperimentell zeigten sich bei Ratten unter hohen Dosen (100 mg/kg/Tag) u.a. kraniofaziale
Anomalien.
Empfehlung für die Praxis:
Die vorläufigen Ergebnisse reichen für eine Risikobewertung nicht aus. Eine Behandlung
mit Tiagabin im 1. Trimenon rechtfertigt keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch
(siehe Kapitel 1.15). Wie bei anderen Antiepileptika, insbesondere bei Kombinationstherapie,
ist ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko nicht auszuschlie;ßen. Ein hoch auflösender Ultraschall
sollte zur Bestätigung einer normalen Entwicklung des Feten angeboten werden.
2.10.26
Topiramat
Pharmakologie und Toxikologie.
Topiramat (Topamax®) wird bei fokaler und generalisierter Epilepsie eingesetzt. Durch
Enzyminduktion kann es zum Versagen hormonaler Kontrazeption führen. Daher sollte
primär nicht mit hormonalen Kontrazeptiva verhütet werden (siehe Kapitel 2.10.1).
Zu Topiramat wird über drei gesunde Kindern berichtet und über ein reif geborenes
Mädchen mit Wachstumsretardierung, generalisiertem Hirsutismus, einer dritten Fontanelle
und Dysmorphien an Nase und Endphalangen, dessen Mutter während der gesamten Schwangerschaft
zweimal täglich 700 mg Topiramat als Monotherapie erhielt (Hoyme 1998). Während der
klinischen Prüfung im Rahmen der Zulassung und im Postmarketing Surveillance wurden
weitere 38 Schwangerschaften, davon 17 unter Monotherapie erfasst. Drei Kinder wiesen
Anomalien auf (alle nach Kombinationstherapie). Der Hersteller berichtet über weitere
110 Schwangerschaften, bei denen 5 Jungen Hypospadien hatten. Weitere Details wurden
nicht angegeben (zitiert in Yerby 2003). Andere Untersucher haben die Assoziation
mit Hypospadien bisher nicht bestätigt. Im Belfaster UK Epilepsy and Pregnancy Register
wurden zwei gro;ße Fehlbildungen (7,1 %) bei 28 Schwangerschaften mit Monotherapie
registriert (Morrow 2006). In unserer eigenen prospektiv angelegten Datenbank kam
es bei 10 Schwangerschaften zu 7 Lebendgeburten. Ein Kind hatte eine Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte
bei umfangreicher Co-Medikation (keine anderen Antiepileptika), eines eine Hypospadie
(Kombination mit Valproinsäure) und eines war mikrozephal und wies eine Ohrmuscheldysplasie
auf.
Weitere Einzelfallberichte ergeben keine Hinweise auf spezifische teratogene Effekte
(Öhman 2002, Vajda 2003, eigene Beobachtung).
Topiramat wirkt tierexperimentell teratogen. Bei Mäusen wurden bereits bei 20 % der
beim Menschen therapeutischen Dosis (auf Körperoberfläche bezogen) kraniofaziale Fehlentwicklungen
festgestellt und bei Ratten und Kaninchen wurden u.a. Extremitätenreduktionsdefekte
beobachtet.
Empfehlung für die Praxis:
Die bisher vorliegenden Daten lassen kein spezifisches Muster an gro;ßen Fehlbildungen
erkennen. Allerdings reichen Fallzahl und Methodik der Datenerhebung nicht aus, um
ein Risiko für Anomalien auszuschließen. Bei behandlungspflichtiger Epilepsie und
stabiler Einstellung mit Topiramat kann in der Schwangerschaft therapiert werden,
wenn die bestehende Unsicherheit zum teratogenen Risiko akzeptiert wird. Eine Kombination
mit Val-proinsäure muss vermieden werden. Die Behandlung mit Topiramat im 1. Trime-non
rechtfertigt keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel 1.15).
Ein hoch auflösender Ultraschall sollte zur Bestätigung der normalen Entwicklung des
Fetus angeboten werden. Zur erweiterten Folsäureprophylaxe bei Planung einer Schwangerschaft
und zur Vitamin-K-Prophylaxe beim Neugeborenen siehe Abschnitt 2.10.9.
2.10.27
Vigabatrin
Pharmakologie und Toxikologie.
Vigabatrin (Sabril®) wird nur noch in Ausnahmefällen bei Resistenz gegenüber anderen
Antiepileptika (bei fokaler Epilepsie und bei West-Syndrom im Kindesalter) angewendet.
Es hemmt irreversibel die GABA-Aminotransferase und erhöht damit die Konzentration
des inhibierenden Neurotransmitters GABA im Zentralnervensystem. Infolgedessen werden
abnorme, Krampfaktivitäten auslösende Entladungen unterdrückt. Obwohl die Halbwertszeit
nur 4–8 Stunden beträgt, hält der Hemmeffekt 3–5 Tage an. Im Plasma liegt es in nicht
proteingebundener Form vor. Vigabatrin kann zu einer irreversiblen konzentrischen
Gesichtsfeldeinengung beim Patienten führen. Tierexperimentell gibt es Hinweise auf
neuropathologische Effekte mit Mikrovakuolenbildung in verschiedenen Bereichen des
ZNS.
Der plazentare Übergang von Vigabatrin wurde nachgewiesen (Tran 1998). Etwa 400 dokumentierte
Schwangerschaftsverläufe in mehreren Fallserien (Morell 1996, Fallsammlung des Herstellers)
liegen vor, die eine auffällige Rate angeborener Anomalien offenbaren: 18% bei Morell
(1996) und 57 von 239 Lebendgeburten im Register des Herstellers, das insgesamt 331
Schwangerschaften umfasst. Allerdings enthält die Herstellerdatenbank sowohl prospektiv
als auch retrospektiv erfasste Fälle mit Mono- und Kombinationstherapie, daher ist
eine Risikoberechnung auf dieser Datenbasis nicht möglich. Ein typisches Fehlbildungsmuster
ist bislang nicht erkennbar. Zwei Publikationen erwäh- nen eine Zwerchfellhernie (Kramer
1992) und Hypospadie (Lindhout 1994), allerdings nach Kombinationstherapie mit Carbamazepin.
Bei 8 Schwangerschaften aus dem australischen Epilepsieregister (Vajda 2003) und weiteren
7 aus eigener Beobachtung (alle Kombinationstherapie) fanden sich keine teratogenen
Ereignisse.
Empfehlung für die Praxis:
Aufgrund der allgemeinen Nebenwirkungen (z.B. am Auge) sollte Vigabatrin sehr zurückhaltend
eingesetzt werden. Falls zwingend indiziert, ist dies auch unter Beachtung möglicher
(teratogener) Risiken in der Schwangerschaft möglich. Eine Kombination mitValproinsäure
muss vermieden werden. Die Vigabatrin-Behandlung im 1. Trimenon rechtfertigt keinen
risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel 1.15). Ein hoch auflösender
Ultraschall sollte zur Bestätigung einer normalen Entwicklung des Fetus angeboten
werden. Zur erweiterten Folsäureprophylaxe bei Planung einer Schwangerschaft und zur
Vitamin-K-Prophylaxe beim Neugeborenen siehe Kapitel 2.10.9.
2.10.28
Zonisamid
Pharmakologie und Toxikologie.
Zu Zonisamid (Zonegran®), das vor allem bei fokaler Epilepsie eingesetzt wird, liegt
eine Fallserie mit 26 Schwangerschaften vor (Kondo 1996), darunter vier Kinder mit
Mono-therapie, die keine Fehlbildungen aufwiesen. Bei den Müttern, die mit Kombinationstherapie
(Valproinsäure und/oder Phenytoin) behandelt wurden, hatten zwei Kinder Anomalien:
Anenzephalie bzw. Vorhofsep-tumdefekt. Zwei weitere von Kawada und Mitarbeiter (2002)
beobachtete Kinder waren nach Kombinationstherapie gesund.
Empfehlung für die Praxis:
Die vorläufigen Ergebnisse reichen für eine Risikobewertung nicht aus. Eine Behandlung
mit Zonisamid im 1. Trimenon rechtfertigt keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch
(siehe Kapitel 1,15). Wie bei anderen Antiepileptika, insbesondere bei Kombinationstherapie,
ist ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko nicht auszuschlie;ßen. Ein hoch auflösender Ultraschall
sollte zur Bestätigung einer normalen Entwicklung des Fetus angeboten werden.
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2.11
Psychopharmaka
2.11.1
Allgemeine Grundsätze zur Therapie in der Schwangerschaft
Wie andere gravierende Erkrankungen, können auch schwere psychische Krisen oder psychiatrische
Erkrankungen den Schwangerschaftsverlauf gefährden. Hansen und Mitarbeiter (2000)
haben ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko bestimmter embryonaler ZNS-Strukturen nach tiefgreifenden
Lebenskrisen in der Schwangerschaft diskutiert. Andersson und Mitarbeiter (2004) hingegen
konnten in einer schwedischen Untersuchung an 204 Müttern mit Depressionen oder Angststörungen
verschiedener Ausprägung im Vergleich zu einer Kontrollgruppe keine Auswirkung auf
die Neugeborenen beobachten. Zeskind und Stephens (2004) berichten in ihrer Übersichtsarbeit,
dass bei Kindern depressiv erkrankter Mütter, unabhängig von einer Medikation, Geburtskomplikationen
häufiger auftreten, die Reifung des fetalen Herzrhythmus verzögert erfolgt, der neonatale
Cortisol- und Norepinephrinspiegel erhöht und das Schlafverhalten gestört ist. Eine
psychotherapeutische oder medikamentöse Behandlung sollte daher auch im Interesse
des werdenden Kindes betrachtet werden. Auf der anderen Seite werden Psychopharmaka
gelegentlich schon jungen Patientinnen bei Stimmungsschwankungen ohne stichhaltige
Indikation verordnet und dann auch in der Schwangerschaft weiter genommen.
Nicht selten setzen Frauen ihre Psychopharmaka nach Feststellung einer Schwangerschaft
abrupt ab aus Furcht vor einer teratogenen Schädigung. Dies scheint bei Psychopharmaka
häufiger vorzukommen als bei anderen Medikamenten. Entscheidend für die Compliance
ist die primäre Information zum Arzneirisiko in der Schwangerschaft (Einarson et al.,
2004, Einarson et al., 2003). Soweit klinisch vertretbar, kann mit der Patientin eine
Reduktion bzw. auch das vorübergehende Absetzen eines Antide-pressivums vor der Geburt
vereinbart werden, um Anpassungsstörungen des Neugeborenen entgegen zu wirken. Das
für diese Maßnahmen notwendige Zeitintervall richtet sich nach der Halbwertszeit des
Medikamentes.
Nicht selten wird Frauen mit einer bipolaren Erkrankung auch von ihrem Arzt von einer
Schwangerschaft abgeraten. Dagegen kann eine qualifizierte Information zu den Auswirkungen
von Arzneimitteln zu einer positiveren Haltung der Patientin und ihres Arztes führen
(Viguera 2002). Optimal ist natürlich die rechtzeitige Planung einer Schwangerschaft
(Yonkers 2004). Wenn eine psychiatrische Erkrankung vor der Schwangerschaft unkompliziert
war, ist weder eine eindeutige Verbesserung noch eine erhebliche Verschlechterung
zu erwarten. Hingegen ist bei schweren Verläufen, insbesondere um die Geburt herum
und im Wochenbett mit einem erhöhten Rückfallrisiko zu rechnen. Therapieabbrüche sind
in solchen Fällen besonders riskant (Viguera 2000).
Langzeitwirkungen psychotroper Substanzen in der Schwangerschaft sind bis auf wenige
Ausnahmen kaum untersucht, z. B. bei einigen Antidepressiva (Mattson 2004, Casper
2003, Nulman et al., 2002, Nulman et al., 1997), klassischen Antiepileptika und bei
harten Drogen (Details siehe bei den entsprechenden Substanzen). Besonders Psychopharmaka
könnte man unterstellen, dass sie das fetale und kindliche ZNS in seiner funktionellen
Entwicklung stören und zu Verhaltensauffälligkeiten, feinmotorischen Störungen oder
intellektuellen Defiziten führen. Bisher liegen jedoch keine beunruhigenden Hinweise
für länger eingeführte Präparate vor. Solche Zusammenhänge sind allerdings nicht leicht
nachweisbar, da die psychosoziale Situation, d.h. die Interaktion zwischen der erkrankten
Mutter und ihrem Kind, dessen Entwicklung beeinflussen kann. Eine Differenzierung
zwischen Arzneimittelwirkung und dem sozialen Umfeld des Kindes ist ausgesprochen
schwierig.
2.11.2
Tri- und tetrazyklische Antidepressiva
Pharmakologie und Toxikologie.
Trizyklische Antidepressiva blockieren die Wiederaufnahme von Überträgerstoffen, wie
z. B. Noradrenalin und Serotonin, an adrenergen Nervenendigungen. Der therapeutische
Effekt wird auf den Anstieg dieser Neurotransmitterstoffe an spezifischen Rezeptoren
zurückgeführt. Eine Wirkungsverstärkung bei gleichzeitiger Einnahme oraler Kontrazeptiva
ist durch Hemmung der Meta-bolisierung möglich (Kuhl 2002). Eine Wirkungsabschwächung
oraler Kontrazeptiva ist z. B. beim gut untersuchten Amitriptylin bisher nicht bekannt.
Prototyp der trizyklischen Antidepressiva ist das Imipramin (z.B. Tofranil), ihm recht
ähnlich sind Clomipramin (z.B. Anafranil®), Di-benzepin (Noveril®) und Lofepramin
(Gamonil®). Bei einigen Derivaten überwiegen die antriebssteigernden Eigenschaften,
wie z. B. bei De-sipramin (aktiver Metabolit des Imipramins; z.B. Petylyl®), Nortripty-lin
(aktiver Metabolit des Amitriptylin; Nortrilen®) und Trimipramin (chemisch dem Imipramin
ähnelnd; z.B. Stangyl®). Bei anderen sind die dämpfenden Eigenschaften stärker ausgeprägt,
wie z. B. bei Amitriptylin (z.B. Amineurin®, Saroten®), Dosulepin (Idom®), Doxepin
(z. B. Aponal®, Sinquan®) und dem chemisch verwandten Opipramol (Insidon®), dem eine
Mittelstellung zwischen Antidepressiva und Neu-roleptika zugeschrieben wird.
Maprotilin (z.B. Ludiomil®) und Mianserin (z.B. Tolvin®) gehören zur Gruppe der tetracyclischen
Antidepressiva; beide sind Antidepressiva vom Imipramin-Typ. Maprotilin hemmt vor
allem die Wiederaufnahme von Noradrenalin an der Synapse und wirkt vorwiegend stim-
mungsaufhellend. Im Gegensatz zu Maprotilin und den trizyklischen Antidepressiva besitzt
Mianserin kaum anticholinerge Wirkungen. Das dem Mianserin verwandte Ketanserin wurde
auch erfolgreich zur Therapie der Präeklampsie und zur Tokolyse eingesetzt ohne Hinweise
auf fetotoxische Effekte (Steyn 1998, Bolte 1997).
Trizyklische Antidepressiva treten aufgrund ihrer hohen Lipidlöslich-keit rasch diaplazentar
über. In manchen Tierspezies erwiesen sich tri-zyklische Antidepressiva als teratogen.
In den 70er und 80er Jahren wurden den klassischen Antidepressiva auch beim Menschen
Fehlbildungen zugeordnet, darunter Extremitätenfehlbildungen, Herzfehler, Polydaktylie
und Hypospadie. Jedoch konnte bei keinem der seit längerem gebräuchlichen Präparate
der Verdacht auf teratogene Effekte bestätigt werden (McElhatton ENTIS Studie pers.
Mitteilung 2005, Ericson 1999, McElhatton 1996, Brunel 1994, Patuszak 1993).
Speziell zu Dosulepin, Doxepin, Lofepramin, Opipramol und Tri-mipramin liegen keine
für eine fundierte Risikobewertung ausreichenden Fallzahlen zur Anwendung in der Schwangerschaft
vor. Allerdings ist auch bei diesen schon lange eingeführten Mitteln nicht mit einem
nennenswerten teratogenen Risiko beim Menschen zu rechnen.
Nach lang andauernder intrauteriner Exposition (bis zur Geburt) wurden bei Neugeborenen
Entzugssymptome wie Zittrigkeit, Übererregbarkeit, Atemnotsyndrom und vereinzelt auch
Krämpfe beobachtet (Källén 2004 A, Bromiker 1994, Schimmel 1991). Källén (2004) sieht
im Gegensatz zu anderen Untersuchern ein höheres Risiko für neona-tale Anpassungsstörungen
bei trizyklischen Antidepressiva als bei den selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmstoffen
(SSRI). Er hat in seiner Studie mit annähernd 1.000 Schwangeren in der Trizyklika-Gruppe
vor allem Clomipramin (n = 353) untersucht. Diese und andere Studien (Ericson 1999)
haben auch ein etwas höheres Geburtsgewicht nach Trizyklika-Exposition beobachtet
als bei den SSRI. Dieses Phänomen wird mit einem diabetogenen Effekt und intrauteriner
Hyperglyk-ämie erklärt.
Bei 80 Kindern, die vorwiegend im 1. Trimenon mit Trizyklika exponiert waren, zeigten
sich im Vorschulalter gegenüber einer Kontrollgruppe keine Abweichungen bei Intelligenzentwicklung,
Verhalten und Sprachentwicklung (Nulman 1997). Eine spätere prospektive Untersuchung
derselben Autorengruppe findet auch bei jenen Kindern, deren Mütter während der gesamten
Schwangerschaft Trizyklika (46 MutterKind-Paare; davon 36 bereits in der Studie von
1997 erfasst) genommen hatten, keine arzneispezifischen Auffälligkeiten in der Entwicklung
der Kinder im Alter zwischen 15 und 71 Monaten. Die Dauer der Depression hatte jedoch
Auswirkungen auf den Intelligenzquotienten und die Häufigkeit depressiver Episoden
auf die Sprachentwicklung. Die Autoren leiten daraus die Notwendigkeit einer Therapie
bei Schwangeren ab (Nulman 2002).
Empfehlung für die Praxis:
Trizyklische Antidepressiva gehören immer noch zu den Mitteln der Wahl bei therapiebedürftiger
Depression in der Schwangerschaft. Eine Monotherapie ist anzustreben, gut dokumentierte
Präparate wie Amitripty-lin, Clomipramin, Desipramin, Imipramin und Nortriptylin sind
zu bevorzugen. Die anderen der o.g. Antidepressiva sind aufgrund der geringeren Erprobung
Reservemittel in der Schwangerschaft. Eine unter Therapie stabile Patientin sollte
während einer Schwangerschaft diese Medikation unverändert fortsetzen, um keine für
Mutter und Kind bedrohlichen Krisen zu provozieren. Zur Dosisanpassung sollten die
mütterlichen Serumkonzentrationen während der Schwangerschaft und nach Entbindung
untersucht werden. Die Anwendung unzureichend erprobter Substanzen rechtfertigt weder
einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel 1.15) noch invasive
Diagnostik. Entzugssymptome beim Neugeborenen sind möglich. Deshalb sollte in den
ersten beiden Lebenstagen auf Symptome beim Kind geachtet werden. Reaktive Depressionen
oder Angstzustände sind nicht zwangsläufig eine Indikation für die Behandlung mit
Antidepressiva; auch psychotherapeutische Optionen sollten ausgeschöpft werden.
2.11.3
Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmstoffe (SSRI)
Zu den so genannten selektiven Serotonin-Reuptake-Inhibitoren (SSRI) gehören Citalopram
(z.B. Cipramil®), Escitalopram (Cipralex®, aktives Isomer des Citaloprams), Fluoxetin
(z.B. Fluctin®), Fluvox-amin (z.B. Fevarin®), Paroxetin (Tagonis®, Seroxat®) und Sertralin
(z. B. Zoloft®). Sie sind chemisch heterogen und besitzen keine strukturelle Verwandtschaft
zu den trizyklischen Antidepressiva. Sie hemmen selektiv die Wiederaufnahme (Reuptake)
von Serotonin aus dem synap-tischen Spalt und besitzen eine erheblich geringere anticholinerge
Wirkung als trizyklische Antidepressiva. Von diesen Mitteln sind Citalopram, Fluoxetin,
Fluvoxamin, Paroxetin und Sertralin hinreichend untersucht.
Unter den SSRI geht Citalopram am stärksten plazentar über, gefolgt von Fluoxetin.
Den geringsten Übergang fand man bei Sertralin, gefolgt von Paroxetin (Hendrick 2003).
Es ist bekannt, dass Serotonin schon während der Embryogenese, also bevor es als Neurotransmitter
funktioniert, an der Regulation der Zellmigration, des Axonwachstums und der Anlage
der synaptischen Kommunikation beteiligt ist. Tierexperimentelle Ergebnisse zeigen,
dass erhöhte Serotoninspiegel neuroanato-mische Abweichungen verursachen mit verringerter
Anzahl von Beta-adrenergen- und Serotoninrezeptoren sowie abnormer Serotoninrezep-torbindung
im Zentralnervensystem (ZNS).
Fehlbildungsrisiko.
Bei mehreren tausend Schwangerschaften unter SSRI-Behandlung im 1. Trimenon sind teratogene
Effekte i.S. gro;ßer Fehlbildungen beim Menschen bislang nicht eindeutig nachzuweisen
(Garbis 2005), auch wenn einige neuere Publikationen vor allem bei Paroxetin ein etwas
höheres Risiko für Herzfehlbildungen diskutieren (siehe dort). Bei Behandlung mit
SSRI am Ende der Schwangerschaft fanden Chambers und Mitarbeiter (2006) in einer Fall-Kontroll-Studie,
die allerdings nur auf 14 bzw. 6 exponierten Kindern basiert, einen signifikanten
Zusammenhang mit persistierendem pulmonalem Hochdruck beim Neugeborenen. Die Autoren
errechnen, dass etwa 1 von 100 exponierten Kindern betroffen sein könne.
Anpassungsstörungen nach der Geburt.
Eine zunehmende Anzahl von Veröffentlichungen thematisiert funktionelle Auswirkungen
beim Neugeborenen nach SSRI-Therapie. Hierzu zählen Überregbarkeit, Zittern, Atemnotsyndrom,
auffälliges Schlafverhalten mit vermehrten Schreckreaktionen und längeren REM-Phasen,
sowie eine geringere Variabilität an Verhaltensmustern (Übersicht in Moses-Kolko 2005).
Ein Fallbericht beschreibt ein Neugeborenes, bei dem nach Paroxetin-Behandlung der
Mutter 2 Wochen lang kein Schmerzreflex nachweisbar war (Morag 2004). Diese Beobachtungen,
die auf eine Störung des autonomen Nervensystems hinweisen, wurden zunächst als Entzugssymptomatik
interpretiert, inzwischen aber auch als direkte Serotonintoxizität. Eine 2004 publizierte
kontrollierte Studie mit 17 pränatal exponierten Neugeborenen hat dies eindrucksvoll
bestätigt (Zeskind 2004). Die klinische Symptomatik beim Neugeborenen gibt allein
keinen Aufschluss darüber, ob eine Serotonintoxizität oder ein Entzug vorliegen. Hier
kann Labordiagnostik weiter helfen. Ist keine Wirksubstanz im Serum des Kindes nachweisbar,
spricht dies eher für einen Entzug. Hohe Arzneikonzentrationen im Blut und eine erniedrigte
5-Hydroxyindolessigsäure (5-HIAA) im Liquor werden als Indiz für eine Serotonintoxizität
gewertet (Jaiswal 2003), wobei die Liquoruntersuchung selbstverständlich nicht zur
routinemäßigen Diagnostik gehört. Postnatale Anpassungssymptome werden häufiger bei
Paroxetin als bei den anderen SSRI beschrieben (Sanz 2005; siehe auch unter Paroxetin).
Andere Autoren sehen keine Unterschiede zwischen den einzelnen SSRI (Källén 2004 A).
Moses-Kolko und Mitarbeiter (2005) fassen in ihrem Review 13 Einzelfallberichte mit
18 Kindern sowie 9 Kohortenstudien (Sanz 2005, Zeskind 2004, Costei 2002, Cohen 2000,
Chambers 1996) zusammen und errechnen ein relatives Risiko von 3,0 (95% KI 2,0–4,4)
für das Auftreten einer neonatalen Symptomatik nach SSRI-Exposition in der Spätschwangerschaft
gegenüber einer ausschließlich in der Frühschwangerschaft exponierten und einer unbehandelten
Kontrollgruppe.
Soweit klinisch vertretbar, kann mit der Patientin eine Reduktion bzw. auch das vorübergehende
Absetzen des Antidepressivums vor der Geburt vereinbart werden, um den nicht selten
beobachteten Anpassungsstörungen des Neugeborenen entgegen zu wirken. Das notwendige
Zeitintervall richtet sich dabei nach der Halbwertszeit des Medikamentes.
Langzeitentwicklung.
Eine Studie an 31 Müttern mit SSRI im Vergleich zu 13 ebenfalls erheblich depressiven
Frauen ohne Medikation beobachtete bei den exponierten Kindern signifikant geringere
Werte beim Apgar-Score, bei einigen psychomotorischen Parametern sowie bei feinmotorischen
Kontrollfunktionen. Die übrigen mentalen Entwicklungsparameter unterschieden sich
nicht. Untersucht wurden Kinder im Alter zwischen 6 und 40 Monaten (Casper 2003).
Auch Mattson und Mitarbeiter (2004) verglichen 3 bis 34 Monate alte, pränatal SSRI
exponierte Kinder mit einer Kontrollgruppe, die unverdächtigen Medikamenten ausgesetzt
war. Dabei zeigten die mit SSRI Exponierten etwas häufiger psychomotorische Entwicklungsrückstände,
jedoch keine vermehrten Auffälligkeiten bei den mentalen Entwicklungsparametern des
Bayley-Tests. Oberlander und Mitarbeiter (2005) fanden in einer kleinen Studie eine
eingeschränkte Mimik und Herzfrequenzvariabilität nach Schmerzreiz im Alter von 2
Monaten bei Kindern mit SSRI-Exposition.
Bei anderen Untersuchungen wurden keine eindeutigen Entwicklungsunterschiede festgestellt,
z.B. bei psychomotorischen Tests im Alter von 2 und 8 Monaten (Oberlander 2004).
Ein weiterer Vergleich zwischen pränatal SSRI-Exponierten (129 Fluoxetin, 28 Paroxetin,
32 Sertralin) und Kontroll-Kindern (209 tri-zyklische Antidepressiva, 185 unbehandelt)
im Alter von 2 Jahren fand ebenfalls keine psychomotorischen Entwicklungsunterschiede
(Simon 2002). Heikkinen und Mitarbeiter (2002) beobachteten keine neurologischen Differenzen
im Alter von einem Jahr bei 11 mit Citalopram exponierten Kindern gegenüber 10 nicht
exponierten. Nulman und Mitarbeiter (2002) sahen keine Auffälligkeiten bei 40 Fluoxetin
exponierten Kindern im Alter zwischen 15 und 71 Monaten.
Citalopram
Es ergaben sich keine Hinweise auf Teratogenität bei mehreren Hundert ausgewerteten
Schwangerschaften einer Studie der europäischen teratologischen Arbeitsgruppe ENTIS
(Garbis 2005) sowie in anderen kleinen Fallserien (Review in Hallberg und Sjöblom
2005) und bei über 1.600 im schwedischen medizinischen Geburtsregister erfassten Schwangerschaften
(Hallberg und Sjöblom 2005, Ericson 1999). Unter 92 an die amerikanische FDA gemeldeten,
vorwiegend auffälligen Schwangerschaftsverläufen mit insgesamt 19 Fehlbildungen fanden
sich 4 angeborene Entwicklungsstörungen am Auge (vorwiegend Sehnerv und Retina). Die
Autoren ziehen eine Parallele zu den Ergebnissen von Langzeitversuchen an erwachsenen
Ratten (Tabacova 2004). Eine neuere Untersuchung zu Citalopram und Fluoxetin beobachtete
bei Neugeborenen signifikant häufiger Symptome einer serotonergen Überstimulation
in den ersten Lebenstagen im Vergleich zu einer pränatal nicht exponierten Kontrollgruppe
(Laine 2003). Siehe auch Einleitung zu SSRI. Tierexperimentell wurde keine Teratogenität
beobachtet.
Escitalopram
Escitalopram ist ein aktives Isomer des Citaloprams. Von uns wurden 10 exponierte
Schwangere prospektiv erfasst. Unter den 7 Lebendgeborenen gab es keine Fehlbildung.
Zwei Schwangerschaften endeten als Spontanabort, eine wurde aus persönlichen Gründen
abgebrochen. Die Datenlage ist für eine differenzierte Beurteilung noch unzureichend.
Tierexperimentell wurde keine Teratogenität beobachtet.
Fluoxetin
Fehlbildungsrisiko.
Mehrere Studien mit insgesamt über 2.000 Schwangerschaften und eine ähnlich gro;ße
Zahl vom Hersteller registrierter Fälle ergaben keine Hinweise auf ein substantiell
erhöhtes Fehlbildungsrisiko (Garbis 2005, Hallberg 2005, Hines 2004, Källén 2004 B,
Pastuszak 1993). Ein gering erhöhtes Risiko für Herzfehlbildungen wurde jedoch kürzlich
diskutiert (Diav-Citrin 2006). Auch eine leicht erhöhte Abortrate wurde beschrieben,
ohne die Ursachen – Grunderkrankung oder Medikation – klären zu können (Chambers 1996).
Außerdem wurden ein vermehrtes Auftreten kleinerer Fehlbildungen, sowie bei Behandlung
im letzten Trimenon von Frühgeburten und Anpassungsstörungen der Neugeborenen beobachtet
(Übersicht in Hines 2004, Cohen 2000, Chambers 1996). Bei kritischer Sicht erscheint
eine kausale Assoziation bei den kleinen Fehlbildungen wenig wahrscheinlich und wird
auch von anderen Autoren bezweifelt (Robert 1996).
Anpassungsstörungen nach der Geburt.
Bei manchen Neugeborenen wurden wenige Tage dauernde, als Entzug oder serotonerge
Überstimulation (Laine 2003; siehe auch Einleitung zu den SSRI) interpretierte Symptome
wie Zittrigkeit, Übererregbarkeit und erhöhter Muskeltonus beobachtet, wenn bis zum
Ende der Schwangerschaft behandelt wurde (Zusammenfassung in Hines 2004, Mhanna 1997,
Chambers 1996, Spencer 1993). Bei einem von uns beobachteten Fall traten bei dem frühgeborenen
Kind ausgeprägte extrapyramidale Symptome auf. Fluo-xetin hat einschlie;ßlich seiner
aktiven Metaboliten mit bis zu 9 Tagen die längste Halbwertszeit unter den SSRI und
ist daher in Hinsicht auf die Neonatalperiode problematischer als andere SSRI. Auf
eine möglicherweise erhöhte Blutungsbereitschaft postpartal wird ebenfalls hingewiesen
(Mhanna 1997).
Langzeitentwicklung.
Bei einer Nachuntersuchung im Vorschulalter von 55 vorwiegend im 1. Trimenon exponierten
Kindern ergaben sich keine Abweichungen bezüglich Intelligenzentwicklung, Verhalten
und Sprachentwicklung gegenüber zwei Vergleichsgruppen mit Amitriptylin oder ohne
Medikation (Nulman 1997). Eine spätere prospektive Untersuchung derselben Autorengruppe
findet auch bei Kindern, deren Mütter während der gesamten Schwangerschaft Fluoxetin
(40 Mutter-KindPaare; davon 18 bereits in der Studie von 1997 erfasst) genommen hatten,
keine arzneispezifischen Auffälligkeiten in der Entwicklung im Alter zwischen 15 und
71 Monaten. Die Dauer der Depression hatte jedoch Auswirkungen auf den Intelligenzquotienten
und die Häufigkeit depressiver Episoden auf die Sprachentwicklung. Die Autoren leiten
daraus die Notwendigkeit einer Therapie bei Schwangeren ab (Nulman 2002).
Fluvoxamin
Keine substantiellen Hinweise auf spezifische teratogene Effekte haben sich bisher
bei mehreren hundert Schwangerschaften unter Fluvox-amin gezeigt (Hallberg 2005, Garbis
2005).
Paroxetin
Fehlbildungsrisiko.
Mehrere tausend in verschiedenen Studien oder Fallserien dokumentierte Schwangerschaftsverläufe
zu Paroxetin haben überwiegend keine Hinweise auf eine substantiell erhöhte Fehlbildungsrate
erbracht (Vial 2006, Garbis 2005, Hallberg 2005, Malm 2005, Diav-Citrin 2002, Ericson
1999, Kulin 1998). Jedoch wurde in einigen neueren Untersuchungen ein gering erhöhtes
Risiko für Herzfehlbildungen nach Therapie im 1. Trimenon diskutiert. Bei Diav-Citrin
(2006) lag die Rate für alle gro;ße Fehlbildungen bei 18/348 = 5,2 % (Kontrollgruppe
2,5%). Um Fehlbildungen des Herzens handelte es sich in 7 Fällen (2,0%) vs. 8 auf
1.358 in einer unbehandelten Kontrollgruppe (0,6%). Das relative Risiko von 3,4 war
schwach signifikant (95% KI 1,25–9,36). Eine auf über 800 Schwangerschaften beruhende
Analyse mit Daten des schwedischen Geburtsregisters findet ebenfalls ein schwach signifikantes
Ergebnis (OR 1,8) für Herzfehlbildungen bei nicht signifikant erhöhter Rate aller
Fehlbildungen. Hier handelte es sich vor allem um Septumdefekte (Källén 2005, persönl.
Mitteilung). Eine Untersuchung des spanischen Fehlbildungsregisters ergab bei insgesamt
unauffälliger Fehlbildungshäufigkeit eine hoch signifikante Assoziation zwischen der
Gabe von Paroxetin im 1. Trimenon und Aortenanomalien. Allerdings beruhte diese Berechnung
auf nur 3 Kindern mit solchen Fehlbildungen (Rodriguez-Pinilla 2005, pers. Mitteilung).
Im Register des Herstellers GlaxoSmithKline für Bupropion und Paroxetin (2005) fand
sich eine leicht erhöhte Gesamtrate aller Fehlbildungen für Paroxetin. Die Häufigkeit
von Herzfehlbildungen erreichte allerdings kein Signifikanzniveau.
Ein erhöhtes Risiko für eine Omphalocele (OR 6,3; 95% KI 2,0–19,6), nicht aber für
andere Fehlbildungen, fanden Alwan und Mitarbeiter (2005) auf der Basis von Geburts-
bzw. Fehlbildungsregisterda-ten. Tierexperimentell ergab sich bei Paroxetin bisher
keine Teratogeni-tät. Insgesamt sind die schwachen Hinweise auf das häufigere Auftreten
von (Herz-)Fehlbildungen unter Paroxetin zurückhaltend zu bewerten, da sie nur in
einigen Analysen beobachtet wurden, und die Gesamtrate aller Fehlbildungen nicht erhöht
zu sein scheint.
Anpassungsstörungen nach der Geburt.
Bei Behandlung bis zur Geburt wurden wiederholt Symptome beschrieben, u.a. Übererregbarkeit,
Schlaf-und Trinkstörungen, Tremor, erhöhter Muskeltonus, Atemnotsyndrom und Hypoglykämie,
die eine stationäre Überwachung erforderlich machten (Übersicht in Moses-Kolko 2005,
Sanz 2005, Jaiswal 2003). Herbst und Gortner (2003) empfehlen, bei Symptomen einer
neonatalen Enze-phalopathie differentialdiagnostisch auch an eine Paroxetinbehandlung
der Mutter zu denken. Die Symptome beginnen in den ersten Lebenstagen und dauern im
Extremfall einen Monat, meist aber nicht länger als 1–2 Wochen. In einer Studie mit
55 Kindern waren 12 betroffen (Costei 2002). Sanz (2005) berichtete über Spontanmeldungen
an das internationale WHO-Drug-Monitoring-Zentrum in Uppsala, Schweden. Von insgesamt
93 Fällen mit einer durch SSRI induzierten Symptomatik bei Neugeborenen (davon 13
mit Krampfanfällen) war Paroxetin mit 64 überproportional häufig betroffen. Neben
rezeptorspezifischen Unterschieden zwischen den SSRI erörtern die Autoren als Ursache
für eine Entzugssymptomatik die verkürzte Halbwertszeit des Mittels, nachdem die Hemmung
des Cytochrom-P450-2D6-Enzyms durch das Arzneimittel selbst nach der Geburt entfällt.
In einem weiteren Fallbericht wies ein lethargisches reifes Neugeborenes als einziges
Symptom eine fehlende Schmerzreaktion in den ersten beiden Lebenswochen auf (Morag
2004). Andere Autoren fanden keine Häufung neonataler Probleme bei Paroxe-tin im Vergleich
zu anderen SSRI oder Trizyklika (Källén 2004 A).
Zwei Fallberichte diskutieren den Zusammenhang einer Paroxetin-behandlung in der Spätschwangerschaft
mit einer Thrombozytenfunk-tionsstörung, die zu Subarachnoidalblutung bzw. Ventrikelblutung
und Krampfanfällen beim (reifen) Neugeborenen führte (Duijvestijn 2003, Salvia-Roiges
2003). Zur Langzeitentwicklung nach pränataler SSRI-Exposition siehe Einleitung dieses
Abschnitts.
Sertralin
Weit über 500 dokumentierte Schwangerschaftsverläufe haben keine Hinweise auf teratogene
Effekte erbracht (Garbis 2005, Übersicht in Hallberg 2005, Hendrick 2003, Chambers
1999, Ericson 1999, Kulin 1998, eigene Erfahrungen), und auch tierexperimentell gibt
es keinen Anhalt für Teratogenität.
Nach Gabe von Sertralin wurden Zittrigkeit, Unruhe, Übererregbarkeit, erhöhter Muskeltonus
und schrilles Schreien beobachtet und zunächst als neonataler Entzug interpretiert
(Chambers 1999, Kent 1995). Wie bei den anderen SSRI können diese Symptome auch Zeichen
einer Serotonintoxizität sein, dazu gehört auch der Fall eines Nystagmus beim Neugeborenen
(Oca und Donn 1999; siehe auch Einleitung zu den SSRI).
Empfehlung für die Praxis:
SSRI gehören zu den Mitteln der Wahl bei therapiebedürftigen Depressionen in der Schwangerschaft.
Die gut untersuchten und in der Schwangerschaft i.A. gut verträglichen Mittel Sertralin
und Citalopram sollten bei einer Neueinstellung bevorzugt werden. Eine unter Therapie
mit einem anderen SSRI stabile Patientin sollte - zumal während einer Schwangerschaft
-diese Medikation unverändert fortsetzen, um keine für Mutter und Kind bedrohlichen
Krisen zu provozieren. Die Exposition mit einem weniger gut erprobten SSRI im 1. Trimenon
rechtfertigt weder einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch noch invasive Diagnostik
(siehe Kapitel 1). Eine Ultraschallfeindiagnostik sollte jedoch angeboten werden.
Bei Gabe von SSRI bis zur Geburt müssen Anpassungsstörungen und möglicherweise auch
eine erhöhte Blutungsbereitschaft beim Neugeborenen bedacht werden. Daher sollte in
den ersten Lebenstagen die Beobachtung des Neugeborenen gewährleistet sein, am besten
durch Entbindung in einem perinatologischen Zentrum. Soweit klinisch vertretbar, sollte
mit der Patientin eine Reduktion bzw. auch das vorübergehende Absetzen des Antidepressivums
vor der Entbindung vereinbart werden; dabei richtet sich das erforderliche Zeitintervall
nach der Halbwertszeit des Medikamentes. Aufgrund der sehr langen Halbwertszeit ist
dieses Vorgehen besonders bei Fluoxetin anzuraten.
2.11.4
Monoaminooxidase-(MAO-)Hemmstoffe
Pharmakologie und Toxikologie.
Monoaminooxidase-Hemmstoffe wirken antriebssteigernd bei depressiver Verstimmung.
Sie hemmen reversibel (neuere MAO-Hemmstoffe: z.B. Moclobemid; z.B. Aurorix®) oder
irreversibel das Enzym Monoaminoxidase (MAO), das oxidativ die Überträgerstoffe im
adrenergen System (Noradrenalin und Adrenalin) inaktiviert. Monoaminooxidase-Hemmstoffe
sind strukturell dem Amphetamin verwandt. Therapeutisch wird heute vorwiegend Moclobemid
und wegen der dabei erforderlichen strengen Diät nur noch selten Tranylcypromin (Jatrosom®)
eingesetzt.
Unter MAO-Hemmern kann ein Hypertonus in der Schwangerschaft verstärkt und die Plazentaperfusion
gemindert werden mit negativen Auswirkungen auf die fetale Entwicklung. Au;ßerdem
können MAO-Hemmer eine Tokolyse mit Betarezeptorenblockern aufheben und unter der
Geburt mit Narkotika interagieren.
Eine ältere Fallsammlung von 21 Schwangeren, die im 1. Trimenon mit MAO-Hemmstoffen
behandelt wurden, davon 13 mit Tranylcypro-min (Heinonen 1977), sowie ein Bericht
über 2 Kinder mit Anomalien und über Plazentainfarkte (Kennedy 2000) vermitteln den
Eindruck eines pränatal toxischen Potenzials bei dieser Arzneimittelgruppe. Dieser
Verdacht konnte bisher durch weitere Studien nicht erhärtet werden. Allerdings ist
der Umfang der dokumentierten Erfahrungen gering. Das trifft in noch stärkerem Ma;ße
für Moclobemid und andere MAO-Hemmer zu. Tierexperimentell liegen zu Moclobemid und
Tranylcypro-min keine Hinweise auf Teratogenität vor.
Empfehlung für die Praxis:
Irreversible MAO-Hemmstoffe sind im 1. Trimenon zu meiden, im 2. und 3. Trimenon sind
sie und auch die reversiblen MAO-Hem-mer allenfalls Reservemittel bei Versagen der
besser untersuchten Trizyklika oder SSRI. Jedoch sollte eine stabil eingestellte Patientin
während der Schwangerschaft nicht umgesetzt werden, um keine für Mutter und Kind bedrohlichen
Krisen zu provozieren. Die Behandlung mit einem MAO-Hemmer in den ersten drei Monaten
rechtfertigt keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel 1.15).
Mit Ultraschallfeindiagnostik sollte die normale morphologische Entwicklung des Fetus
nach Exposition im 1. Trimenon kontrolliert werden. Entzugserscheinungen nach Geburt
sind nicht auszuschlie;ßen. Daher sollte in den ersten beiden Lebenstagen eine kontinuierliche
Beobachtung des Neugeborenen gewährleistet sein und die Entbindung möglichst in einem
Perinatalzentrum erfolgen.
2.11.5
Andere Antidepressiva
Pharmakologie und Toxikologie.
Die übrigen Antidepressiva Amineptin, Amoxapin, Atomoxetin (Strattera®), Bupropion
(= Amfebutamon; Zyban®), Duloxetin (Cymbalta®), Iprindol, Medifoxamin, Mirtazapin
(Remergil®), Nefazodon, Oxitriptan, Reboxetin (z.B. Edronax®), Tia-neptin, Trazodon
(z. B. Thombran®), Venlafaxin (Trevilor®) und Vilo-xazin (Vivalan®) sind strukturell
weder den trizyklischen Antidepressiva noch den SSRI oder den MAO-Hemmern ähnlich.
Atomoxetin ist ein selektiver Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hem-mer, der kürzlich zur
Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperak-tivitätsstörung zugelassen wurde. Im
Gegensatz zu Methylphenidat gehört es nicht zu den Psychostimulanzien. Die Gefahr
einer Überdosie-rung mit dem Risiko von Krampfanfällen wurde im Zusammenhang mit gleichzeitig
gegebenen und ebenfalls über das Cytochrom-P450-Isoen-zym-2D6 verstoffwechselten Antidepressiva
(Paroxetin, Fluoxetin, Bupropion) erörtert. Erfahrungen in der Schwangerschaft liegen
nicht vor.
Der Wirkmechanismus von Bupropion, das vor allem zur Raucherentwöhnung verwendet wird
und in der Bundesrepublik als Antide-pressivum nicht zugelassen ist, ist nicht genau
bekannt.
Zu Bupropion wurden bisher weit über 500 Schwangerschaften im Herstellerregister erfasst
(Glaxo-Smith-Kline 2005). Bis Juni 2004 registrierte man 10 Kinder mit Fehlbildungen
unter 352 Lebendgeborenen. Das ergibt zwar keine auffällige Fehlbildungsrate, Herzfehlbildungen
(Septumdefekte, Klappenanomalien, Fehlbildungen der gro;ßen Gef;ße) dominierten jedoch
hier ebenso wie in den retrospektiven Fallberichten des Herstellers. In einer weiteren
Studie aus Kanada wurden bei 136 Schwangeren mit Behandlung im 1. Trimenon bzw. 105
Lebendgeborenen keine gro;ße Fehlbildungen beobachtet, jedoch eine erhöhte Spontanabortrate
(Chun-Fai-Chan 2005).
Zu Duloxetin, einem Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmstoff (SNRI), das zunächst
als Urologikum (YENTREVE®) zur Behandlung der Belastungsharninkontinenz zugelassen
wurde, liegen bisher keine ausreichenden Erfahrungen beim Menschen vor, die Aussagen
zum teratogenen Potenzial erlauben. Tierexperimentell wurden bei Kaninchen kardiovaskuläre
und Skelettfehlbildungen bei Dosen beobachtet, die unterhalb des maximalen klinischen
Bereichs lagen. Wie bei anderen serotonerg wirkenden Antidepressiva muss auch bei
Duloxetin mit toxischen Symptomen wie Übererregbarkeit beim Neugeborenen in den ersten
Lebenstagen gerechnet werden.
Zu Mirtazapin, einem noradrenerg und serotonerg wirkenden Anti-depressivum, finden
sich bei rund 100 veröffentlichten (Yaris 2004, Biswas 2003, Kesim 2002, Saks 2001)
bzw. von uns dokumentierten Schwangerschaftsverläufen mit Behandlung vorwiegend im
1. Trime-non keine Hinweise auf Teratogenität. Auch tierexperimentell liegen keine
Hinweise auf Teratogenität vor. Mirtazapin wird auch bei Hyper-emesis gravidarum eingesetzt
(Guclu 2005, Rohde 2003, Dorn 2002, Saks 2001).
Zu Nefazodon, das die Wiederaufnahme von Noradrenalin und Serotonin hemmt, liegen
fast 100 publizierte, vorwiegend im 1. Trime-non exponierte Schwangerschaften vor
(Yaris 2004, Einarson 2003). Weder diese Daten (Fehlbildungsrate 1,6%) noch tierexperimentelle
Ergebnisse deuten bisher auf Teratogenität hin.
Oxitriptan ist die physiologische Vorstufe des Neurotransmitters Serotonin, das dessen
Konzentration im ZNS erhöht. Ausreichende Erfahrungen zur Schwangerschaft liegen nicht
vor.
Dies gilt auch für Tianeptin, das im Gehirn die Aufnahme des Seroto-nins erhöht. Trazodon
ist strukturell dem Nefazodon verwandt und besitzt sedative Eigenschaften. Es wird
auch als Hypnotikum verschrieben und hat sich bei etwa 70 publizierten Schwangerschaftsverläufen
– meistens im 1. Trimenon angewendet – bisher nicht als teratogen erwiesen (Einarson
2003, McElhatton 1996). Gleiches gilt für tierexperimentelle Ergebnisse.
Trazodon ist strukturell dem Nefazodon verwandt und besitzt sedative Eigenschaften.
Es wird auch als Hypnotikum verschrieben und hat sich bei etwa 70 publizierten Schwangerschaftsverläufen
– meistens im 1.Trimenon - bisher nicht als teratogen erwiesen (Einarson 2003, McElhatton
1996). Gleiches gilt für tierexperimentelle Ergebnisse.
Zu Venlafaxin, einem so genannten bizyklischen Antidepressivum, das die Wiederaufnahme
von Noradrenalin und Serotonin hemmt, liegen einschlie;ßlich einer kontrollierten
Studie mit 150 exponierten Schwangeren publizierte Erfahrungen an etwa 200 Schwangeren
vor und 80 aus unserer eigenen Datenbank, die bisher keine Hinweise auf teratogene
Effekte geben (Yaris 2004, Einarson 2001, Okotore 1999, Ellingrod 1994). Auch im Tierversuch
wurde keine Teratogenität beobachtet. Entzugserscheinungen nach der Geburt sind nicht
auszuschlie;ßen.
Die wenigen bis einige Dutzend dokumentierten Schwangerschaften zu Amineptin, Amoxapin,
Medifoxamin, dem Noradrenalin-Wieder-aufnahme-Hemmstoff Reboxetin (eigene Beobachtungen)
und Viloxa-zin (McElhatton 1996, Brunel 1994) ergeben keine spezifischen terato-genen
Wirkungen, reichen aber für eine differenzierte Risikobewertung nicht aus.
Das Gleiche gilt für das heute auch von Schwangeren häufig eingenommene, aber formal
unzureichend untersuchte, pflanzliche Antidepressivum Johanniskraut (Hypericin; z.B.
Esbericum®; siehe auch Kapitel 2.19).
Empfehlung für die Praxis:
Die hier genannten Antidepressiva sollten - mit Ausnahme von Hypericin und ggf. Mirtazapin
und Venlafaxin - in der Schwangerschaft primär nicht verschrieben werden, da keine
ausreichenden Erfahrungen beim Menschen vorliegen. Andererseits sollte eine stabil
eingestellte Patientin während der Schwangerschaft nicht auf andere Medikamente umgesetzt
werden, um für Mutter und Kind keine bedrohlichen Krisen zu provozieren. Die Einnahme
im 1. Trimenon rechtfertigt keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch (siehe
Kapitel 1.15). Eine Ultraschallfeindiagnostik kann jedoch angeboten werden, um eine
Normalentwicklung des Fetus zu bestätigen. Entzugserscheinungen nach Geburt sind nicht
auszuschlie;ßen. Daher ist in den ersten beiden Lebenstagen eine zuverlässige Beobachtung
des Neugeborenen zu gewährleisten und eine Entbindung in einem perinatologischen Zentrum
anzustreben.
2.11.6
Antipsychotische Behandlung
Neuroleptika rufen eine psycho-physiologische Umstimmung bei Gesunden und psychisch
Kranken hervor, bei der die intellektuellen Fähigkeiten erhalten bleiben. Sie wirken
wahrscheinlich über eine Blockade zerebraler Dopaminrezeptoren. Zur Gruppe der Neuroleptika
zählen (schwach und stark wirksame) Phenothiazine, Thioxanthene, Butyrophenone als
erste Generation und die so genannten atypischen Neuroleptika, kurz Atypika genannt,
als zweite Generation. Generell sollte Folgendes bedacht werden:
▪
Behandeln oder Nichtbehandeln. Angesichts potenzieller Arzneimittelrisiken sollte
man nicht vergessen, dass auch eine unzureichend behandelte psychotische Erkrankung
den Schwangerschaftsverlauf ungünstig beeinflussen kann (siehe Kapiteleinleitung).
Weniger Fertilitätsstörungen unter Atypika. Durch geringere prolakti-nerge Wirkung
der Atypika bessern sich nach einer Therapieumstellung die unter konventionellen Neuroleptika
vorkommenden Fertili-tätstörungen. Dies führt dazu, dass mehr psychotisch erkrankte
Frauen absichtlich oder unabsichtlich schwanger werden. McKenna und Mitarbeiter (2004)
diskutieren die Konsequenzen, die sich aus der steigenden Zahl von Kindern psychotisch
erkrankter Mütter seit Einführung der Atypika ergeben.
▪
Klassische oder atypische Neuroleptika. Zu den klassischen Neuroleptika, also Phenothiazinen
und Haloperidol, liegen seit Jahrzehnten Erfahrungen (auch bei Schwangeren) vor. Bisher
haben sich dabei keine Hinweise auf teratogene Effekte beim Menschen ergeben. Beim
Neugeborenen muss jedoch insbesondere bei Haloperidol mit Anpassungsstörungen gerechnet
werden. Andererseits sind Nebenwirkungen wie akute Extrapyramidalsymptomatik und die
Jahre später auftretenden Spätdyskinesien bei den (mit Haloperidol) behandelten Patientinnen
bekannt; potenzielle Auswirkungen auf das kindliche Gehirn sind unzureichend untersucht.
Es sollte im Einzelfall geprüft werden, ob das Nebenwirkungsprofil atypischer Neuroleptika
tatsächlich dem der Phenothiazin-Neuroleptika oder einer niedrig dosierten Haloperidoltherapie
(Tagesdosis unter 10 mg) überlegen ist, insbesondere im Fall einer Kurzzeitbehandlung
(Zusammenfassung in Henke 2005, Davis 2004, Rosenheck 2003). In einer Vergleichsstudie
zur Behandlung der chronischen Schizophrenie haben sich keine signifikanten Unterschiede
zwischen Perphenazin und den atypischen Neuroleptika hinsichtlich unerwünschter Wirkungen
einschließlich extrapyramidalmotorischer Störungen ergeben (Lieberman 2005). Zur Langzeitverträglichkeit
von Atypika liegen noch keine Studiendaten vor.
2.11.7
Phenothiazine und Thioxanthene
Pharmakologie und Toxikologie.
Der Prototyp der Phenothiazine ist Chlorpromazin (Propaphenin®), das strukturell den
Antihistaminika mit Phenothiazingerüst, wie z.B. Promethazin (z.B. Atosil®) verwandt
ist. Phenothiazine blockieren die Dopaminrezeptoren in den Basal-ganglien, im Hypothalamus
und im limbischen System. Die Beeinflussung des Dopaminstoffwechsels ist Ursache für
einen Teil der Nebenwirkungen, wie z.B. parkinsonartige Symptome. Au;ßerdem haben
Phe- nothiazine antiallergische und antiemetische Wirkungen, die therapeutisch genutzt
werden (siehe Abschnitt 2.2.1 und 2.4.7). Die stärkste antipsychotische Wirksamkeit
haben Flupentixol (Fluanxol®) und Per-phenazin (z.B. Decentan®).
Zu folgenden Phenothiazinen und Thioxanthenen liegen Berichte zur Anwendung in der
Schwangerschaft vor: Alimemazin (siehe Kapitel 2.2 zu Antiallergika), Chlorpromazin
(Propaphenin®), Dixyrazin, Fluphenazin (z.B. Dapotum®, Omca®), Levomepromazin (z.B.
Neu-rocil®), Pericyazin, Perphenazin (z.B. Decentan®), Prochlorperazin, Promazin (z.B.
Protactyl®), Thioridazin (z.B. Melleril®), Trifluopera-zin und Triflupromazin (Psyquil®,
in Deutschland nicht mehr zugelassen). In Einzelfallberichten und einer kontrollierten
Studie zu Pheno-thiazinen wurde über unterschiedliche Fehlbildungen, wie z.B. Mikrozephalie,
Syndaktylie und Herzfehlbildungen, berichtet. Ein kausaler Zusammenhang lie;ß sich
jedoch durch größere Studien nicht erhärten (Altshuler 1996, McElhatton 1992). Die
meisten Informationen liegen zur antiemetischen Therapie bei Hyperemesis vor. Hierbei
werden allerdings geringere Phenothiazindosen verwendet als bei der antipsychotischen
Behandlung. Zusammenfassend können Phenothiazine nach allen bisher vorliegenden Erfahrungen
als relativ sicher in der Schwangerschaft angesehen werden.
Speziell zu Chlorprothixen (z.B. Truxal®), Clopenthixol, Flupenti-xol (z.B. Fluanxol®),
Metofenazat, Perazin (z.B. Taxilan®), Prothipen-dyl (Dominal® forte), Zotepin (Nipolept®)
und Zuclopenthixol (Ciatyl Z®) sind keine Berichte mit größeren Fallzahlen publiziert.
Aufgrund der langen Markterfahrung und des breiten Einsatzes zumindestens von Chlorprothixen,
Flupentixol, Perazin und Zuclopenthixol ist ein nennenswertes teratogenes Risiko unwahrscheinlich.
Nach intrauteriner Phenothiazin-Exposition können dosisabhängig unter Umständen über
Wochen anhaltende extrapyramidale Symptome bei den Neugeborenen auftreten. Au;ßerdem
gibt es Berichte über (Ent-zugs-)Symptome bei Neugeborenen, d.h. leichte Sedierung
oder motorische Unruhe (McElhatton 1992). In einer Kasuistik wird über ein Frühgeborenes
der Schwangerschaftswoche 35 berichtet, dessen Mutter mit Chlorpromazin und Biperiden
behandelt worden war. Am zweiten Lebenstag diagnostizierte man bei diesem Kind eine
nekrotisie-rende Enterokolitis. Ein Zusammenhang zwischen mütterlicher Medikation
und Erkrankung des Neugeborenen wurde diskutiert (Meut 1994), konnte aber von anderen
Autoren nicht bestätigt werden.
Empfehlung für die Praxis:
Phenothiazine und Thioxanthene können zur Behandlung einer psychotischen Symptomatik
in der Schwangerschaft verwendet werden. Sie sind auch bei Hyperemesis wirksam. Falls
wegen extrapyramidaler Nebenwirkungen erforderlich, darf auch zusätzlich Biperiden
gegeben werden. Zu den in der Schwangerschaft recht gut dokumentierten Phenothiazinderi-
vaten gehören z.B. Alimemazin, Fluphenazin, Levomepromazin, Promazin und Thioridazin.
Bei hoch dosierter Medikation bis zur Geburt ist eine zumindest 2-tägige Überwachung
des Neugeborenen zum Ausschluss einer Extrapyramidaloder Entzugssymptomatik sinnvoll.
Soweit klinisch vertretbar, kann mit der Patientin eine Reduktion bzw. auch das vorübergehende
Absetzen des Neurolepti-kums vor der Geburt vereinbart werden, um den nicht selten
beobachteten Anpassungsstörungen des Neugeborenen entgegen zu wirken. Das notwendige
Zeitintervall richtet sich dabei nach der Halbwertszeit des Medikamentes. Zur Vermeidung
eines Rezidivs muss sofort nach der Geburt die Dosierung wieder in den Bereich, der
vor der Schwangerschaft üblich war, angehoben werden. Wurde ein Präparat im 1. Trimenon
verschrieben, für das keine ausreichenden Daten vorliegen (siehe oben), stellt dies
keine Indikation zum risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch oder zu invasiver Diagnostik
dar (siehe Kapitel 1.15).
2.11.8
Haloperidol und andere Butyrophenone
Pharmakologie und Toxikologie.
Haloperidol (z. B. Haldol®, Sigaperidol®, Haloper®) ist der wichtigste Vertreter dieser
Arzneimittelgruppe. Die anderen Derivate Benperidol (z. B. Glianimon®), Bromperidol
(Impro-men®, Tesoprel®), Droperidol (Dehydrobenzperidol®), Melperon (Eunerpan®), Pipamperon
(z.B. Dipiperon®) und Trifluperidol sind weniger verbreitet. Strukturell verwandte
Neuroleptika sind Fluspirilen (z.B. Imap®), Penfluridol und Pimozid (Orap®).
Butyrophenone wie Haloperidol setzen die Fertilität durch deutliche Prolaktinerhöhung
herab. Dies darf aber nicht als sichere Kontrazeption betrachtet werden! Zyklusstörungen
und Amenorrhö sind häufig. Eine nennenswerte Interaktion mit hormonellen Kontrazeptiva
ist nicht bekannt.
Ältere Fallberichte beschreiben Fehlbildungen, z.B. der Extremitäten, ohne dass diese
Beobachtungen später bestätigt werden konnten. Es liegen prospektive Studien mit zusammen
über 400 vorwiegend im 1. Trimenon oder durchgehend behandelten Schwangeren vor sowie
retrospektive Fall-Kontroll-Untersuchungen (Diav-Citrin 2005, eigene Daten), die keinen
teratogenen Effekt belegen konnten. Tierexperimentell beobachtete man nach hohen Dosen
bei Mäusen orale Spaltbildungen und Neuralrohrdefekte und bei Ratten ein vermindertes
Hirnwachstum.
Nach der Geburt können in den ersten Lebenstagen toxische bzw. Entzugssymptome beim
Neugeborenen auftreten, insbesondere Unruhe, Sedierung, Trinkschwäche und extrapyramidale
Symptome. Von 64 lebend geborenen Kindern in unserer prospektiven Datenbank wiesen
13 (20%) vorübergehende Symptome (vorwiegend Zittrigkeit) auf, die nicht durch Frühgeburtlichkeit
bedingt waren. In der bisher größten publizierten prospektiven Studie von Diav-Citrin
(2005), die einen Teil unserer eigenen Daten einschlie;ßt, waren es nur 5 % der Kinder.
In vielen Fällen mit neonataler Symptomatik nahm die Mutter vor der Geburt zusätzlich
andere Psychopharmaka ein. Im Vergleich zu gesunden Kontrollgruppen, liegt der Anteil
früh geborener Kinder unter Haloperidolbehandlung höher (Diav-Citrin 2005, eigene
Daten). Langzeituntersuchungen zum Risiko von Spätdyskinesien bei den Kindern liegen
nicht vor.
Zu Fluspirilen und zu Penfluridol liegen ca. 40 bzw. etwa 30 pro-spektiv nachverfolgte
Schwangerschaften vor (Diav-Citrin 2005, eigene Daten), aus denen sich keine Hinweise
auf ein teratogenes Potenzial ergeben. Andere Butyrophenone sind unzureichend in der
Schwangerschaft untersucht. Aufgrund der strukturellen Verwandtschaft sind sie wahrscheinlich
analog zu bewerten.
Empfehlung für die Praxis:
Haloperidol kann bei entsprechender psychiatrischer Indikation in der Schwangerschaft
verordnet werden, zur Besserung extrapyramidaler Nebenwirkungen auch in Kombination
mit Biperiden. Die Einnahme eines anderen Butyrophenons rechtfertigt weder einen risikobegründeten
Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel 1) noch invasive Diagnostik. Sorgfältige Schwangerschaftsüberwachung
und engmaschige psychiatrische Kontakte sind anzuraten, um rechtzeitig Krisen bei
der Mutter und Entwicklungskomplikationen beim Fetus (Frühgeburtsbestrebungen, Wachstumsretardierung)
begegnen zu können. Das Neugeborene soll zum Ausschluss einer Entzugssymptomatik oder/und
extrapyramidaler Symptome zumindest 2 Tage beobachtet werden. Soweit klinisch vertretbar,
kann mit der Patientin eine Reduktion bzw. auch das vorübergehende Absetzen des Neuroleptikums
vor der Geburt vereinbart werden, um den nicht selten beobachteten Anpassungsstörungen
des Neugeborenen entgegen zu wirken. Zur Vermeidung eines Rezidivs in dieser für die
Mutter kritischen Phase muss sofort nach der Geburt die vor der Schwangerschaft übliche
therapeutische Dosierung wieder aufgenommen werden.
2.11.9
Atypische Neuroleptika
Die meisten atypischen Neuroleptika haben eine relativ höhere Affinität zu Serotonin-
als zu Dopaminrezeptoren. Gegenüber Haloperidol und anderen klassischen Neuroleptika
wird ihnen eine bessere Verträglichkeit in Bezug auf extrapyramidale/dyskinetische
Nebenwirkungen zugeschrieben. Mit Ausnahme von Amisulprid erhöhen sie die Prolak-tinkonzentration
nicht oder nur in geringerem Ma;ße oder wie Risperi-don nur vorübergehend. Der geringere
prolaktinämische Effekt birgt das Risiko ungewollter Schwangerschaften, wenn von klassischen
Neuroleptika auf atypische Neuroleptika umgestellt wird und die prolaktin-bedingte
Fertilitätsminderung wegfällt. Daher ist eine wirksame Kontrazeption sicherzustellen.
Eine Wechselwirkung mit Kontrazeptiva ist bisher nicht bekannt. Bei Clozapin und Olanzapin
wurden eine Hyperglykämie bzw. Glucoseintoleranz bei Schwangeren beschrieben. Eine
Gewichtszunahme wurde bei diesen beiden Mitteln sowie bei Quetiapin und Risperidon
beobachtet (Überblick in Gentile 2004). Sowohl die Glucoseintoleranz als auch übermäßige
Gewichtszunahme sind Risikofaktoren für den Schwangerschaftsverlauf. Zum Teil wird
über ein geringeres Geburtsgewicht nach Atypikabehandlung berichtet (McKenna 2005).
Wie auch bei anderen Psychopharmaka können Neugeborene in den ersten Lebenstagen Anpassungsstörungen
zeigen, einzelne Fallberichte erwähnen auch Krampfanfälle. Für bleibende Funktionsstörungen
gibt es bisher keinen Anhalt, allerdings sind für eine differenzierte Bewertung die
vorliegenden Daten unzureichend.
Amisulprid
Zu Amisulprid (z.B. SOLIAN®), einem Benzamidderivat und selektiven Dopamin-D2- und
-D3-Rezeptorantagonisten, liegen nur Einzelfallberichte vor, die bisher keine spezifische
Teratogenität erkennen lassen. Wir überblicken 11 prospektiv dokumentierte Schwangerschaften,
von denen eine als Spontanabort endete. Von den 10 lebend geborenen Kindern wies keines
eine Fehlbildung auf. Allerdings reicht diese geringe Zahl für eine differenzierte
Risikobewertung nicht aus. Zur perinatalen Dosisanpassung siehe „Empfehlung für die
Praxis” weiter unten.
Aripiprazol
Aripiprazol (Abilify®) wird als erstes atypisches Neuroleptikum der 2. Generation
bezeichnet. Es zeichnet sich aus durch gemischten dop-aminergen Agonismus (in Regionen
verminderter dopaminerger Aktivität, beispielsweise im mesokortikalen Bereich) und
Antagonismus (in Regionen mit erhöhter Dopaminkonzentration, z.B. im mesolimbi-schen
Bereich). Im Gegensatz zu den klassischen Neuroleptika und manchen Atypika wie dem
Risperidon bewirkt es keine Erhöhung, sondern tendentiell sogar eher eine Erniedrigung
des Prolaktins. Besonders beim Umsetzen von einem klassischen Neuroleptikum (Phenothiazine,
Butyrophenone wie Haloperidol) muss mit einer ungeplanten Schwangerschaft gerechnet
werden, da sich durch den geringeren Einfluss auf den Prolaktinspiegel im Vergleich
zu den klassischen Neuroleptika die Fertilität verbessern kann. Daher muss eine wirksame
Kontrazeption sichergestellt werden. Bisher sind keine Wechselwirkungen mit Kontra-zeptiva
bekannt. Für eine Bewertung des Risikos in der Schwangerschaft liegen weder ausreichende
Daten noch Einzelfallhinweise auf spezifische teratogene Ereignisse vor. Tierexperimentell
fanden sich bei Ratten vermehrt Zwerchfellhernien und bei Kaninchen Skelettauffälligkeiten.
Zur perinatalen Dosisanpassung siehe „Empfehlung für die Pra-xis” weiter unten.
Clozapin
Clozapin (Leponex®) besteht strukturell aus einem phenothiazinarti-gen und einem aliphatischen,
aromatischen, trizyklischen Dibenzodi-azepinanteil. Es wirkt anders als die anderen
Atypika auf unterschiedliche zentralnervöse Rezeptoren. Clozapin wird aufgrund potenziell
schwerer immunallergischer Agranulozytose oder Myokarditis sowie Krampfanfällen heute
nur noch bei sonst therapierefraktären schizophrenen Patienten verordnet. Menstruationszyklus
und Fertilität sind im Gegensatz zu den klassischen Neuroleptika kaum beeinträchtigt,
weil Clozapin den Prolaktinspiegel kaum bzw. nur vorübergehend erhöht. Besonders beim
Umsetzen von einem klassischen Neurolepti-kum (Phenothiazinderivate, Butyrophenone
wie Haloperidol) muss mit einer ungeplanten Schwangerschaft gerechnet werden, da sich
durch den geringeren Einfluss auf den Prolaktinspiegel im Vergleich zu den klassischen
Neuroleptika die Fertilität verbessern kann. Daher muss eine wirksame Kontrazeption
sichergestellt werden. Bisher sind keine Wechselwirkungen mit Kontrazeptiva bekannt.
Eine Akkumulation von Clozapin im fetalen Serum konnte nachgewiesen werden (Barnas
1994). Hinweise auf typische Fehlbildungen ergeben sich weder aus den bisher publizierten
Verläufen von etwa 200 Schwangerschaften (McKenna 2005, Gentile 2004) noch aus den
rund 500 beim Hersteller gesammelten Fallberichten oder von uns prospektiv erfassten
51 Schwangerschaftsverläufen (1 gro;ße Fehlbildung mit Transposition der gro;ßen Gefäße).
Vier Falldokumentationen beschreiben einen Gestati-onsdiabetes, der unter der Therapie
neu aufgetreten ist oder sich verschlechtert hat (Überblick in Gentile 2004). Hinweise
auf ein nennenswertes Risiko für Beeinträchtigungen der Blutbildung oder gar einer
Agranulozytose beim Fetus bzw. Neugeborenen liegen bisher nicht vor.
Eine Kasuistik beschreibt eine eingeschränkte fetale Herzfrequenzvariabilität am Ende
der Schwangerschaft (Yogev 2002). Sedierung des Neugeborenen, Zittrigkeit oder andere
Entzugssymptome, sowie Krampfanfälle und eine Floppy-Infant-Symptomatik wurden vereinzelt
beschrieben (Überblick in Gentile 2004). Von 39 lebend geborenen Kindern in unserer
prospektiven Datenbank wiesen 2 (5%) vorübergehende, nicht durch Frühgeburtlichkeit
bedingte Symptome auf. Manche Autoren empfehlen eine Dosisreduktion am Ende der Schwangerschaft
(Barnas 1994). Zur perinatalen Dosisanpassung siehe „Empfehlung für die Praxis” weiter
unten.
Olanzapin
Im Gegensatz zu den klassischen Neuroleptika sind Menstruationszyklus und Fertilität
bei Olanzapin (ZYPREXA®) mit seinem kombinierten D2/5-HT2A-Rezeptorantagonismus kaum
beeinträchtigt. Der Prolaktin-spiegel ist nur in geringem Ma;ße und nur vorübergehend
erhöht.
Besonders beim Umsetzen von einem klassischen Neuroleptikum (Phe-nothiazine, Butyrophenone
wie Haloperidol) muss mit einer ungeplan-ten Schwangerschaft gerechnet werden, da
sich durch den geringeren Einfluss auf den Prolaktinspiegel im Vergleich zu den klassischen
Neu-roleptika die Fertilität verbessern kann. Daher muss eine wirksame Kontrazeption
sichergestellt werden. Bisher sind keine Wechselwirkungen mit Kontrazeptiva bekannt.
Olanzapin hat sich tierexperimentell bei Ratten und Kaninchen nicht als teratogen
erwiesen. Etwa 200 Schwangerschaften wurden inzwischen ausgewertet, die z.T. mit den
rund 240 vom Hersteller gesammelten Fallberichten identisch sind. Diese Daten ergeben
bisher keine Hinweise auf embryo- oder fetotoxische Effekte (McKenna 2005, Levinson
2003, Ernst 2002, Mendhekar 2002, Biswas 2001, Malek-Ahmadi 2001, Nagy 2001, Neumann
2001, Goldstein 2000, Kirchheiner 2000). Auch die von uns prospektiv erfassten 63
Schwangerschaften mit nur einer gro;ßen Fehlbildung ergeben keinen Hinweis auf Teratogenität.
Nach Anwendung bis zum Ende der Schwangerschaft wurden Sedie-rung und anhaltender
Ikterus bei einem Säugling im Zusammenhang mit der mütterlichen Olanzapineinnahme
diskutiert (Goldstein 2000). Bei drei retrospektiv erfassten Kindern, deren Mütter
bis zur Geburt behandelt wurden, traten in der Neonatalzeit Krampfanfälle auf (Goldstein
2000, eigene Erfahrungen). Da unter den prospektiv dokumentierten Fällen keine Krampfanfälle
beobachtet wurden, ist ein hohes Krampfrisiko nicht gegeben, ein ursächlicher Zusammenhang
ist aber nicht auszuschlie;ßen. Die lange Halbwertszeit von etwa 30 Stunden und die
noch nicht voll entwickelte Exkretionsleistung beim Neugeborenen könnten derartige
toxische Wirkungen begünstigen. Von 44 lebend geborenen Kindern in unserer prospektiven
Datenbank wiesen 8 (18%) vorübergehende, nicht durch Frühgeburtlichkeit bedingte Symptome
(vorwiegend Zittrigkeit) auf. Zur perinatalen Dosisanpassung siehe „Empfehlung für
die Praxis” weiter unten.
Quetiapin
Beim Umsetzen von einem klassischen Neuroleptikum (Phenothiazine, Butyrophenone wie
Haloperidol) auf Quetiapin (Seroquel®) mit seinem kombiniertem D2/5-HT2A-Rezeptorantagonismus
muss mit einer ungeplanten Schwangerschaft gerechnet werden, da durch den geringeren
Einfluss auf den Prolaktinspiegel im Vergleich zu den klassischen Neuroleptika die
Fertilität ansteigen kann. Daher muss eine wirksame Kontrazeption sichergestellt werden.
Bisher sind keine Wechselwirkungen mit Kontrazeptiva bekannt.
Etwa 40 bisher veröffentlichte Schwangerschaftsverläufe und 150 vom Hersteller gesammelte
Fallberichte lassen keine spezifische Terato-genität oder – soweit untersucht – bleibende
Funktionsstörungen erkennen, sie sind aber unzureichend für eine differenzierte Risikobewertung
(McKenna 2005, Pace zitiert in Gentile 2004, Taylor 2003, Tényi 2002). Von weiteren
42 in unserer Datenbank prospektiv erfassten Schwangerschaften wiesen 2 (statistisch
nicht signifikant gegenüber einer nicht behandelten Kontrollgruppe) eine gro;ße Fehlbildung
auf: Vorhofseptumdefekt, Lippen-Gaumen-Spalte. Die Mutter des Kindes mit der Spaltbildung
rauchte 20 Zigaretten täglich und war Au;ßerdem mit Olanzapin behandelt worden. Rauchen
wird bei Frauen mit einem gleichzeitig vorliegenden Defekt des Enzyms TGF-Alpha als
Risikofaktor für Spaltbildungen diskutiert. Im Tierversuch ist keine Teratogenität
bekannt. Von den 36 lebend geborenen Kindern in unserer prospekti-ven Datenbank wiesen
3 (9%) vorübergehende, nicht durch Frühge-burtlichkeit bedingte Anpassungssymptome
(vorwiegend Zittrigkeit) auf. Zur perinatalen Dosisanpassung siehe „Empfehlung für
die Praxis” weiter unten.
Risperidon
Beim Umsetzen von einem klassischen Neuroleptikum (Phenothiazine, Butyrophenone wie
Haloperidol) auf Risperidon (Risperdal®), einem Benzisoxazolderivat und kombiniertem
D2/5-HT2A-Rezeptorant-agonisten, muss mit einer ungeplanten Schwangerschaft gerechnet
werden, da sich durch den geringeren Einfluss auf den Prolaktinspiegel im Vergleich
zu den klassischen Neuroleptika die Fertilität normalisieren kann. Daher muss eine
wirksame Kontrazeption sichergestellt werden. Bisher sind keine Wechselwirkungen mit
Kontrazeptiva bekannt.
Zu Risperidon gibt es etwa 60 publizierte Fallberichte (McKenna 2005, Ratnayake 2002,
Mackay 1998) und rund 200 vom Hersteller gesammelte Datensätze sowie 32 von uns prospektiv
erfasste Schwangerschaftsverläufe, die bisher keine spezifische Teratogenität erkennen
lassen. Von den 32 in unserer Datenbank prospektiv erfassten Schwangerschaften wies
1 Kind eine gro;ße Fehlbildung auf. Dies ist gegenüber der Kontrollgruppe statistisch
nicht signifikant. Allerdings erlaubt die geringe Fallzahl keine differenzierte Risikobewertung.
Im Tierversuch ist keine Teratogenität bekannt. Zur perinatalen Dosisanpassung siehe
„Empfehlung für die Praxis” weiter unten.
Ziprasidon
Beim Umsetzen von einem klassischen Neuroleptikum (Phenothiazine, Butyrophenone wie
Haloperidol) auf Ziprasidon (Zeldox®), einem kombiniertem D2/5-HT2A-Rezeptorantagonisten,
muss mit einer unge-planten Schwangerschaft gerechnet werden, da durch den geringeren
Einfluss auf den Prolaktinspiegel im Vergleich zu den klassischen Neu- roleptika die
Fertilität steigen kann. Daher muss eine wirksame Kontrazeption sichergestellt werden.
Bisher sind keine Wechselwirkungen mit Kontrazeptiva bekannt.
Zu Ziprasidon gibt es nur wenige publizierte Fallberichte. Von den 12 in unserer Datenbank
prospektiv erfassten Schwangerschaften wies ein Kind (von 10 Lebendgeborenen) eine
gro;ße Fehlbildung auf (Vorhofseptumdefekt). Dies ist gegenüber einer gesunden Kontrollgruppe
statistisch nicht signifikant und lässt keine spezifische Terato-genität erkennen,
ist aber unzureichend für eine differenzierte Risikobewertung. Im Tierversuch hat
sich Ziprasidon beim Kaninchen als teratogen erwiesen (Herzfehlbildungen). Zur perinatalen
Situation und Dosisanpassung um die Geburt siehe Abschnitt „Empfehlung für die Praxis”.
Empfehlung für die Praxis:
Ein atypisches Neuroleptikum kann bei entsprechender Indikation in der Schwangerschaft
eingesetzt werden, wobei möglichst länger eingeführte Präparate bevorzugt werden sollten.
Olanzapin ist das bisher am umfangreichsten in der Schwangerschaft dokumentierte Mittel
aus dieser Gruppe. Da Olanzapin den Blutzuckerspiegel erhöhen kann, muss ein Gesta-tionsdiabetes
ausgeschlossen werden. Die anderen genannten atypischen Neu-roleptika sind aufgrund
der geringeren Erprobung Reservemittel in der Schwangerschaft, die unter stabiler
Therapie während einer Schwangerschaft jedoch nicht umgesetzt werden sollten, um keine
für Mutter und Kind bedrohliche Krise zu provozieren. Wegen allgemeiner Nebenwirkungen
sollte eine Neueinstellung von Clozapin in der Schwangerschaft unterbleiben, eine
gut auf Clozapin eingestellte Patientin muss jedoch nicht umgestellt werden. Generell
sind sorgfältige Schwangerschaftsüberwachung und engmaschige psychiatrische Kontakte
unerlässlich, um rechtzeitig Krisen bei der Mutter und Entwicklungskomplikationen
beim Fetus (Frühgeburtsbestrebungen, Wachstumsretardierung) begegnen zu können. Nach
Exposition im 1. Trimenon sollte die normale Entwicklung des Fetus mittels Ultraschallfeindiagnostik
bestätigt werden. Die Einnahme eines atypischen Neuroleptikums rechtfertigt keinen
risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel 1.15). Bei Therapie im letzten
Schwangerschaftsdrittel sollte, wenn möglich, die Dosis in den Tagen vor der Geburt
reduziert werden, um Symptome beim Neugeborenen zu vermeiden. In den ersten beiden
Lebenstagen muss eine zuverlässige Beobachtung des Neugeborenen gewährleistet sein,
daher sollte die Entbindung möglichst in einem Perinatalzentrum erfolgen. Bei Erkrankungen
mit hoher Rezidivgefahr (wie etwa bipolare Störungen) sollte bedacht werden, dass
eine zu rasche Dosisreduktion vor Geburt in dieser für die Mutter vulnerablen Phase
probelmatisch sein kann und postpartal das höchste Risiko für ein Rezidiv besteht.
Die Notwendigkeit einer postpartalen Dosiserhöhung in therapeutische bzw. hochtherapeutische
Bereiche muss frühzeitig besprochen werden.
2.11.10
Weitere Neuroleptika
Zu Clothiapin, Loxapin, Remoxiprid, Sertindol (Serdolect®) und Sul-pirid (z.B. Dogmatil,
Meresa®) liegen keine ausreichenden Daten vor. Sulpirid wurde in der Vergangenheit
aufgrund seiner prolaktinergen Wirkung zur Anregung der Milchproduktion eingesetzt.
Empfehlung für die Praxis:
Die genannten atypischen Neuroleptika sollten aufgrund unzureichender Erfahrung bei
Planung einer Schwangerschaft nicht verordnet werden. Eine hierunter stabile Patientin
muss jedoch während einer Schwangerschaft nicht umgesetzt werden, um keine für Mutter
und Kind bedrohliche Krise zu provozieren. Eine Exposition im 1. Trimenon rechtfertigt
weder einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch noch invasive Diagnostik (siehe
Kapitel 1.15). Eine Ultraschallfeindiagnostik sollte hingegen angeboten werden. In
den ersten beiden Lebenstagen muss eine zuverlässige Beobachtung des Neugeborenen
gewährleistet sein, daher sollte die Entbindung möglichst in einem Perinatalzentrum
erfolgen.
2.11.11
Lithiumsalze
Pharmakologie und Toxikologie.
Die Lithiumsalze Lithiumacetat (Quilo-num®), Lithiumcarbonat (z.B. Hypnorex®), Lithiumhydrogenaspar-tat
(Lithium-Aspartat®) und Lithiumsulfat (Lithium-Duriles®) haben sich zur Prophylaxe
manischer Symptome im Rahmen bipolarer affekti-ver Störungen bewährt. Sie beeinträchtigen
die normalen psychischen Funktionen nicht und haben bei Gesunden in therapeutischer
Dosis keine Wirkung.
Lithiumsalze werden nach oraler Gabe gut resorbiert und zu mehr als 95 % unverändert
mit dem Urin ausgeschieden, ihre Halbwertszeit beträgt 24 Stunden. Bei Schwangeren
ist die Lithiumausscheidung durch die Niere um 50–100% gesteigert. Lithium ist plazentagängig
und erreicht im Fetus ebenso hohe Konzentrationen wie im mütterlichen Serum.
In den 70er Jahren wurde Lithium eine erhebliche Teratogenität unterstellt und Herzfehlbildungen
als Folge der Behandlung im 1. Trimenon angesehen, insbesondere die sonst seltene
Ebstein-Anomalie mit einer Fehlanlage der Trikuspidalklappe. Zur Dokumentation exponierter
Feten wurde das so genannte „Lithium-Baby-Register” 1968 in Dänemark eingerichtet
und dann international ausgeweitet. Als es 1979 geschlossen wurde, lagen Berichte
über 225 Kinder vor, davon hatten 25 (11%) Fehlbildungen, in 18 Fällen am Herzen und
den gro;ßen Gefäßen. Andere Anomalien betrafen die äußeren Ohranlagen, das Gehirn,
die Ureter und das endokrine System (Übersicht bei Kozma 2005). Der hohe Anteil von
Kindern mit Fehlbildungen erklärt sich aus der retro- spektiven Fallerfassung, bei
der wie üblich auffällige Verläufe überrepräsentiert sind. Spätere prospektive Kohorten-
und retrospektive FallKontroll-Untersuchungen ergaben nur zum Teil erhöhte Fehlbildungsraten,
u.a. auch für Herzfehler. Doch scheint das teratogene Risiko deutlich geringer zu
sein, als früher angenommen (Kozma 2005, Cohen 1994, Jacobson 1992, Källén 1991, Zalzstein
1990). Weit über 90% der exponierten Kinder werden nach diesen neueren Untersuchungen
organisch gesund geboren. Das Risiko für eine Ebstein-Anomalie, die spontan bei 1
von 20.000 Kindern vorkommt, beträgt nach heutigem Wissen nur etwa 1 auf 1.000 exponierte
Feten, d.h. es tritt unter einer Lithiumtherapie etwa 20-mal häufiger auf als spontan
(Shepard 2002). Unter Lithium wurde auch über vermehrte Frühgeburten, erhöhtes Geburtsgewicht
und Polyhydramnie berichtet (Troyer 1993).
Da unter der Geburt die Clearance sinkt und das therapeutische Dosisintervall bei
Lithium sehr schmal ist, sind toxische Symptome bei Mutter und Kind nicht ungewöhnlich.
Während der Schwangerschaft können toxische Symptome bei der Mutter durch eine Hyperemesis
begünstigt werden, andererseits können toxische Symptome des Lithiums mit einer schwangerschaftsbedingten
Emesis verwechselt werden.
Beim Neugeborenen können in einzelnen Fällen Atemstörungen, funktionelle kardiale
Störungen wie persistierender fetaler Kreislauf, Vorhofflattern und erhebliche Rechtsherzbelastung
bei pathologischem Lungengefä;ßwiderstand auftreten. Auch ein kurzzeitig mit ADH behandlungsbedürftiger
Diabetes insipidus (Pinelli 2002), Krampfanfälle und Hypothyreose wurden beschrieben
(Malzacher 2003, Zegers 2003, Frassetto 2002, Llewellyn 1998). Diese toxischen Effekte
des Lithiums besserten sich meist innerhalb von 1–2 Wochen nach der Geburt. Bei Neugeborenen
mit ausgeprägter Hypothyreose und konna-taler Struma wurde jedoch auch über eine wochenlang
erforderliche Thyroxinsubstitution berichtet (Frassetto 2002). Länger anhalten kann
auch ein so genanntes „Floppy-Infant-Syndrom” mit Lethargie, Trinkschwäche, Tachypnoe,
Tachykardie, Zyanose, Temperaturregulationsstörung und Muskelhypotonie. Die spätere
Entwicklung der Kinder verläuft anscheinend normal (Kozma 2005).
Empfehlung für die Praxis:
Ist eine Lithiumtherapie in der Schwangerschaft erforderlich, sollten gleich bleibend
niedrige Serumkonzentrationen angestrebt werden, insbesondere im 1. Trimenon. Die
mütterliche Tagesdosis (üblicherweise 300 bis höchstens 1200 mg/Tag) sollte auf 3–4
Einzeldosen verteilt werden. Eine Ultraschallfeindiagnostik bzw. eine fetale Echokardiographie
sind nach Exposition im 1. Trimenon zu empfehlen.
Die Schwangere soll keine salzarme Diät einhalten und keine Diuretika einnehmen. Letztere
können einen paradoxen antidiuretischen Effekt bei gleichzeitiger Lithiumtherapie
entfalten. Wegen Veränderungen im Flüssigkeitshaushalt während der Schwangerschaft
sollte die Serumkonzentration (0,5–0,8 mEq/l) monat- lich kontrolliert und die Dosis
dann ggf. erhöht werden. Im letzten Schwangerschaftsmonat sind wöchentliche Kontrollen
erforderlich und vor der Geburt alle 2 Tage. In der Woche vor der Geburt sollte, wenn
möglich, die Dosis um 30–50% herabgesetzt werden. Eine Dehydratation ist ggf. mit
parenteraler Flüssigkeitssubstitution zu therapieren. Nach der Geburt kann die vor
der Schwangerschaft übliche Dosis wieder eingenommen werden. Dabei muss zunächst weiter
engmaschig der Spiegel kontrolliert werden und wegen der erneuten Umstellung des Flüssigkeitshaushalts
die Dosis ggf. vorübergehend nach unten angepasst werden. Aufgrund der unreifen renalen
Elimination insbesondere in den ersten Lebenstagen ist auf toxische Symptome beim
Kind zu achten. Au;ßerdem muss eine Hypothyreose ausgeschlossen werden. Die Entbindung
sollte in einem Peri-natalzentrum erfolgen. Gerade bei bekannter bipolarer Störung
muss bei der Planung der Medikation für die Mutter das hohe postpartale Rezidivrisiko
bedacht werden und zwar sowohl für postpartale Depressionen als auch für Manien.
2.11.12
Andere antimanische Psychopharmaka
Die Antiepileptika Valproinsäure, Carbamazepin und Lamotrigin werden ebenfalls als
Phasenprophylaktika bei bipolaren affektiven (manisch-depressiven) Erkrankungen verordnet.
Da Valproinsäure und Carbamazepin ein erhebliches teratogenes Potenzial besitzen und
weniger riskante Mittel zur Verfügung stehen, sind sie strikt zu meiden, wenn eine
Schwangerschaft nicht ausgeschlossen werden kann (siehe Kapitel 2.10).
2.11.13
Anxiolytika (Tranquilizer)
Pharmakologie und Toxikologie.
Anxiolytika sollen Angst- und Span-nungszustände lösen und den Einfluss negativer
Emotionen auf das körperliche Befinden mindern (psycho-vegetative Entkopplung). Für
diese Indikation werden bzw. wurden verschiedene Arzneimittel verwendet: Neuroleptika,
Benzodiazepine, Meprobamat, Buspiron, Hydroxyzin und Kavain. Diese Präparate wirken
mehr oder minder sedierend und antriebshemmend. Zu Benzodiazepinen und Neuroleptika
siehe die entsprechenden Abschnitte.
Buspiron (Bespar®) hat eine Affinität zu Serotonin- und Dopaminre-zeptoren und kann
den Prolaktinspiegel erhöhen. Im Tierversuch zeigte das Präparat keine teratogene
Wirkung. Ausreichende Daten zur Schwangerschaft beim Menschen liegen nicht vor.
Hydroxyzin (z. B. Atarax®) ist ein Antihistaminikum mit sedativen, antiemetischen
und angstlösenden Eigenschaften. Es liegen mehrere Untersuchungen mit zusammen etwa
240 Schwangerschaften vor. Hin- weise auf entwicklungstoxische Effekte ergeben sich
hieraus nicht (Diav-Citrin 2003, Einarson 1997). Tierexperimentell finden sich Hinweise
auf Teratogenität.
Kavain ist zusammen mit anderen Kavalactonen einer der Hauptinhaltsstoffe aus der
Kava-Kava-Wurzel (Piper methysticum, Rauschpfeffer). Diesem Wirkstoff mit antidopaminerger
und daher auch prolakti-nerger Wirkung, werden psychostabilisierende Eigenschaften
zugeschrieben. Untersuchungen zur Anwendung bei Schwangeren liegen nicht vor, allerdings
gibt es bisher auch keine Hinweise auf teratogene Effekte. Aufgrund seiner Hepatotoxizität
hat es in den vergangenen Jahren an Bedeutung verloren.
Meprobamat ist einer der ältesten Tranquilizer. Seit der Einführung der Benzodiazepine
hat Meprobamat therapeutisch keine gro;ße Bedeutung mehr. In einer Studie mit 400
Frauen, die Meprobamat im 1. Tri-menon erhalten hatten, war die Häufigkeit von Herzfehlbildungen
erhöht (Milkovich 1974). Diese Beobachtung konnte in anderen Untersuchungen nicht
bestätigt werden. Unbestätigt blieb auch der Verdacht auf Polydaktylie durch mütterliche
Meprobamat-Behandlung. Im Tierversuch fanden sich bei Mäusen unter hohen Dosen Anomalien
der Endphalangen und bei Ratten Verhaltensauffälligkeiten.
Empfehlung für die Praxis:
Buspiron, Hydroxyzin, Kavain und Meprobamat sind in der Schwangerschaft zu meiden.
Eine dennoch erfolgte Exposition im 1. Trimenon rechtfertigt weder einen risikobegründeten
Schwangerschaftsabbruch noch invasive Diagnostik (siehe Kapitel 1.15). Zur Anxiolyse
sind niedrig dosierte Antidepressiva mit sedierenden Eigenschaften geeignet (z. B.
Amitriptylin) und für die kurzfristige Therapie auch Benzodiazepine. Zur Sedierung
kommen Diphenhydramin und als Antiemetikum Meclozin infrage (siehe dort).
2.11.14
Hypnotika
Als Schlafmittel (Hypnotika) werden Substanzen verschiedener Stoffgruppen eingesetzt.
Sie führen dosisabhängig zu einer Sedierung oder wirken hypnotisch. Schlafstörungen
haben die unterschiedlichsten Ursachen und sollten erst nach Ausschöpfung aller Alternativen
medikamentös behandelt werden. Eine Dauermedikation mit Schlafmitteln ist wegen der
Abhängigkeitsgefahr nicht nur in der Schwangerschaft kontraindiziert.
2.11.15
Barbiturate
Pharmakologie und Toxikologie.
Bis zur Einführung der Benzodiazepine waren Barbitursäurederivate die wichtigsten
Schlafmittel. Seitdem haben Barbiturate ihre Bedeutung als Hypnotika fast vollständig
verlo- ren. Anwendung findet heute fast nur noch das Phenobarbital (z. B. Luminal®).
Erfahrungen zu Barbituraten in der Schwangerschaft wurden hauptsächlich bei der Behandlung
der Epilepsie gesammelt (siehe Kapitel 2.10). Bei kurzzeitiger Verwendung als Schlafmittel
und zur Narkose sind Barbiturate als wahrscheinlich sicher für den Embryo anzusehen.
Eine Gabe unter der Geburt kann eine Atemdepression beim Neugeborenen verursachen.
Empfehlung für die Praxis:
Phenobarbital ist als Hypnotikum in der Schwangerschaft relativ kontraindiziert. Benzodiazepine
oder niedrig dosierte Trizyklika (z. B. Amitriptylin) sind zu bevorzugen. Eine dennoch
erfolgte Exposition, insbesondere mit Einzeldosen, erfordert keine diagnostischen
Konsequenzen. Bei antiepileptischer Dauertherapie mit Barbituraten im 1. Trimenon
sollte jedoch eine Ultraschallfeindiagnostik veranlasst werden. Nach einer Therapie
bis zur Geburt ist das Neugeborene in den ersten beiden Lebenstagen zum Ausschluss
von Atemdepression und ggf. auftretenden Entzugssymptomen gut zu überwachen.
2.11.16
Benzodiazepine
Pharmakologie.
Benzodiazepinderivate werden nicht nur als Hypnotika, sondern auch als Antiepileptika
(siehe Kapitel 2.10) und Anxiolytika eingesetzt. In den letzten 30 Jahren wurde eine
Vielzahl von Benzodiazepi-nen in die Therapie eingeführt. Sie sind strukturell miteinander
verwandt und ihre Halbwertszeit hängt vor allem von der biologischen Aktivität der
Metabolite ab, die durch Oxidation in der Leber entstehen.
Zur Narkoseeinleitung und als Hypnotika werden kurzwirksame Benzodiazepine (Halbwertszeit
< 6 Stunden) eingesetzt: Brotizolam (Lendormin®), Flurazepam (z.B. Dalmadorm®, Staurodorm®),
Mida-zolam (Dormicum®), Triazolam (Halcion®).
Mittellangwirksame Benzodiazepine (Halbwertszeit 6–24 Stunden) stehen als Sedativa
und Hypnotika zur Verfügung: Alprazolam (z.B. Tafil®), Bromazepam (z.B. Bromazanil®,
Lexotanil®), Clotiazepam, Flunitrazepam (z.B. Rohypnol®), Loprazolam (Sonin®), Lorazepam
(z.B. Tavor®), Lormetazepam (z.B. Noctamid®), Metaclazepam, Ni-trazepam (z.B. Mogadan,
Radedorm®), Oxazepam (z.B. Adumbran®, Praxiten®), Temazepam (z.B. Planum®, Remestan®).
Langwirksame Benzodiazepine (Halbwertszeit >24 Stunden bis mehrere Tage) werden hauptsächlich
als Sedativa, Anxiolytika und Antikonvulsiva verordnet: Chlordiazepoxid (z.B. Librium®,
Radepur®), Clobazam (Frisium®), Clonazepam (Antelepsin®, Rivotril®), Diaze-pam (z.B.
Faustan®, Valium®), Dikaliumclorazepat (Tranxilium®), Medazepam (z.B. Rudotel®), Nordazepam
(Tranxilium® N), Praze-pam (Demetrin®).
Diazepam wird nach oraler Gabe rasch resorbiert und im Blut überwiegend an Plasmaproteine
gebunden transportiert. In der Leber erfolgen eine Hydroxylierung und die Metabolisierung
zu dem noch aktiven Desmethyldiazepam, das nach Glucuronidierung über die Nieren ausgeschieden
wird. Die Halbwertszeit beträgt 1–2 Tage, beim Neugeborenen ist sie aufgrund verminderter
Clearance erheblich verlängert.
Orale Kontrazeptiva können durch Hemmung des Metabolismus die Alprazolam- oder Diazepamkonzentration
erhöhen. Au;ßerdem können sie die enterale Absorption von Benzodiazepinen verändern
und zu einer Wirkungsabschwächung von Lorazepam durch Einwirkung auf dessen Kinetik
führen. Andererseits ist eine Beeinträchtigung oraler Kontrazeptiva bei Benzodiazepintherapie
durch Cytochrom-P450-Enzyminduktion möglich (Kuhl 2002). Diazepam ist gut plazentagängig.
Unter der Geburt ist die Konzentration im Nabelvenenblut bis zu 3fach höher als im
mütterlichen Blut.
Fehlbildungsrisiko.
Für Benzodiazepine besteht nach heutigem Wissen kein nennenswertes teratogenes Risiko,
obwohl die vorliegenden Studien ein teilweise widersprüchliches Bild ergeben. Die
meisten Erfahrungen liegen zu Diazepam vor. Im Zusammenhang mit einer Benzodi-azepintherapie
im 1. Trimenon wurden Herzfehlbildungen, Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten, Inguinalhernien
und komplexe andere Fehlbildungen beschrieben (Übersicht bei McElhatton 1994). Andere
Studien konnten teratogene Effekte nicht bestätigen (Czeizel 2003, Ornoy 1998, Patuszak
1996). In einer Metaanalyse zeigten die gesammelten Daten von Kohortenstudien mit
Schwangeren, die mit Benzodiazepinen behandelt wurden, keine Auffälligkeiten. Die
zusammenfassende Analyse der verfügbaren retrospektiven Fall-Kontroll-Studien erbrachte
hingegen ein erhöhtes Risiko für gro;ße Fehlbildungen bzw. für isolierte Mundspaltbildungen
nach Behandlung der Mütter mit Benzodiazepi-nen (Dolovitch 1998). Auch Rodriguez-Pinilla
(1999) erörtert im Zusammenhang mit zwei retrospektiven Fall-Kontroll-Untersuchungen
mit Daten aus Fehlbildungsregistern schwache, aber statistisch signifikante Assoziationen
zwischen Benzodiazepin-Exposition im 1. Trime-non und Spaltbildungen, intestinalen
Atresien und Mikrozephalie.
Zu Alprazolam ergaben sich bislang keine Hinweise auf Teratogeni-tät (Schick-Boschetto
1992, St Clair 1992). Zwei retrospektive FallKontroll-Untersuchungen mit rund 400
mit Chlordiazepoxid exponierten Schwangeren (Czeizel 2004), sowie 10 Patientinnen
mit Alprazo-lam, etwa 100 mit Clonazepam (Details siehe Kapitel 2.10 Antiepileptika),
18 mit Medazepam, 18 mit Nitrazepam und 13 mit Tofisopam ergaben ebenfalls keine Hinweise
auf nennenswerte teratogene Effekte (Lin 2004, Eros 2002).
Bonnot und Mitarbeiter (2001) fanden kein erhöhtes Risiko für spezielle Fehlbildungen
bei Benzodiazepinen insgesamt, jedoch eine Assoziation zwischen Analatresie und Lorazepam:
von 6 Kindern mit Anal- atresie, deren Mütter Benzodiazepine genommen hatten, waren
5 prä-natal mit Lorazepam exponiert.
Anpassungsstörungen nach der Geburt.
Laegreid und Mitarbeiter (1989) berichteten über acht Kinder, deren Mütter während
der gesamten Schwangerschaft Arzneimittelabusus mit täglich mindestens 30 mg Di-azepam
und mindestens 75 mg Oxazepam betrieben hatten. Alle Kinder wiesen Gesichtsdysmorphien
auf, einige Au;ßerdem eine Mikrozephalie sowie postpartal toxische Symptome (Apnoe)
und Entzugserscheinungen. Später wurden unterschiedlich ausgeprägte mentale Retardierungen,
Konzentrationsstörungen und Hyperkinesien beobachtet. Diesen Falldarstellungen ist
jedoch vorgehalten worden, Art und Umfang der Exposition nicht ausreichend abgesichert
und in einem Fall ein Zellweger-Syndrom nicht ausgeschlossen zu haben. In Nachfolgeuntersuchungen
wurde bei den etwa 18 Monate alten Kindern eine Besserung der Symptomatik festgestellt
(Laegreid 1992).
Als gesichert wird hingegen das Risiko funktioneller Störungen beim Neugeborenen angesehen,
wenn unter der Geburt Benzodiazepine hoch dosiert verabreicht wurden oder wenn über
längere Zeiträume, das letzte Schwangerschaftsdrittel inbegriffen, regelmäßig Diazepam
oder andere Benzodiazepine eingenommen wurden. Einerseits muss nach hohen Dosen sub
partu mit Atemdepression gerechnet werden, wie z.B. bei Therapie einer Eklampsie.
Andererseits kann nach andauernder Exposition eine Entzugssymptomatik mit Unruhe,
Tremor, Muskelhypertonus, Erbrechen, Durchfall auftreten, wie z.B. nach Opiaten. Auch
zerebrale Krampfanfälle in der Neonatalphase sind möglich und ein Wochen bis Monate
anhaltendes „Floppy-infant-Syndrom” mit Muskelschlaffheit, Lethargie, Temperaturregulationsstörungen
und Trinkschwäche. Aufgrund der Akkumulation im Fetus können im Einzelfall schon geringe
Dosen Diazepam (unter 10 mg) beim Neugeborenen zu klinischen Symptomen führen (Peinemann
2001).
Das Neugeborene metabolisiert Benzodiazepine wesentlich langsamer als der Erwachsene.
Langzeitwirkungen einer pränatalen Exposition auf die spätere Entwicklung des Kindes
sind nicht abschlie;ßend geklärt. Besorgnis erregende Hinweise gibt es bisher aber
nicht.
Benzodiazepine können in der Peripartalphase Bilirubin aus der Albuminbindung im Blut
verdrängen und zumindest theoretisch einen Icterus neonatorum verstärken.
Empfehlung für die Praxis:
Bei strenger Indikationsstellung sind Benzodiaze-pine Mittel der Wahl zur Behandlung
einer Angstsymptomatik und in bestimmten Fällen auch von Schlafstörungen in der Schwangerschaft.
Sie sollten, auch nach Ausschöpfung aller nicht medikamentöser Behandlungsmöglichkeiten
und medikamentöser Alternativen (z.B. niedrig dosierte Antidepressiva, wie etwa Amitriptylin),
nur kurzzeitig verordnet werden. Eine Dauertherapie im letzten Tri- menon, z.B. als
Zusatzmedikation zur Wehenhemmung oder eine Behandlung am Geburtstermin ist wegen
möglicher neonataler Komplikationen (siehe oben) besonders kritisch zu prüfen. In
den ersten Lebenstagen muss verstärkt auf Symptome beim Kind geachtet werden. Nach
Möglichkeit sollte mit der werdenden Mutter eine Dosisreduktion rechtzeitig vor dem
erwarteten Geburtstermin besprochen werden (abhängig von der Halbwertszeit).
Im Fall einer Therapie mit Benzodiazepinen empfiehlt es sich, aufgrund der durch Enzyminduktion
verursachten Unsicherheit hormoneller Kontrazeption keine systemische Hormontherapie,
also auch keine oralen Kontrazeptiva, vorzusehen, da selbst die gelegentlich empfohlene
Verdopplung der Dosis nicht die gewünschte Sicherheit garantiert. Ein Intrauterinsystem
mit lokaler Gestagenabgabe (Mirena®) wäre zu bevorzugen oder bei etwas geringerer
Sicherheit ein Intraute-rinpessar (IUD). Nur wenn diese Methoden nicht vertragen werden,
ist eine höher dosierte hormonelle Kontrazeption - ggf. mit Einschränkungen der Ver-lässlichkeit
- in Betracht zu ziehen. Hierfür kommt eine durchgehende Einnahme von täglich 2 Dosen
eines niedrig dosierten monophasischen Präparates infrage und zwar im Langzyklus durchgehend
für 3–9 Monate.
2.11.17
Zaleplon, Zolpidem und Zopiclon
Zaleplon (Sonata®), Zolpidem (z.B. Stilnox®) und Zopiclon (Ximo-van®) sind neuentwickelte
Hypnotika mit agonistischer Wirkung am Benzodiazepinrezeptor. Sie sind chemisch nicht
mit der Gruppe der Benzodiazepine verwandt. Wegen des geringeren Suchtpotenzials finden
sie heute zunehmende Verbreitung. Untersuchungen an verschiedenen Tierspezies lassen
nach Angaben der Hersteller keine teratoge-nen Effekte erkennen.
Zur Anwendung von Zaleplon gibt es keine ausreichenden Erfahrungen für eine differenzierte
Risikobeurteilung in der Schwangerschaft.
Zu Zolpidem liegen auf der Basis von einem Dutzend im 1. Trimenon exponierten Schwangerschaften
keine Hinweise für teratogene Eigenschaften vor (Wilton 1998). Für eine differenzierte
Risikobewertung reichen die Daten jedoch nicht aus.
In einer prospektiven Studie mit 40 im 1. Trimenon mit Zopiclon behandelten Schwangeren
fanden sich keine Auffälligkeiten gegenüber einer Kontrollgruppe (Diav-Citrin 1999).
Zu Eszopiclon (Lunesta®, Estorra®), dem S-Enantiomer des Zopiclon, gibt es keine Erfahrungen
in der Schwangerschaft.
Empfehlung für die Praxis:
Die hier genannten Arzneimittel sollten während der Schwangerschaft nicht als Hypnotika
verordnet werden. Eine dennoch erfolgte Einnahme im 1. Trimenon rechtfertigt keinen
risikobegründeten Schwan- gerschaftsabbruch (siehe Kapitel 1.15), ein hoch auflösender
Ultraschall zur Bestätigung einer normalen Entwicklung des Fetus sollte aber angeboten
werden.
2.11.18
Chloralhydrat
Pharmakologie und Toxikologie.
Chloralhydrat (z.B. Chloraldurat®) ist seit über 100 Jahren auf dem Markt und damit
das älteste derzeit benutzte Hypnotikum. Nach der Resorption wird Chloralhydrat rasch
zu dem ebenfalls hypnotisch wirksamen Metaboliten Trichlorethanol umgewandelt und
teilweise zu Trichloressigsäure metabolisiert. Chloralhydrat kann chromosomale Veränderungen
auslösen (Sora 1987), jedoch konnte im Tierversuch an der Maus keine erhöhte Fehlbildungsrate
nachgewiesen werden. Es gibt nur wenige Daten zur Anwendung in der Schwangerschaft.
Über ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko wurde nicht berichtet (Heinonen 1977).
Empfehlung für die Praxis:
Chloralhydrat ist in der Schwangerschaft zu meiden. Eine dennoch erfolgte Einnahme
im 1. Trimenon rechtfertigt weder einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch
(siehe Kapitel 1.15) noch zusätzliche Diagnostik. Behandlungsbedürftige Schlafstörungen
sollten primär mit sedierenden Antihistaminika oder Benzodiazepinen behandelt werden.
2.11.19
Andere Hypnotika
Pharmakologie und Toxikologie.
Einige Antihistaminika (H1-Blocker) sind gut wirksame Schlafmittel, wie z. B. Diphenhydramin
(z. B. Dolestan®, Emesan®, nervo-OPT®N) und Doxylamin (z.B. Gittalun®, Hoggar® Night,
Sedaplus®). Die Anwendung von H1-Antihistaminika in der Schwangerschaft wird in Abschnitt
2.2.1 dargestellt.
Baldrianprodukte (z. B. Baldrian Dispert®) werden bei Unruhe oder Einschlafstörungen
auch von Schwangeren häufig eingenommen. Systematische Untersuchungen liegen jedoch
nicht vor, allerdings auch keine Hinweise auf Teratogenität beim Menschen.
Clomethiazol (Distraneurin®), Melperon (Eunerpan®), Promethazin (z. B. Atosil®) und
Scopolamin-HBr (Scopoderm TTS® Membranpflaster) haben als Hypnotika keine Relevanz.
Clomethiazol (Distraneurin®) wird bei akuten Entzugserscheinugen nach chronischem
Alkoholabusus eingesetzt.
Tryptophan ist eine Aminosäure, die bei Schlafstörungen gegeben wurde. Bei chronischem
Gebrauch während der Schwangerschaft wurde beim Fetus eine Zunahme der Atembewegungen
registriert.
Empfehlung für die Praxis:
Die hier genannten Arzneimittel sollten, mit Ausnahme von Baldrian und Diphenhydramin
(siehe Abschnitt 2.21), während der Schwangerschaft nicht als Hypnotika verordnet
werden. Eine dennoch erfolgte Einnahme dieser Präparate rechtfertigt keinen risikobegründeten
Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel 1.15).
2.11.20
Psychoanaleptika
Pharmakologie und Toxikologie.
Psychoanaleptika sind Psychostimulan-zien, die die Aktivität bestimmter Abschnitte
des Zentralnervensystems steigern. Sie wirken weder depressionslösend noch stimmungsaufhel-lend.
Zu den Analeptika im weiteren Sinne gehören die Methylxan-thine Coffein und Theobromin
(siehe auch Kapitel 2.21).
Die am häufigsten verwendeten Analeptika sind Derivate des Phe-nylethylamins. Der
Prototyp dieser Substanzgruppe ist das Amphet-amin (siehe Kapitel 2.21.5). Die so
genannten „Weckamine” sind den Sympathomimetika verwandt, steigern bei Ermüdung die
Leistungsfähigkeit und können zur Abhängigkeit führen. Zu dieser Substanzgruppe gehören
Amfetaminil (AN 1®), Fenetyllin (Captagon®) und Methylphenidat (Ritalin®).
Auch Modafinil (Vigil), bei Narkolepsie eingesetzt, und Pemolin (Tradon®), ein Oxazolidin,
das z.B. bei Aufmerksamkeitsdefizit verwendet wurde, gehören zu den Psychostimulanzien.
Methylphenidat hat bei etwa 50 Schwangerschaften, davon über ein Dutzend im 1. Trimenon
exponiert, keine eindeutigen Hinweise auf Teratogenität ergeben (Übersicht in Golub
2005, DeBooy 1993, eigene Beobachtungen). Allerdings reichen die beiden publizierten
Fallserien aufgrund ihres geringen Umfangs und z. T. erheblicher zusätzlicher Risikofaktoren
bei den ausgewerteten Schwangerschaften für eine differenzierte Bewertung nicht aus.
Soweit untersucht, ergaben tierexperimentelle Studien keine Hinweise auf Teratogenität.
Beim Menschen wurde über Frühgeburtlichkeit, intrauterine Wachstumsretardierung und
Entzugssymptome berichtet. Einerseits wird Missbrauch mit dem Medikament betrieben,
zum anderen wird es in jüngerer Vergangenheit zunehmend bis ins Erwachsenenalter wegen
Aufmerksamkeitsdefizit und hyperkinetischem Verhalten gegeben und führt dann zufällig
zu einer Exposition während der Schwangerschaft.
Zu Amfetaminil, Fenetyllin, Modafinil und Pemolin gibt es keine für eine Risikobeurteilung
ausreichenden Daten zur Anwendung während der Schwangerschaft. Hinweise auf Teratogenität
im Tierversuch liegen nicht vor.
Empfehlung für die Praxis:
Die genannten Psychoanaleptika sind in der Schwangerschaft zu meiden. Eine dennoch
erfolgte Exposition im 1. Trimenon rechtfertigt weder einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch
(siehe Kapitel 1.15) noch invasive Diagnostik.
2.11.21
Parkinsonmittel
Pharmakologie und Toxikologie.
Das Parkinsonsyndrom tritt vorwiegend bei älteren Patienten auf. In der Schwangerschaft
spielt die Therapie kaum eine Rolle mit Ausnahme der Behandlung des juvenilen Parkinsonismus
und bei Restless-legs-Syndrom. Die vorliegenden Fallberichte zu L-Dopa/Benserazid
(z. B. in Levopar®) in etwa 15 durchgehend behandelten Schwangerschaften deuten nicht
auf Störungen der vorgeburtlichen Entwicklung hin (Arai 1997, Nomoto 1997, von Graevenitz
1996).
Die ebenfalls als Parkinsonmittel verwendeten dopaminagonistisch wirkenden Ergotaminabkömmlinge
Bromocriptin (z. B. Pravidel®), Ca-bergolin (z.B. Cabaseril®), a-Dihydroergocryptin
(Almirid®), Lisurid (z.B. Dopergin®) und Pergolid (z.B. Parkotil) werden bei Frauen
im reproduktionsfähigen Alter auch bei Prolaktinomen und daraus resultierenden Fertilitätsstörungen
eingesetzt (siehe Kapitel 2.15).
Weitere Parkinsonmittel, die z.T. zur Behandlung der durch klassische Neuroleptika
induzierten extrapyramidalen Symptome verwendet werden, sind das Virustatikum Amantadin
(z.B. Adekin®; siehe Kapitel 2.6), Biperiden (z.B. Akineton®), Benzatropin, Bornaprin
(Sormodren®), Budipin (Parkinsan®), Metixen (z.B. Tremarit®), Pramipexol (Sifrol®),
Pridinol (Myoson®), Procyclidin (Osnervan®), Ropinirol (Requip®), Tiaprid (Tiapridex®)
und Trihexyphenidyl (z.B. Artane®) sowie die Monoamminoxidase-B-(MAO-B-) Hemmstoffe
Se-legilin (z.B. Antiparkin®) und Rasagilin (Azilect®).
Mit Ausnahme der älteren Ergotaminabkömmlinge liegen zu den meisten dieser Mittel
keine ausreichenden Erfahrungen in der Schwangerschaft vor. Hinweise auf ein erhebliches
teratogenes Potenzial beim Menschen sind bisher nicht erkennbar.
Empfehlung für die Praxis:
In gut begründeten Einzelfällen ist die Behandlung mit Parkinsonmitteln auch im 1.
Trimenon akzeptabel, z. B. bei Therapie eines Prolaktinoms mit Ergotaminderivaten
oder von extrapyramidalen Nebenwirkungen einer Neuroleptika-Therapie mit Biperiden.
Bei Restless-legs-Symptomen sollten möglichst andere Therapieoptionen genutzt werden.
Keines der hier erörterten Mittel rechtfertigt, wenn es im 1. Trimenon eingenommen
wurde, einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel 1.15). Eine
Ultraschallfeindiagnostik sollte jedoch angeboten werden, wenn eines der unzureichend
untersuchten Produkte im 1. Trimenon eingenommen wurde.
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2.12
Immunmodulatoren und Therapie rheumatischer Erkrankungen
2.12.1
Immunmodulatoren allgemein
Immunmodulatoren umfassen Immunsuppressiva und Immunstimulanzien. Man unterscheidet
▪
chemisch definierte Immunsuppressiva: Azathioprin, Ciclosporin A, Mycophenolatmofetil,
Tacrolimus, Sirolimus, Everolimus
▪
Immunsuppressiva aus der Gruppe der monoklonalen Antikörper: Basiliximab, Daclizumab,
Infliximab, Muromonab-CD3, Palivi-zumab.
▪
Tumor-Nekrose-Faktor-(TNF-)α-Antikörper: Adalimumab, Etanercept, Infliximab.
Auch Corticosteroide sind zu den Immunsuppressiva zu rechnen (siehe Kapitel 2.15).
Zu den Immunstimulanzien gehören Interferone, Kolonie-stimulierende Faktoren (CSF)
und Glatiramer.
Klinische Erfahrungen liegen vor allem zu Schwangerschaften nach Nieren- und Lebertransplantation
und zur Langzeittherapie mit Azathioprin, Ciclosporin und Tacrolimus in Kombination
mit einem niedrig dosierten Glucocorticoid (Prednisolon) vor. Insbesondere dann, wenn
keine Abstoßungsreaktion auftritt und die Transplantation mindestens 1–2 Jahre zurückliegt,
ist die Prognose für eine Schwangerschaft gut. Zwar wird häufiger per Sectio entbunden,
und es kommt vermehrt zu Frühgeburten und zu intrauteriner Wachstumsretardierung (small
for gestational age) sowie zur passageren Nierenfunktionsstörung beim Neugeborenen.
Ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko oder bleibende Funktionsdefizite sind aber aufgrund
der vorliegenden Erfahrungen nicht zu erwarten. Bei einem Vergleich von Schwangerschaften
organtransplantierter Frauen einige Jahre vor und nach Transplantation zeigte sich,
dass verschiedene Befunde in beiden Gruppen ähnlich häufig auftraten. Das betrifft
die Rate an Präeklampsie (22%), an Frühgeburten (46 %), niedrigerem Geburtsgewicht
(41 %), small for gestational age (16%) und die Säuglingssterblichkeit (5%). Eine
erhöhte Fehlbildungsrate wurde in keiner der beiden Gruppen festgestellt (Källén 2005).
Diese Studie legt nahe, dass die geschilderten Komplikationen in erster Linie durch
die Schwere der mütterlichen Erkrankung verursacht werden und nicht durch die Transplantation
oder die immunsuppres-sive Therapie. Die Abortrate war in dem Kollektiv vor Transplantation
höher als danach.
Zur antirheumatischen Therapie siehe Kapitel 2.12.7.
2.12.2
Azathioprin
Azathioprin (AZA) (z.B. Imurek®) ist ein zur Immunsuppression genutzter Antimetabolit,
der zu mehr als 80 % zu 6-Mercaptopurin (6-MP) metabolisiert wird. Von AZA werden
nach oraler Gabe ca. 47 % resorbiert, während es bei 6-MP durchschnittlich nur 16%
sind (Polifka 2002). Von vielen Autoren wird das Risiko für beide Substanzen bei immunsuppressiven
Dosierungen als vergleichbar angesehen.
AZA wirkt in Bakterientestsystemen mutagen und im Tierexperiment teratogen. Annähernd
40 Studien bzw. Fallserien mit insgesamt mehr als 1.000 Schwangeren sowie weitere
Fallberichte zu 120 Schwangerschaften lassen kein nennenswert erhöhtes Fehlbildungsrisiko
erkennen (Berkovitch 2005, Moskovitz 2004, Armenti 2003, Francella 2003, Polifka 2002).
Nur Nørgård (2003) fand anhand der Daten aus dem dänischen Geburtsregister bei einer
Fallzahl von nur 10 Frauen eine signifikante Erhöhung an grobstrukturellen Fehlbildungen,
perina-taler Sterblichkeit und Frühgeburtlichkeit.
Wie andere zytotoxische Substanzen vermag AZA das intrauterine Wachstum zu hemmen,
so dass verschiedentlich ein erniedrigtes Geburtsgewicht beobachtet wurde. Dies kann
allerdings auch Folge der Grunderkrankung oder der häufig gleichzeitig erfolgten Glucocortico-idtherapie
sein. Eine Leukopenie der Mutter am Ende der Schwangerschaft kann auf eine neonatale
Hämatopoesehemmung und Immun-suppression hinweisen (Davison 1985).
Bei 23 Kindern mit intrauteriner Exposition mit Ciclosporin oder AZA wurden später
Intelligenztests durchgeführt und mit einer Kontrollgruppe von 18 Kindern verglichen.
Dabei zeigten sich diskret schlechtere Ergebnisse bei bestimmten kognitiven Leistungen,
nicht aber beim verbalen IQ, sowie beim Sprach- und Hörverständnis (Nulman 2004).
Die Ergebnisse dieser Studie sind angesichts der geringen Fallzahl als vorläufig zu
bewerten.
Nach bisher vorliegenden Erkenntnissen scheint eine Therapie des Vaters mit AZA bzw.
6-MP zum Zeitpunkt der Konzeption keine negativen Folgen für die intrauterine Entwicklung
zu haben (siehe Kapitel 1).
Empfehlung für die Praxis:
Bei der Immunsuppression mit Azathioprin ist ein nennenswertes teratogenes Potenzial
beim Menschen bisher nicht erkennbar. Ein hoch auflösender Ultraschall sollte zur
Bestätigung der normalen Entwicklung des Fetus angeboten werden. Bei einer Leukopenie
der Mutter im 3.Trime-non sollte zur Vermeidung einer Hämatopoesehemmung und Immunsuppression
beim Neugeborenen versucht werden, die Dosis zu verringern.
2.12.3
Ciclosporin A
Ciclosporin A (z. B. Sandimmun®) wird schon lange bei Organtransplantationen eingesetzt
und seltener bei immunologischen Erkrankungen. Im Tierversuch wirken hohe Dosen teilweise
fetotoxisch. Terato-gene Schäden traten hingegen nicht auf.
In einer Vielzahl von Studien mit mehr als 1.000 schwangeren organ-transplantierten
Frauen wurde kein teratogenes Risiko festgestellt (Armenti 2003, Bar-Oz 2001, Lamarque
1997).
Intrauterine Wachstumsverzögerung und eine erhöhte Rate an Frühgeburtlichkeit wurden
beschrieben, jedoch sind diese Befunde wahrscheinlich durch die mütterliche Grunderkrankung
bedingt.
Bei sechs im ersten Lebensjahr untersuchten Kindern fanden sich Veränderungen bei
den B- und T-Lymphozyten sowie den Natural-Kil-ler-Zell-Funktionen (NK), die aber
offenbar klinisch nicht relevant waren (DiPaolo 2000). In zwei anderen Untersuchungen
zeigte sich keine veränderte Immunreaktion bei Kindern bis zum Alter von 2 Jahren
(Baarsma 1993) bzw. bis zum Alter von 5 Jahren (Rieder 1997). Weder die Untersuchung
von Rieder (1997) an 14 Kindern, noch eine andere von Nulman (2004) an 20 Kindern
erbrachte Hinweise auf neurologische Störungen bzw. auf Einschränkungen der intellektuellen
Entwicklung. Ein einzelner Fallbericht beschreibt ein 2-jähriges Kind mit Hepatoblastom
nach mütterlicher Behandlung mit Ciclosporin während der gesamten Schwangerschaft
(Roll 1997).
Empfehlung für die Praxis:
Bei der Immunsuppression mit Ciclosporin A ist ein nennenswertes teratogenes Potenzial
beim Menschen bisher nicht erkennbar. Ein hoch auflösender Ultraschall sollte zur
Bestätigung der normalen Entwicklung des Fetus angeboten werden.
2.12.4
Selektive Immunsuppressiva
Tacrolimus (Prograf®) ist ein Makrolid aus Streptomyces, das zunehmend als Immunsuppressivum
bei Organtransplantationen und auch lokal bei Hauterkrankungen eingesetzt wird (siehe
Kapitel 2.17). Folgende Vor- und Nachteile werden im Vergleich mit Ciclosporin bei
Schwangeren diskutiert: Unter Tacrolimus kommt es seltener zu Abstoßungsreaktionen
und zur Hypertonie. Die benötigte Prednisondosis ist geringer. Jedoch tritt ein Gestationsdiabetes
häufiger auf und es kommt vermehrt zur vorübergehenden Hyperkaliämie und Einschränkung
der Nierenfunktion bei Neugeborenen. Eine 36 Stunden anhaltende Anurie war der gravierendste
Befund (Jain 1997). Wie bei anderen Immunsuppressiva wurde ein vermehrtes Auftreten
von Präeklampsie, Frühgeburten, geringerem Geburtsgewicht und Schnittentbindungen
beobachtet.
Die Erfahrungen in der Schwangerschaft beruhen auf retrospektiven Fallberichten, Fallserien
(Jain 2004, Rayes 1998), einer kleinen pro-spektiven Studie (Jain 2003) und auf der
1991 von Arzneimittelherstellern eingerichteten „National Transplantation Registry”
(Armenti 2003). Etwa 200 Schwangerschaften sind unter Tacrolimus dokumentiert, das
in der Regel zusammen mit Prednison, aber auch mit anderen Immunsuppressiva gegeben
wird. Ein nennenswertes teratogenes Risiko konnte bisher nicht festgestellt werden.
Die oben erwähnten Schwangerschaftskomplikationen und vorübergehenden Nebenwirkungen
beim Neugeborenen wurden von den meisten Autoren beobachtet.
In der prospektiven Studie von Jain (2003) wurden 49 Kinder von 37 lebertransplantierten
Müttern analysiert. Zwei Frühgeborene und ein Kind mit multiplen Fehlbildungen verstarben,
außerdem hatte ein Neugeborenes unilateral eine nicht funktionierende, zystische Niere.
In einer retrospektiven Analyse von 100 Schwangerschaften mit 68
Lebendgeborenen fanden sich vier Kinder mit verschiedenen Fehlbildungen (Kainz 2000).
In einem retrospektiven Fallbericht findet sich ein frühgeborenes Zwillingspaar mit
Cardiomyopathie, an der eines der beiden Kinder verstarb (Vyas 1999). Nagy (2003)
berichtet über 9 u.a. mit Tacrolimus exponierten Schwangerschaften, darunter sind
zwei Kinder mit einem kleinen Ventrikelseptumdefekt. Hypoplastische Nägel und beidseits
kurze fünfte Finger wurden bei einem sonst gesunden Frühgeborenen nach immunsuppressiver
Kombinationstherapie mit Tacrolimus und MMF (siehe unten) beschrieben (Pergola 2001).
Das Makrolid Sirolimus (Rapamune®) verhindert die T-Zellprolifera-tion. Erfahrungen
zur Anwendung in der Schwangerschaft erstrecken sich auf wenige Fallberichte (Armenti
2003). Zu Everolimus (Certi-can®) liegen bisher keine Berichte vor. Pimecrolimus gibt
es nur zur lokalen Anwendung (siehe Kapitel 2.17).
Mycophenolatmofetil (MMF; CellCept®) hat tierexperimentell tera-togene Eigenschaften.
Fallbeobachtungen zur Anwendung beim Menschen umfassen einen Fetus mit multiplen Fehlbildungen,
dessen Mutter im 1. Trimenon mit MMF, Tacrolimus und Prednison behandelt worden war
(Le Ray 2004). Hypoplastische Nägel und beidseits kurze fünfte Finger wurden bei einem
sonst gesunden Frühgeborenen nach immunsuppressiver Kombinationstherapie mit MMF und
Tacrolimus beschrieben (Pergola 2001). Ferner wird in der einleitend zu diesem Kapitel
erwähnten schwedischen Studie ein Kind mit Ösophagusatre-sie, Fehlbildung des Herzens
und der Iris beschrieben, dessen Mutter lebertransplantiert war (Källén 2005). Demgegenüber
deuten ungefähr 20 weitere Fallberichte bisher nicht auf teratogene Effekte hin (Armenti
2003).
Empfehlung für die Praxis:
Bei der Immunsuppression mit Tacrolimus ist ein nennenswertes teratogenes Potenzial
beim Menschen bisher nicht erkennbar. Allerdings sind bei Neugeborenen, die bis zum
Ende der Schwangerschaft exponiert waren, Nierenfunktionsstörungen und Hyperkaliämie
beschrieben. Ein Gestationsdiabetes tritt häufiger auf. Sirolimus, Everolimus und
Mycophenolat-mofetil sind unzureichend untersucht. Bisher gibt es keine Hinweise auf
erhebliche Teratogenität. Bei all diesen Substanzen sollte ein hoch auflösender Ultraschall
zur Bestätigung einer normalen Entwicklung des Fetus angeboten werden. Bei organtransplantierten
Schwangeren, die stabil auf ein selektives Immunsup-pressivums eingestellt sind, handelt
es sich um eine Risiko-Nutzen-Abwägung, ob die Medikation umgestellt werden kann bzw.
soll. Bei Behandlung im 2./3. Trimenon mit Tacrolimus, Everolimus oder Sirolimus sollten
nach der Geburt Kalium und Kreatinin beim Kind bestimmt werden.
2.12.5
Monoklonale Antikörper (Biologica)
Infliximab (Remicade®) ist ein monoklonaler chimärer (Maus-Mensch) Antikörper, der
Tumor-Nekrose-Faktor-α (TNF-α) neutralisiert und bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen,
besonders bei Morbus Crohn, eingesetzt wird sowie bei rheumatoider Arthritis. Die
US-amerikanische Food and Drug Administration (FDA) gibt ein im Vergleich zur Normalpopulation
3fach häufigeres Auftreten von Lymphomen nach Infliximab-Therapie an.
Die bisherigen Erfahrungen mit ungefähr 60 mehrheitlich wegen Morbus Crohn behandelten
Schwangeren wurden retrospektiv, z.B. aus Krankenakten, gewonnen (z.B. Mahadevan 2005,
Katz 2004). Sie lassen kein teratogenes Risiko erkennen.
Aus Berichten über 10 Schwangerschaften mit Anwendung von Eta-nercept (Enbrel®), davon
einmal bis zur 32. Schwangerschaftswoche, lässt sich kein teratogenes Risiko erkennen
(Chakravarty 2003, Wallace 2003, Sills 2001). Die 5 von uns prospektiv erfassten Schwangerschaften
mit Exposition im 1. Trimenon erbrachten zwei gesunde Kinder, einen Spontanabort und
zwei Schwangerschaftsabbrüche aus persönlichen Gründen.
Zu den monoklonalen Antikörpern Adalimumab (Humira®), Basili-ximab, (Simulect®), Daclizumab
(Zenapax®), Efalizumab (Raptiva®), Muromonab-CD3 (Orthoclone®OKT3), Palivizumab (Synagis®)
liegen keine ausreichenden Erfahrungen in der Schwangerschaft vor.
Weitere monoklonale Antikörper siehe Kapitel 2.13.
Empfehlung für die Praxis:
Monoklonale Antikörper sollten in der Schwangerschaft nicht eingesetzt werden. Eine
versehentliche Therapie in die Schwangerschaft hinein begründet weder einen risikobegründeten
Abbruch der Schwangerschaft noch zusätzliche invasive Diagnostik (siehe Kapitel 1.15).
Ein hoch auflösender Ultraschall zur Bestätigung der normalen Entwicklung des Fetus
sollte angeboten werden.
2.12.6
Interferone
Interferone sind natürlich vorkommende proteinartige Makromoleküle mit antiviraler
Aktivität. Man findet sie in allen Geweben und auch schon beim Embryo und Fetus. Vier
Klassen werden unterschieden: die Interferone α, β, γ und τ. Interferon-α ist wichtig
zum physiologischen Erhalt der Schwangerschaft. Interferon-α und -γ sind für die Funktion
des Ovars von Bedeutung. Die Rolle der Interferone bei Zellwachstum und -differenzierung
ist nicht abschließend geklärt. Die meisten der heute auf dem Markt befindlichen Interferone
werden gentechnisch hergestellt.
Interferon-α-Arzneimittel werden therapeutisch bei chronisch aktiver Hepatitis B und
C sowie bei chronisch myeloischer Leukämie, Haarzell-Leukämie und anderen Malignomen
eingesetzt. Hierzu zählen Interferon alfa-2a (Roferon®), Interferon alfa-2b (Intron
A®), Interferon alfacon-1 (Inferax®) sowie Peginterferon alfa-2a (Pegasys) und Peginterferon
alfa-2b (PegIntron®). Auch bei essentieller Throm-bozythämie werden Interferon-α-Arzneimittel
verabreicht. Interferon-α ist nicht plazentagängig. Zahlreiche Fallberichte haben
bisher keine Hinweise auf spezifische Schädigungen der vorgeburtlichen Entwicklung
erbracht (Übersicht bei Briggs 2005). Eine 15-jährige Schwangere, die durchgängig
wegen Thrombozythämie Interferon alfa-2a erhielt, brachte ein gesundes, wachstumsretardiertes
weibliches Frühgeborenes zur Welt. Mutter und Kind zeigten klinische und laborchemische
Cha-rakteristika eines (neonatalen) Lupus-Syndroms (Fritz 2005).
Interferon beta human (Fiblaferon) ist für schwer verlaufende Viruserkrankungen zugelassen,
Interferon beta-1 a (AVONEX™, Rebif®) und Interferon beta-lb (Betaferon®) bei multipler
Sklerose. Boskovic (2005) führte eine kleine prospektive Studie mit 23 an multipler
Sklerose erkrankten Schwangeren durch, die β-Interferon erhielten und verglich sie
mit zwei Kontrollgruppen, eine umfasste unbehan-delte Schwangere mit multipler Sklerose
und eine weitere gesunde Schwangere. In der behandelten Gruppe war die Spontanabort-
und Totgeburtenrate erhöht. In unserer Datenbank gibt es unter 27 mit Interferon beta-1a
exponierten Schwangeren zwei Spontanaborte und fünf Schwangerschaftsabbrüche aus persönlichen
Gründen. Unter 20 Lebendgeborenen befand sich ein Kind mit einer schweren Hüftdysplasie.
Von 10 mit Interferon beta-1b exponierten Schwangerschaften endeten 3 in einem Spontanabort,
zwei wurden aus persönlichen Gründen abgebrochen und die fünf lebend geborenen Kinder
waren gesund. Es ist zurzeit ungeklärt, ob β-Interferone ursächlich zu einer höheren
Abortrate führen.
Interferon gamma-1b (Imukin®) wird zur Verhinderung schwerwiegender Infektionen bei
septischer Granulomatose eingesetzt.
Generell kann eine Interferontherapie zu verschiedenen Nebenwirkungen, wie z.B. Fieber
führen. Dies kann wiederum entwicklungstoxische Auswirkungen auf den Embryo bzw. Fetus
haben (siehe Kapitel 2.6). Für eine differenzierte Risikobewertung reichen die bisherigen
Erfahrungen nicht aus, ein erhebliches teratogenes Risiko erscheint jedoch unwahrscheinlich.
Empfehlung für die Praxis:
Interferone dürfen in der Schwangerschaft gegeben werden, wenn besser erprobte Medikamente
keine vergleichbare Wirksamkeit versprechen. Ein hoch auflösender Ultraschall zur
Bestätigung der normalen Entwicklung des Fetus sollte angeboten werden.
2.12.7
Antirheumatische Therapie und Morbus Wilson
Die pharmakologische Basistherapie rheumatischer Erkrankungen besteht aus krankheitsmodifizierenden
Antirheumatika, so genannten „Disease modyfying antirheumatic drugs” (DMARD): Dazu
gehören Methotrexat (siehe 2.13.10), Sulfasalazin (siehe 2.6.7), Chloroquin sowie
Hydroxychloroquin, Leflunomid, Goldpräparate und D-Peni-cillamin. Ciclosporin (siehe
2.12.3) und Azathioprin (2.12.2.) kommen auch zum Einsatz. Nichtsteroidale Antirheumatika
(2.1.11), Cox-2-Inhibitoren (siehe 2.1.12) und Corticosteroide (siehe 2.15.9) sind
Phasen gesteigerter Aktivität vorbehalten. So genannte Biologica (siehe 2.12.5) wie
Adalimumab, Etanercept und Infliximab werden bei der rheumatoiden Arthritis erst nach
Ausschöpfen von zwei DMARDs eingesetzt. Auch Anakinra wird üblicherweise erst bei
unzureichendem Therapieerfolg von Methotrexat zusammen mit diesem eingesetzt. Neu
ist Abatacept.
Hydroxychloroquin und Chloroquin
Hydroxychloroquin (z.B. Quensyl®) und Chloroquin (z.B. Resochin®) werden z.B. bei
der rheumatoiden Arthritis und beim systemischen Lupus erythematodes gegeben. Zur
Malariaprophylaxe mit Chloroquin siehe Kapitel 2.6
In Dosierungen, wie sie zur Therapie chronisch-entzündlicher Prozesse erforderlich
sind, können Hydroxychloroquin und Chloroquin möglicherweise abortiv wirken. Im Tierversuch
reicherte sich Chloroquin in der fetalen Retina und im ZNS an. Immer wieder wird der
Fall einer Mutter mit Lupus erythematodes zitiert, die unter Dauertherapie mit Chloroquin
drei geschädigte und ein gesundes Kind zur Welt brachte. Bei zwei dieser Kinder wurde
eine Cochleovestibularisparese diagnostiziert und bei einem Kind wurde im Alter von
5 Jahren ein Wilms-Tumor festgestellt (Hart 1964). Dokumentierte Erfahrungen zu etwa
300 Schwangeren konnten jedoch kein spezifisches Risiko belegen:
Bei 21 Kindern von 15 Müttern, die in der Schwangerschaft wegen Lupus erythematodes
oder rheumatoider Arthritis durchschnittlich 7 Monate hoch dosiert mit Hydroxychloroquin
oder Chloroquin behandelt wurden, waren im mittleren Alter von 3 Jahren keine ophthalmolo-gischen
Auffälligkeiten nachweisbar (Klinger 2001). Motta (2005) konnte dies bei der Untersuchung
weiterer 24 in Schwangerschaft und Stillzeit Hydroxychloroquin exponierter Kinder
bestätigen.
Andere kleinere Untersuchungen an insgesamt mehr als 100 erkrankten Schwangeren mit
systemischem Lupus erythematodes (SLE) oder rheumatoider Arthritis geben keine Hinweise
auf ein teratogenes Potenzial (Motta 2005, Buchanan 1996, Parke 1996, Levy 1991).
Eine größere prospektive Studie mit 133 Schwangeren konnte im Alter von durchschnittlich
2 Jahren bei den 117 Lebendgeborenen weder visuelle, akustische noch Wachstums- oder
sonstige Entwicklungsdefizite finden (Costedoat-Chalumeu 2003). Einige Autoren empfehlen
ausdrücklich eine Fortsetzung der Therapie beim Lupus erythematodes während der gesamten
Schwangerschaft, weil sie ein größeres Risiko in einer sonst eher möglichen Exazerbation
der Erkrankung sehen (Costedoat-Chalumeu 2005, Khamashta 1997).
D-Penicillamin
D-Penicillamin (z.B. Metalcaptase®, Trolovol®) findet bei rheumato-ider Arthritis
heute kaum noch Anwendung. Es wirkt aufgrund seiner Struktur als Chelatbildner und
wird deshalb als Antidot bei Vergiftungen mit Metallen und auch zur Therapie der Kupfer-Speicherkrankheit
Morbus Wilson eingesetzt. Außerdem hat Penicillamin antiphlogisti-sche Eigenschaften.
Im Zusammenhang mit einer pränatalen Exposition bei mütterlicher Zystinurie, bei chronischer
Polyarthritis und bei Morbus Wilson werden sechs Fälle mit angeborener Cutis laxa,
zum Teil mit Inguinalhernien und mit weiteren sehr unterschiedlichen und schweren
Fehlbildungen in der Literatur beschrieben (Pinter 2004, Rosa 1986); diesen stehen
mehr als 100 publizierte unauffällige Verläufe gegenüber (Sinha 2004, Tarnacka 2000,
Messner 1998, Schaefer 1994, Dupont 1991). Ob die in einigen Fällen reversiblen Störungen
der Bindegewebsentwicklung durch Penicillamin bedingt sind, kann nicht eindeutig beantwortet
werden. Manche beschriebenen Fehlbildungen, wie z.B. eine Lippen-Gaumen-Spalte, wurde
auch im Tierversuch unter hohen Dosen bei Mäusen beobachtet (Martinez-Frias 1998).
Ein durch den Chelatbildner Penicillamin verursachter Kupfermangel ist als Ursache
für teratogene Effekte unwahrscheinlich, da bei Behandlung des Morbus Wilson die neonatale
Kupferkonzentration nicht erniedrigt ist. Auch ein Zinkmangel wurde als Ursache diskutiert.
Bisherige Erfahrungen zusammenfassend besteht beim Menschen, wenn überhaupt, nur ein
geringes teratogenes Risiko.
Da Penicillamin die Wirkungen von Pyridoxin antagonisieren kann, sollten zusätzlich
täglich 25 mg Pyridoxin (Vitamin B6) verabreicht werden (Schmidt 2003).
Trientin
Trientin wird ebenfalls bei Morbus Wilson eingesetzt. Bei 13 während der (gesamten)
Schwangerschaft behandelten Frauen fanden sich keine Hinweise auf spezifische Auffälligkeiten
im Schwangerschaftsverlauf und bei den Neugeborenen (eigene Beobachtungen, Überblick
in Devesa 1995). Da als Nebenwirkung der Behandlung häufig eine Eisen mangelanämie
beobachtet wurde, wird eine therapiebegleitende Eisen-supplementierung empfohlen (Schmidt
2003).
Goldverbindungen
Auranofin (Ridaura®), Halbwertszeit 70–80 Tage, und Natriumauro-thiomalat (Tauredon®),
Halbwertszeit 225–250 Tage, sind alte Basis-therapeutika und wurden zur Langzeittherapie
chronischer Entzündungsprozesse genutzt, wie z.B. auch bei rheumatoider Arthritis.
Beim Menschen konnte, im Gegensatz zum Tierexperiment, kein nennenswertes teratogenes
Potenzial entdeckt werden. Der diaplazentare Übergang von Goldverbindungen in die
fetale Leber und Niere ist erwiesen. Kasuistiken und Fallsammlungen, u.a. von 119
im 1. Trimenon wegen Asthma bronchiale (in Japan) mit Gold behandelten Schwangeren,
zeigten keine Häufung spezieller Organentwicklungsstörungen (Übersicht in Briggs 2005).
Leflunomid
Leflunomid (Arava®), ein Pyrimidinsynthesehemmstoff, war im Tierversuch bei Serumkonzentrationen
teratogen, die den therapeutischen Werten beim Menschen entsprechen. Auffällig waren
Anophthalmie bzw. Mikrophthalmie und Hydrozephalus. Allerdings zeigten sich gleichzeitig
toxische Effekte bei den Muttertieren, so dass der terato-gene Charakter der Schädigung
kontrovers diskutiert wird. Die Halbwertszeit von Leflunomid beträgt 2 Wochen und
länger. Ausreichende Erfahrungen beim Menschen liegen nicht vor (Brent 2001). Der
Autor diskutiert eine mehrtägige Behandlung mit 3 × 8 g Colestyramin zur Verkürzung
der Eliminationshalbwertszeit auf etwa 1 Tag, wenn der empfohlene zeitliche Abstand
zu einer Schwangerschaft nicht eingehalten werden kann. Bei der Planung einer Schwangerschaft
wird ein therapiefreies Intervall von ca. 1 Monat vor Konzeption empfohlen.
Bisher gibt es keine Fallberichte, die einen teratogenen Effekt beim Menschen belegen.
Von 6 publizierten Schwangerschaftverläufen wurden 2 abgebrochen, eine endete als
Spontanabort und 3 mit der Geburt eines frühgeborenen und zweier reifgeborener Kinder
ohne Fehlbildungen (Chakravarty 2003). Wir beobachteten 2 gesunde Kinder nach mütterlicher
Leflunomidexposition 4 Wochen vor Konzeption und 4 weitere gesunde Kinder nach Behandlung
im 1. Trimenon, davon eines nachweislich bis Woche 9.
Anakinra und Abatacept
Zu Anakinra (Kineret®), einem anti-Interleukin-1β-Therapeutikum, und Abatacept (Orencia),
einem selektiven Co-Stimulans-Blocker bei
rheumatoider Arthritis, gibt es bisher keine Erfahrungen in der Schwangerschaft.
Ademetionin, Hyaluronsäure, Oxaceprol und Glucosamin
Zu Ademetionin (Gumbaral®), Hyaluronsäurepräparaten (z.B. Hya-ject®) und Oxaceprol
(AHP 200®) liegen keine systematischen Untersuchungen zum Nutzen und zur Verträglichkeit
in der Schwangerschaft vor.
Bei 34 Schwangeren mit Glucosamin(Dona)-Therapie, das zur Schmerzlinderung bei rheumatoider
Arthritis und Gonarthrose eingesetzt wird, waren keine grobstrukurellen Fehlbildungen
nachweisbar (Sivojelezova 2005). Bei 10 weiteren prospektiv nachverfolgten Schwangerschaften
mit Exposition im 1. Trimenon fanden sich ebenfalls keine Anomalien (eigene Daten).
Empfehlung für die Praxis:
Zur antirheumatischen Basistherapie (DMARD) in der Schwangerschaft kommt als erstes
Sulfasalazin infrage. Azathioprin, Ciclo-sporin, (Hydroxy-)Chloroquin, aber auch Goldpräparate
und D-Penicillamin sind akzeptabel. Methotrexat, Leflunomid, Anakinra und Biologica
sind kontraindiziert. Nichtsteroidale Antirheumatika können bis Woche 30 und Prednison/Pred-nisolon
in der gesamten Schwangerschaft bei Bedarf eingesetzt werden. Soll Penicillamin als
Chelatbildner z.B. bei Morbus Wilson eingesetzt werden, muss die Dosis so niedrig
wie möglich gewählt werden. Eine begleitende Gabe von Kupfer in präventiver Absicht
wird nicht empfohlen, da allenfalls die Penicill-aminwirksamkeit beeinträchtigt würde.
Empfehlenswert ist allerdings eine ergänzende Therapie mit Pyridoxin (Vitamin B6).
Ob der Chelatbildner Trientin eine Alternative für die Morbus-Wilson-Behandlung in
der Schwangerschaft darstellt, kann mangels Erfahrung noch nicht entschieden werden.
Keines der in diesem Abschnitt besprochenen Mittel rechtfertigt nach (versehentlicher)
Anwendung im 1. Trimenon einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel
1.15). Zusätzliche Untersuchungen wie eine Ultraschallfeindiagnostik sollten jedoch
eingeplant werden.
2.12.8
Thalidomid
Thalidomid (ehemals Contergan®) ist seit 1998 in den USA für die Behandlung des Erythema
nodosum leprosum, eines schweren, entzündlichen Verlaufs bei Lepra, unter dem Namen
Thalomid™zugelassen. Im Rahmen des so genannten STEPS-Programms (System for Thalidomide
Education and Prescribing Safety; Übersicht in Neiger 2000) sollen in dieser Form
bisher nicht praktizierte Einschränkungen und Kontrollen bei verordnungsbefugten Ärztinnen
und Patientinnen tera-togene Ereignisse weitgehend ausschließen. Es wird jedoch befürchtet,
dass dieses wirksame Medikament auch (unkontrolliert) bei anderen entzündlichen und
immunologischen Erkrankungen eingesetzt wird, wie bei ulzerierenden HIV-assoziierten
Hauterkrankungen, anderen AIDS-begleitenden Krankheiten, Morbus Behçet, chronischen
Graft-versus-Host-Erkrankungen nach Transplantation, therapierefraktären Arthritiden
etc. (Teratology Society 2000).
Am teratogenen Risiko der Substanz hat sich seit der Rücknahme vom Markt in den frühen
60er Jahren nichts geändert. Laut einer Publikation wurden 34 „Contergan-Kinder” in
Lateinamerika seit 1965 registriert, vorwiegend in solchen Regionen Brasiliens, in
denen Lepra endemisch ist. Dort war das Medikament weiter frei erhältlich. Die Dunkelziffer
geschädigter Kinder liegt wahrscheinlich um ein Vielfaches höher (Castilla 1996).
Wie kürzlich vom teratologischen Zentrum in Porto Allegre berichtet (Schüler, pers.
Mitteilung 2006), ist es keine Ausnahme, dass frühschwangere Frauen in Unkenntnis
des Risikos das Thalidomid eines an Lepra erkrankten Familienmitglieds für andere
Beschwerden einnehmen. Besonders von Analphabetismus betroffene Familien sind mit
Verordnungsprotokollen wie dem oben genannten kaum zu erreichen.
Thalidomid kann neben der bekannten Phokomelie und Amelie (vorwiegend der Arme) auch
weniger ausgeprägte Muskel- und Skelett-Fehlanlagen an den Extremitäten verursachen.
Häufig wurden Daumenanomalien (z.B. Dreigliedrigkeit) beobachtet. Außerdem sind Anomalien
der Ohrmuschel, des Gehörgangs und Mittelohrs mit oder ohne Taubheit möglich. Ferner
treten auf: Hirnnervenparesen (Nervus facia-lis), Fehlbildungen am Herzen und anderen
Organen. Mentale Entwicklungsauffälligkeiten, auch autismusartige Symptome, abnorme
Tränensekretion (Krokodilstränen) oder andere Augenanomalien wie Kolo-bom, Glaukom,
Mikrophthalmie und Ptosis (Miller 1999) sind selten.
Der Schädigungsmechanismus des Thalidomids wird bis heute diskutiert, z.B. über eine
Transkriptionsstörung jener Gene, die die Blutgefäßbildung (Angiogenese) in sich entwickelnden
Organen steuern (Stephens 2000).
Auch die Nachkommen von „Contergan-Patienten” wurden untersucht. Eine Hypothese besagte,
dass diese ebenfalls ein höheres Fehlbildungsrisiko, z.B. aufgrund einer zusätzlichen
mutagenen Wirkung des Thalidomids, haben. Diese Vermutung konnte widerlegt werden
(z.B. Strömland 2002). In einzelnen Fällen lag offenbar eine genetisch definierte,
vererbbare Anomalie mit gleichem Erscheinungsbild vor, die mit „Contergan” verwechselt
wurde. Zum Risiko bei Einnahme des Vaters siehe Kapitel 1.12.
Empfehlung für die Praxis:
Thalidomid ist als das für den Menschen stärkste Teratogen absolut kontraindiziert,
wenn eine Schwangerschaft nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann.
2.12.9
Sonstige Immunmodulatoren
Glatiramer (Copaxone®) wird bei der multiplen Sklerose eingesetzt. Chemisch ist es
ein synthetisches Polypeptid aus vier Aminosäuren. Der Hersteller berichtet, dass
es auch bei einer sehr hohen Dosierung keine Fehlbildungen im Tierversuch bei Ratten
und Kaninchen gegeben habe. Die Erfahrungen beim Menschen beschränken sich auf wenige
unauffällige Fallberichte: Unter 14 Lebendgeborenen fand sich kein Kind mit einer
Fehlbildung (Paulus 2005, Johnson 1995, eigene Daten).
Granulozyten-Kolonien-stimulierende Faktoren wie Lenograstim (Granocyte), Pegfilgrastrim
(Neulasta®) und Nartograstim sind unzureichend untersucht. Diese Substanzen werden
auch physiologisch in Plazenta und Dezidua gebildet und finden sich im Nabelschnurblut.
Ein teratogenes Risiko erscheint deshalb wenig wahrscheinlich.
Zu dem auch als Immunstimulator und als hämatopoetischer Wachstumsfaktor eingesetzten
Zytokin Filgrastim (Neupogen®) liegen Erfahrungen im 2. und 3. Trimenon vor (Sangalli
2001), jedoch nur wenige Einzelfälle im 1. Trimenon. Die meisten Kinder wurden gesund
geboren. Filgrastrim passiert die Plazenta und wird in der Schwangerschaft auch zur
Prophylaxe von neonatalen Infektionen bei Frühgeborenen eingesetzt (Calhoun 1996).
Zu Inosin (Isoprinosine®) liegen keine ausreichenden Erfahrungen vor.
Levamisol wird als Immunmodulator in Kombination mit Fluoroura-cil bei kolorektalen
Karzinomen gegeben oder als Anthelmintikum in der Tiermedizin. Es bestehen Ähnlichkeiten
zu Metronidazol. Bei 11 Schwangeren, davon waren 4 im 1. Trimenon exponiert, gab es
keine Besonderheiten (Kazy 2004).
Empfehlung für die Praxis:
Alle in diesem Abschnitt genannten Substanzen sind unzureichend untersucht. Eine (versehentliche)
Anwendung im 1. Trimenon rechtfertigt weder einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch
noch invasive Diagnostik (siehe Kapitel 1.15). Eine Ultraschallfeindiagnostik sollte
jedoch angeboten werden.
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2.13
Antineoplastische Mittel
2.13.1
Maligne Erkrankungen und Schwangerschaft
In der Praxis ergeben sich zu diesem Thema Fragestellungen zu zwei unterschiedlichen
Aspekten: (1) Hat eine jahrelang zurückliegende Chemo- oder Radiotherapie, die zu
einer Remission oder Heilung geführt hat, Auswirkungen auf eine später entstehende
Schwangerschaft. (2) Welche Konsequenzen erfordert bzw. erlaubt eine in der Schwangerschaft
diagnostizierte maligne Erkrankung.
Nach heutigem Wissensstand führt eine zurückliegende Polychemo-therapie bei einem
Großteil der Exponierten weder zur dauerhaften Infertilität, noch zu einer signifikant
erhöhten Abortrate oder einem geringeren Geburtsgewicht bei den später entstehenden
Schwangerschaften (Falconer 2002). Außer Dauer, Dosis und Art der applizierten Zytostatika
hat das Alter der Frau bei der Chemotherapie einen wichtigen Einfluss auf die spätere
Fertilität (Minton 2002). Eine neuere Arbeit untersuchte die ovarielle Funktion nach
einer intensivierten Therapie bei Non-Hodgkin-Lymphomen mit Cyclophosphamid, Doxorubicin
und Vincristin (Mega-CHOP). Nur eine von 13 Patientinnen, die mit 40 Jahren älteste,
hatte auch noch 70 Monate nach Therapieende eine ovarielle Dysfunktion. Acht Patientinnen
wurden schwanger und bekamen insgesamt 12 Kinder. Sieben Frauen hatten prophylaktisch
monatlich GnRH-Analoga erhalten, darunter nicht die 40-Jährige, jedoch 5 der Frauen,
die später schwanger wurden (Dann 2005).
Eine zurückliegende zytostatische Behandlung stellt auch kein nennenswertes Risiko
für Fehlbildungen dar. Trotz des mutagenen und zytotoxischen Potenzials vieler antineoplastischer
Substanzen sind bisher nicht vermehrt klinisch relevante Chromosomenstörungen oder
Gendefekte beschrieben worden, so dass eine Amniozentese oder Cho-rionzottenbiopsie
nicht routinemäßig durchgeführt werden muss. In einer Untersuchung von etwa 2.300
Schwangerschaften, bei denen der Vater eine Krebsbehandlung hinter sich hatte, war
das Geschlechtsverhältnis der Kinder mit 1,0:1,03 (Kontrollgruppe: 1,24:1,0) zugunsten
der Mädchen verändert (Green 2003).
Auch eine länger zurückliegende Radiotherapie führt i.A. weder beim Mann noch bei
der Frau zu bleibender Infertilität, wenn Ovarien bzw. Testes nicht gezielt bestrahlt
wurden (Stovall 2004), und hat nach heutigem Kenntnisstand keine relevanten Auswirkungen
auf eine spätere Schwangerschaft. In einer Untersuchung war die Wahrscheinlichkeit,
Kinder mit einem Gewicht unter 2.500 g zu gebären etwas höher, wenn früher im Bereich
des Beckens bestrahlt wurde (Green 2002). Boice (2003) untersuchte in einer multizentrischen
Studie mehr als 6.000 Kinder von Eltern, die in ihrer Kindheit mit einer Radiotherapie
behandelt wurden: Bei 46% der Eltern betrug die Gonadendosis mehr als 100 mSv, bei
16% mehr als 1.000 mSv. Es fanden sich keine Hinweise für eine erhebliche Zunahme
genetischer Auffälligkeiten.
Eine maligne Erkrankung während der Schwangerschaft ist mit 0,2–1 pro 1.000 Schwangerschaften
selten. Am häufigsten treten Lymphome, Leukämien, Brustkrebs, Zervix- und Ovarialkarzinome,
Melanome, sowie Schilddrüsen- und Colonkarzinome auf. Es gibt keine substantiellen
Hinweise dafür, dass eine Schwangerschaft per se die Prognose beeinflusst. Dies gilt
auch für das Mammakarzinom (Merlob 2004), das allerdings in der Gravidität häufig
erst in einem späteren Stadium erkannt wird. Abgesehen vom Melanom gibt es keine Fallbeschreibungen
über Metastasierungen der Plazenta oder des Fetus.
Wenn im 1. Trimenon eine maligne Erkrankung diagnostiziert wird, entscheiden sich
viele Paare aufgrund des potenziellen teratogenen Risikos der zu erwartenden Therapie
für einen Abbruch der Schwangerschaft, so dass hierüber die wenigsten Erfahrungen
vorliegen. Die dokumentierten Fälle zeigen jedoch, dass Fehlbildungen keineswegs obligatorisch
auftreten. Eine Polychemotherapie im 2. oder 3. Trimenon kann je nach Substanz und
verabreichter Dosis zu fetaler Wachstumsverzögerung und/oder zur passageren Knochenmarksdepression
mit fetaler Anämie, Leukopenie und Thrombozytopenie führen. Ein intra-uteriner Fruchttod
wurde nur selten beschrieben. Überraschenderweise wird die Chemotherapie vom Fetus
meistens ohne bleibende Schäden toleriert. Bisher konnte auch keine Beeinträchtigung
der intellektuellen Entwicklung festgestellt werden (Nulman 2001). Im 3. Trimenon
wird häufig eine vorzeitige Entbindung diskutiert, um dann „freie Hand” für die Therapie
zu haben und den Fetus nicht weiter mit potenziell toxischen Substanzen zu belasten.
Empfehlung für die Praxis:
Im Allgemeinen wird eine Frist von 2 Jahren bei der Frau und von sechs Monaten beim
Mann nach einer antineoplastischen Therapie empfohlen. Sollte vorher eine Schwangerschaft
eintreten, ist dies kein Grund, eine intakte und gewollte Schwangerschaft abzubrechen.
Eine maligne Erkrankung während einer Schwangerschaft ist selten und erfordert größtmögliche
interdisziplinäre fachärztliche und psychosoziale Unterstützung. Die Entscheidung
eines Paares über eine antineoplastische Therapie in der Schwangerschaft sollte nach
sorgfältiger Aufklärung über die jeweiligen Risiken von ärztlicher Seite mitgetragen
werden. Jede Krebserkrankung in der Schwangerschaft verlangt eine individuelle Beratung
und Behandlung. In der Regel werden neoplastische Erkrankungen heute nach optimierten
Therapieschemata behandelt, die auch in der Schwangerschaft beibehalten werden sollten,
um der Schwangeren bestmögliche Chancen für ihr Überleben zu gewährleisten. Deshalb
werden in diesem Abschnitt im Gegensatz zu den übrigen Kapiteln keine Therapievorschläge
aus embryonaltoxikologischer Perspektive gegeben. Hoch auflösende Ultraschalldiagnostik
sollte diesen Frauen zur Bestätigung einer normalen Entwicklung des Fetus angeboten
werden.
2.13.2
Einteilung der Chemotherapeutika
In der Krebs-Chemotherapie unterscheidet man folgende Arzneimittelgruppen:
Chemische Zytostatika
▪
Alkaloide und Podophyllotoxin-Derivate
–
Vinca-Alkaloide, z. B. Vinblastin, Vincristin
–
Podophyllotoxinderivate, z.B. Etoposid
▪
Alkylanzien
–
Nitroseharnstoff-Alkylanzien
–
Stickstofflost-analoge Alkylanzien und Analoga, z.B. Cyclophos-phamid
–
andere Alkylanzien, z.B. Busulfan
▪
zytotoxische Antibiotika
–
Anthracycline und verwandte Substanzen, z.B. Daunorubicin, Doxorubicin
–
andere zytotoxische Antibiotika, z. B. Bleomycin
▪
Antimetabolite
–
Folsäure-Analoga, z. B. Methotrexat
–
Purin-Analoga, z.B. Mercaptopurin, Tioguanin
–
Pyrimidin-Analoga, z.B. Cytarabin, 5-Fluorouracil
▪
andere Zytostatika, z. B. Docetaxel, Paclitaxel
Andere antineoplastische Mittel
▪
Platinverbindungen, z. B. Carboplatin, Cisplatin
▪
sonstige antineoplastische chemisch definierte Einzelstoffe, z.B. Imatinab, Hydroxycarbamid,
Tretinoin
▪
sonstige antineoplastische Mittel
–
aus Enzymen, z. B. Asparaginase
–
aus Organen: monoklonale Antikörper
Endokrin wirkende antineoplastische Mittel
▪
Hormone, z. B. Medroxyprogesteron
▪
Hormon-Antagonisten, z.B. Tamoxifen
▪
Enzyminhibitoren, z.B. Aminoglutethimid
Pflanzliche Zytostatika, z.B. Mistelpräparate
Da maligne Erkrankungen während der Schwangerschaft glücklicherweise selten auftreten
und die antineoplastische Therapie meistens als Polychemotherapie nach etablierten
Studienprotokollen durchgeführt wird, ist es schwierig, das teratogene Potenzial einzelner
Zytostatika für den Menschen zu bestimmen. Antimetabolite haben nach der Retinsäure
Tretinoin (siehe Kapitel 2.17) offenbar die stärkste teratogene Wirkung.
2.13.3
Vinca-Alkaloide und Analoga
Vinblastin (Vinblastin®) ist ein pflanzliches Alkaloid. Es hemmt ebenso wie das verwandte
Vincristin die Zellteilung durch Angriff an der Mitosespindel. Es liegen mehr als
15 Fallberichte zur Anwendung von Vinblastin im 1. Trimenon vor, meist in Kombination
mit anderen Zytostatika. Die meisten beschreiben unauffällige Verläufe. Es gibt aber
auch Berichte über Kinder mit Fehlbildungen: ein Kind mit Hydrozephalus, das intrauterin
in Woche 3 nur mit Vinblastin exponiert war, ein weiteres mit Lippen-Gaumen-Spalte,
dessen Mutter nach einer Vincristin-therapie bis Woche 6 Vinblastin und andere Zytostatika
von Woche 9 bis zur Entbindung erhalten hatte und ferner ein Spontanabort kurz nach
Vinblastininjektion in Woche 6 (Mulvihill 1987). Beschrieben wird auch der Spontanabort
eines männlichen Fetus in Schwangerschaftswoche 24 mit jeweils nur 4 Zehen und einer
Syndaktylie (Garrett 1974), sowie ein 1.900 g schweres Neugeborenes, das einen Vorhofseptumdefekt
hatte und an einem Atemnotsyndrom starb (Thomas 1976). Die Mütter dieser vier Kinder
hatten Vinblastin im Rahmen einer zytostatischen Kombinationstherapie erhalten. Einige
unauffällige Verläufe sind nach Behandlung mit Vinblastin im 2./3. Trimenon beschrieben.
Es gibt mehr als 20 Fallberichte von unauffälligen Kindern nach einer im 1. Trimenon
erfolgten Therapie mit Vincristin (z.B. cellcristin®; Übersicht in Schardein 2000
und http://www.motherisk.org). Publiziert wurden jedoch auch ein abortierter Fetus
mit Nierenagenesie nach einer Kombinationstherapie (Mennuti 1975), ein 1.900 g schweres
Neugeborenes mit Vorhofseptumdefekt, das an einem Atemnotsyndrom starb und dessen
Mutter mit Vincristin und Vinblastin behandelt worden war (Thomas 1976), ein Kind
mit Gaumenspalte nach Vincristin bis Woche 6, gefolgt von Vinblastin und anderen Zytostatika
(Mulvihill 1987) sowie eine Frau mit einer Kombinationstherapie wegen Morbus Hodg-kin
im 1. Trimenon, deren Kind mit Hydrozephalus vier Stunden nach Geburt verstarb (Zemlicki
1992). Ferner gibt es Berichte zu unauffälligen Schwangerschaften nach Exposition
im 2. und/oder 3. Trimenon, jedoch auch über eine neonatale Panzytopenie (Pizzuto
1980) und intrauterine Wachstumsretardierung.
Drei Kinder, deren Mütter wegen Brustkrebs im 2. bzw. 3. Trimenon mit Vinorelbin (Navelbine®)
plus 5-Fluorouracil behandelt wurden, waren im Alter von 2 bzw. 3 Jahren normal entwickelt
(Cuvier 1997).
Zu Vindesin (Eldisine®) liegen bisher keine Erfahrungen vor.
2.13.4
Podophyllotoxin-Derivate
Zu Etoposid (z.B. Riboposid®) liegen mindestens 13 Fallberichte (Han 2005, Rodriguez
1995, Horbelt 1994, Arango 1994, Brunet 1993) vor, darunter auch 2 mit Exposition
im 1. Trimenon (Aviles 1991), bei denen gesunde Kinder zur Welt kamen. Die weitere
Entwicklung dieser beiden Kinder verlief bis zum Alter von 3 bzw. 8 Jahren normal.
Bei der Exposition im 2./3. Trimenon wurde bei einigen Kindern eine vorübergehende
Panzytopenie beschrieben (Hsu 1995, Murray 1994). Ein Fallbericht schildert, dass
ein Frühgeborenes, dessen Mutter wegen eines Ovartumors neben Bleomycin und Cisplatin
auch 100 mg/m2
Etoposid für 5 Tage in Woche 26/27 erhalten hatte, eine zerebrale Atrophie mit Hirnventrikelvergrößerung
entwickelte (Elit 1999). Ein anderes Frühgeborenes der Schwangerschaftswoche 27, dessen
Mutter eine Polychemotherapie in Woche 26 erhielt, zeigte ab dem 3. Lebenstag eine
schwere Leukopenie und Anämie und verlor ab dem 10. Lebenstag Kopf- und Lanugobehaarung.
Nach 12 Wochen erholte sich das Haarwachstum. Eine Nachuntersuchung nach einem Jahr
zeigte bis auf einen moderaten beidseitigen Hörverlust (sensorineural) eine normale
Entwicklung (Raffles 1989).
Teniposid (VM 26-Bristol®) ist ein semisynthetisches Derivat des Podophyllotoxins.
Es hemmt die Topo-Isomerase, verhindert die DNA-Synthese und die Zelltransformation
in die Prophase. Nur ein Fallbericht zu einem gesunden Neugeborenen liegt vor, bei
dem die Mutter während des 2. Trimenons gleichzeitig mit anderen Chemotherapeutika
behandelt worden war (Lowenthal 1982).
2.13.5
Nitroseharnstoff-Alkylanzien
Die Nitroseharnstoffverbindung Streptozocin, eine antibiotisch-anti-neoplastische
Substanz, wird nur bei metastasierendem Inselzell-Karzi-nom des Pankreas eingesetzt.
Ein Fallbericht beschreibt nach durchgehender Behandlung einen unauffälligen Schwangerschaftsausgang
(Schapira 1984). Der tierexperimentell beobachtete diabetogene Effekt ist beim Menschen
offenbar nicht relevant.
Zu Carmustin (BCNU; Carmubris®), Fotemustin, Lomustin (CCNU; Cecenu®), Nimustin (ACNU®)
und Semustine (Methyl-CCNU) liegen keine Informationen vor.
2.13.6
Stickstofflost-analoge Alkylanzien
Chlorambucil (Leukeran®) blockiert die DNA-Replikation. Es gibt drei Berichte über
Schwangerschaftsabbrüche nach Exposition im 1. Trime-non: zwei Feten hatten eine unilaterale
Nieren- und Ureteragenesie (Steege 1980, Shotton 1963), wobei einer einen offenbar
gesunden Zwilling hatte. Der dritte Fetus zeigte retinale Defekte (Rugh 1965). Auch
Berichte mit unauffälligem Schwangerschaftsausgang liegen vor (Jacobs 1981).
Cyclophosphamid (Endoxan®) ist eine alkylierende Substanz, die man zur Behandlung
einer Vielzahl von malignen Erkrankungen und bei Autoimmunerkrankungen, wie z.B. dem
systemischen Lupus ery-thematodes, einsetzt. Tierexperimente bei Ratten, Mäusen, Kaninchen,
Affen und Hühnern führten zu ZNS-, kraniofazialen und Skelettfehlbildungen (zitiert
nach Enns 1999).
Die Erfahrungen zur Behandlung Schwangerer mit Cyclophosphamid im 1. Trimenon beruhen
auf einer kleinen Fallserie (Aviles 1991) und auf retrospektiven Kasuistiken. Insgesamt
gibt es Berichte über mehr als 30 im 1. Trimenon behandelte Frauen, darunter eine
Zwillingsschwangerschaft: 16 Kinder waren gesund (Peres 2001, Aviles 1991, Pizzuto
1980), 11 Feten bzw. Kinder hatten große oder kleine Fehlbildungen (Paskulin 2005,
Paladini 2004, Vaux 2003, Giannakopoulou 2000, Enns 1999, Mutchinick 1992, Kirshon
1988, Murray 1984, Toledo 1971, Greenberg 1964), zwei Schwangerschaften endeten als
Spontanabort (Clowse 2005) und bei weiteren 2 kam es in Woche 25/26 zum Fruchttod
(Peres 2001, Ba-Thike 1990). Ein weiterer Junge wurde mit multiplen Fehlbildungen
geboren und entwickelte mit 11 Jahren ein Schilddrüsenkarzinom, mit 14 ein Neuroblastom
und im Alter von 16 Jahren wurde ein metastasiertes papilläres Schilddrüsenkarzinom
diagnostiziert. Seine Zwillingsschwester war gesund (Zemlickis 1993).
Wir konnten bisher 5 im 1. Trimenon exponierte Schwangerschaften prospektiv auswerten,
davon endete eine als Spontanabort, eine wurde im 2. Trimenon trotz unauffälligem
hoch auflösendem Ultraschallbefund aus mütterlicher Indikation abgebrochen, und es
wurden drei gesunde Kinder geboren.
Neuerdings wird eine Cyclophosphamid-Embryopathie (Enns 1999) bzw. eine Cyclophosphamid-Methotrexat-Cytarabin-Embryopathie
(Vaux 2003) diskutiert: Kennzeichen sind ZNS-Auffälligkeiten, faziale Dysmorphien,
distale Extremitätenreduktionsdefekte sowie Augen-und Ohrfehlbildungen und eine Wachstumsretardierung.
Neun der oben genannten Fallbeschreibungen entsprechen zumindest teilweise diesem
Muster, darunter auch solche, bei denen die Mütter im Rahmen eines systemischen Lupus
erythematodes als einziges Zytostatikum Cyclophosphamid erhalten hatten.
Durch Therapie mit Cyclophosphamid im 2. und 3. Trimenon kann eine Panzytopenie und
ein verringertes Geburtsgewicht beim Neugeborenen verursacht werden. Auch Frühgeburten
treten häufiger auf (Kerr 2005). Zahlreiche Fallbeschreibungen schildern einen unauffälligen
Ausgang der Schwangerschaft, auch bei malignen Erkrankungen (Ring 2005, Köseoglu 2001,
Luisiri 1997, Oates 1990). Bei zwei Lupus-Patientinnen, die wegen der Schwere der
Erkrankung im 2. Trimenon Cyclophosphamid erhielten, endete die Schwangerschaft mit
Spätabort (Clowse 2005).
Ifosfamid (z. B. Holoxan®) und Trofosfamid (Ixoten®) sind dem Cyclophosphamid strukturell
ähnlich. Es gibt einen Fallbericht über ein gesundes Kind, dessen Mutter wegen Ewing-Sarkom
des Beckens im 3. Trimenon u.a. mit Ifosfamid behandelt wurde (Merimsky 1999).
Chromosomale Anomalien und Malignomentstehung wurden bei nicht schwangeren Patienten
beobachtet, die mit Melphalan (Alkeran®) behandelt worden waren. Entsprechende Auswirkungen
bei pränatal exponierten Kindern sind nicht bekannt. Zur Anwendung in der Schwangerschaft
liegt lediglich ein Bericht über eine Fehlgeburt unter Monotherapie im 1. Trimenon
vor (Zemlickis 1992).
Zu Bendamustin (Ribamustin®) wird über ein gesundes Kind berichtet, dessen Mutter
im 1. Trimenon behandelt worden war (Schardein 2000).
Zu Estramustin (z.B. cellmustin®) liegen keine Erfahrungen in der Schwangerschaft
vor.
2.13.7
Andere Alkylanzien
Busulfan (z.B. Myleran®) wirkt speziell auf das Knochenmark alkylie-rend und wird
deshalb bei Leukämien und bei der Vorbereitung zur Knochenmarktransplantation eingesetzt.
Mindestens 49 Schwangerschaften, darunter 31 mit Anwendung im 1. Trimenon wurden publiziert,
von denen wiesen 6 Kinder bzw. Feten unterschiedliche Fehlbildungen auf (Briggs 2005).
Vier von 12 mit Dacarbazin (Detimedac®) behandelte Schwangere waren im 1. Trimenon
exponiert. Alle Neugeborenen waren unauffällig (DiPaola 1997, Aviles 1991).
In 4 von 12 Fallberichten mit einer Mechlorethamin-Therapie im 1. Trimenon (zusammen
mit anderen zytotoxischen Substanzen) wurden folgende Anomalien beschrieben: Oligodaktylie,
Hirnblutungen, Hydrozephalus und Nierenanomalien (Zemlickis 1992, Mennuti 1975). In
4 Fällen kam es zum Abort und zweimal zum Schwangerschaftsabbruch, andere Schwangerschaften
verliefen unauffällig (Aviles 1991).
Procarbazin (Natulan®) ist Bestandteil einer Kombinationstherapie bei Morbus Hodgkin
und anderen Lymphomen. Von 10 im 1. Trimenon exponierten Neugeborenen waren lediglich
3 gesund (Aviles 1991,
Schapira 1984). Folgende Anomalien wurden beschrieben: multiple Hämangiome, Nieren-
und Extremitätenanomalien, Lippen-, Kiefer-, Gaumen-Spalten, Vorhofseptumdefekt sowie
intrauterine Wachstums-retardierung. Eine Frau, die 30 Tage lang versehentlich 50
mg täglich im 2. Trimenon einnahm, wurde von einem gesunden Kind entbunden (Daw 1970).
Procarbazin ist ein schwacher Monoaminooxidase-Hemmstoff. Hypertensive Kreislaufzwischenfälle
können daher bei gleichzeitiger Applikation von synergistisch wirkenden Arzneimitteln
auftreten.
Keine fetotoxischen Effekte fand man bei einem Kind, dessen Mutter im 3. Trimenon
wegen Leukämie mit täglich 30 mg Thiotepa = Thio-phosphamid (Thiotepa „Lederle”®)
behandelt wurde. Weitere dokumentierte Erfahrungen liegen nicht vor.
Zu Chlormethin, Temozolomid (Temodal®) und Treosulfan (Ova-stat®) gibt es keine Erfahrungen
bei Schwangeren. Gleiches gilt für Pi-pobroman (bei Polycythaemia vera eingesetzt)
und für Plicamycin.
2.13.8
Zytotoxische Anthracyclin-Antibiotika
Daunorubicin (z.B. Daunoblastin®) greift in die DNA-Synthese ein. Daunorubicin tritt
aufgrund seiner Molekülgröße und seiner relativen Hydrophilie nur wenig und verzögert
plazentar über. Konzentrationen im fetalen Gewebe sind 100- bis 1.000fach geringer
als beim Erwachsenen bzw. im Tumorgewebe (nach Germann 2004).
In der Übersicht von Briggs (2005) werden 29 Schwangere beschrieben, vier davon waren
im 1. Trimenon exponiert (Feliu 1988, Alegre 1982). Die 22 lebend geborenen Kinder
wiesen keine Fehlbildungen auf. Bei 2 dieser Kinder kam es im Alter von 2 Monaten
zur vorübergehenden Neutropenie. Nachfolgeuntersuchungen an 13 Kindern dieser Gruppe
im Alter zwischen 6 Monaten und 9 Jahren zeigten eine normale Entwicklung. Zuazu (1991)
berichtet über 2 weitere im 1. Trimenon exponierte Schwangerschaften. Eine endete
20 Tage nach Ende der Polychemotherapie mit Spontanabort, die andere führte zur Geburt
eines gesunden Frühgeborenen in Woche 34. Artlich (1994) schildert eine Patientin,
die zum Zeitpunkt der Konzeption mit Daunorubicin und Cytarabin behandelt wurde und
5 Wochen später Cytarabin und Tioguanin erhielt. Das Kind wies eine Kraniosynostose
und Radius-aplasie auf. Daunorubicin kann bei Anwendung im 2./3. Trimenon gelegentlich
zur Myelosuppression führen.
Doxorubicin (z.B. Adriblastin®), das im Englischen als Adriamycin bezeichnet wird,
wurde in zahlreichen Schwangerschaften beschrieben, darunter mindestens 12 mit Behandlung
im 1. Trimenon (Garcia 1981, Blatt 1980, Hassenstein 1978). Ein Kind, dessen Mutter
gleichzeitig Cyclophosphamid und eine Kobaltbestrahlung der linken Axilla und Supraklavikularregion
von Woche 8–13 erhalten hatte, wies eine Anal- atresie mit rektovaginaler Fistel auf
(Murray 1984). Kim (1996) berichtet über ein Frühgeborenes mit Blepharophimose, Mikrozephalie,
Hydrozephalus und einer balancierten autosomalen Translokation, von der Mutter ererbt,
die im 1. Trimenon zwei Zyklen Cyclophosphamid, Doxorubicin und Cisplatin erhalten
hatte. Die anderen Neugeborenen wiesen keine Anomalien auf.
Germann (2004) wertete in einer Übersichtsarbeit 160 zwischen 1976 und 2001 publizierte
Fallberichte aus, davon 50 zu Daunorubicin und 99 zu Doxorubicin. Darunter befindet
sich ein Teil der oben genannten Fallberichte. Ungefähr 30 der 160 Patientinnen erhielten
die Behandlung im 1. Trimenon und gebaren 20 gesunde Kinder, drei Neugeborene wiesen
Fehlbildungen auf.
Ein Fallbericht (Nakajima 2004) zeigte erneut, dass eine zytostatische Therapie (Doxorubicin
und Ifosfamid) im 2./3. Trimenon zu gesunden, aber wachstumsretardierten Kindern führen
kann. Bei Doxorubicin sind jedoch kardiotoxische Nebenwirkungen bekannt: Drei Fallberichte
über junge Schwangere, die in ihrer Kindheit bzw. Jugend Doxo-rubicin erhalten hatten
und kardial unauffällig waren, dekompensierten am Ende der Schwangerschaft (Pan 2002).
Zu Epirubicin (z.B. Farmorubicin®) liegen mindestens 20 Fallberichte über Kombinationstherapien
vor, davon 2 Expositionen im 1. Tri-menon, die mit Spontanabort endeten. Bei den übrigen
Schwangerschaften gab es einen Abort, eine Totgeburt und ein Kind starb kurz nach
der Geburt. Beschrieben wurden ferner intrauterine Wachstums-retardierung, Frühgeburten
und eine vorübergehende Leukopenie (Ring 2005, Gadducci 2003, Giacalone 1999, Müller
1996, Goldwasser 1995). Der plazentare Übergang von Epirubicin ist gering und liegt
etwas über dem von Doxorubicin (Gaillard 1995).
Fünf Falldokumentationen berichten über eine Kombinationstherapie mit Idarubicin (Zavedos®)
nach dem 1. Trimenon (Claahsen 1998, Reynoso 1994). Im ersten Fall kam es nach Therapiebeginn
zum intrauteri-nen Fruchttod, im zweiten wurde ein wachstumsretardiertes, im Übrigen
aber gesundes Neugeborenes beschrieben. Das dritte Kind wurde in Woche 28 geboren
und fiel mit einer drei Tage andauernden reversiblen Herzinsuffizienz auf, die von
den Autoren auf Idarubicin zurückgeführt wurde (Achtari 2000). In 2 weiteren Fallberichten
wird von einer reversiblen Rechtsherzvergrößerung beim Kind berichtet (Niedermeier
2005, Siu 2002). In einem dieser beiden Fälle wurden außerdem ein Ventrikel-septumdefekt,
kurze Finger mit dysplastischen Nägeln, kurze Extremitäten und faziale Auffälligkeiten
diagnostiziert, die sich mit der ausschließlich im 2. und 3. Trimenon erfolgten Exposition
mit Idarubicin und Cytarabin nicht erklären lassen (Niedermeier 2005). Idarubicin
hat zwar eine geringere Kardiotoxizität als die traditionellen Anthrazykline, die
größere Lipophilie begünstigt jedoch den plazentaren Übergang. Dies könnte erklären,
warum es in den wenigen Fallbeschreibungen so häufig zu kardialen Komplikationen beim
Fetus kam.
Zu Mitoxantron (z. B. Onkotrone®) liegen 4 Fallbeschreibungen vor. Die eine betrifft
eine Kombinationsbehandlung u. a. mit Idarubicin, mit folgendem Fruchttod (Reynoso
1994). Außerdem wurde ein unauffälliges Neugeborenes nach Polychemotherapie in Woche
24–34 beobachtet (Azuno 1995) sowie ein gesundes und ein wachstumsretardiertes Kind
nach Therapie im 2. Trimenon (Giacalone 1999). Mitoxantron besitzt immunmodulatorische
Eigenschaften und wird bei bestimmten Formen der Multiplen Sklerose eingesetzt.
Zur Behandlung Schwangerer mit Aclarubicin und Pirarubicin liegen keine Informationen
vor.
2.13.9
Andere zytotoxische Antibiotika
Bleomycin (z.B. BLEO-cell®) ist ein zytotoxisches Glycopeptid-Anti-biotikum, das mit
anderen Chemotherapeutika bei Morbus Hodgkin, Non-Hodgkin-Lymphomen und Teratomen
eingesetzt wird. Es zeigten sich weder Fetopathien noch Chromosomenstörungen (Lowenthal
1982). Ein Kind, dessen Mutter außerdem mit Etoposid und Cisplatin bis eine Woche
vor der Entbindung behandelt worden war, wies eine Neutropenie und Leukopenie auf
(Raffles 1989). Zwei andere Kinder, die den gleichen Substanzen im 2./3. Trimenon
ausgesetzt waren, waren unauffällig (Han 2005). Weitere 22 Kinder, darunter 11 mit
Beginn der Polychemotherapie im 1. Trimenon, zeigten ebenfalls keine Anomalien (Aviles
1991).
Unauffällig waren auch 6 Kinder, die im 2. und 3. Trimenon mit Dac-tinomycin (LYOVAC-COSMEGEN®)
exponiert waren (Briggs 2005). Zu Mitomycin (z.B. Mito-medac®) gibt es keine Erfahrungen
in der Schwangerschaft.
2.13.10
Folsäure-analoge Antimetabolite (Folsäure-Antagonisten)
Aminopterin
Nach Behandlung mit Aminopterin, einer dem Methotrexat verwandten Substanz, wurden
schon in den 50er Jahren Fehlbildungen beschrieben (Warkany 1959, Meltzer 1956, Thiersch
1952). Es liegen Berichte von misslungenen Abortversuchen mit Aminopterin vor, in
denen u.a. folgende Auffälligkeiten beschrieben wurden: ZNS-Anomalien, wie z.B. Meningoenzephalozele,
Hydrozephalus, Brachyzephalus, Anenzephalus; Anomalien des Gesichtsschädels, wie Mikrognathie,
Lippen- und Gaumen-Spalte, Kraniosynostose, tief sitzende Ohren, Hypertelorismus und
verschiedene Extremitätenfehlbildungen, sowie Wachstumsretardierung und mentale Retardierung
(Übersicht bei
Briggs 2005). Auch einige Fallbeschreibungen mit normalem Schwangerschaftsausgang
nach einer Exposition im 1. Trimenon sind veröffentlicht.
Methotrexat (MTX)
Methotrexat (ein Methylderivat des Aminopterins, im Englischen auch Amethopterin genannt;
z.B. MTX Hexal®) hat zwar nur eine Halbwertszeit von 12–24 Stunden, aber ca. 5–35%
werden als Polyglutamat-Derivat in Hepatozyten und Erythrozyten über mehrere Monate
gespeichert (Hendel 1984). Es wird bei einem breitem Spektrum von Indikationen eingesetzt:
zur Beendigung von ektopen oder unerwünschten Schwangerschaften, bei Autoimmunerkrankungen,
bei chronisch entzündlichen Krankheiten und zur Behandlung von Neoplasien. Metho-trexat
besitzt ein teratogenes Risiko mit einem ähnlichen Muster an Fehlbildungen wie Aminopterin
(siehe oben), so dass verschiedentlich von einem Aminopterin/Methotrexat-Syndrom gesprochen
wird (Bawle 1998). Betrachtet man die Übereinstimmung der bei Methotre-xat, Cyclophosphamid
und Cytarabin beschriebenen Fehlbildungen (siehe unter Cyclophosphamid 2.13.6), dann
scheint der Begriff Ami-nopterin/Methotrexat-Embryopathie nicht gerechtfertigt. Ob
diese Arzneimittel einen gemeinsamen embryotoxischen Wirkungsmechanismus besitzen,
wie Vaux (2003) vermutet, ist unklar. Ob noch weitere Anti-metabolite vergleichbare
Fehlbildungen hervorrufen, ist derzeit nicht zu beurteilen.
In über 30 Veröffentlichungen fanden sich mehr als 200 im 1. Trime-non behandelte
Schwangere. Da es sich in der Regel um retrospektive Fallberichte handelt und nicht
um eine prospektive Studie, verbieten sich Berechnungen eines Fehlbildungsrisikos.
Bei einigen dieser Publikationen fehlen zudem Angaben zur Dosis und Indikation, wie
z.B. bei McElhatton (2000), die über 82 exponierte Feten berichtet, davon 53 im 1.
Trimenon. Zwölf Feten mit nicht genanntem Expositionszeitraum waren auffällig, darunter
9 Schädelanomalien und 6 andere Skelettfehlbildungen. Im Folgenden werden nur die
Arbeiten mit genaueren Angaben vorgestellt.
Zehn Veröffentlichungen beschreiben Schwangere, die im Rahmen einer Polychemotherapie
im 1. Trimenon Methotrexat erhalten hatten. Interessanterweise fanden sich in dieser
Hochrisikogruppe 16 gesunde Kinder (Zemlickis 1992, Aviles 1991, Feliu 1988, Dara
1981, Pizzuto 1980), ein Kind mit einer Inguinalhernie (Giannakopulou 2000), ein Spontanabort
(Giacalone 1999), eine Totgeburt ohne Fehlbildungen (Peres 2001) und nur 1 Kind mit
typischen Fehlbildungen (Bawle 1998), dessen Mutter von Woche 8 bis 29 wöchentlich
80 mg MTX wegen eines Mammakarzinoms erhalten hatte. Außerdem wurde sie von Woche
16 bis 25 bestrahlt mit einer geschätzten fetalen Dosis von 14 rad.
Im 2. und 3. Trimenon kann Methotrexat, wie andere Zytostatika auch, zur intrauterinen
Wachstumsretardierung, zur Myelosuppression beim Fetus und selten auch zum intrauterinen
Fruchttod führen.
Abortversuch mit MTX.
In 8 Publikationen werden Fallberichte nach fehlgeschlagenem Abortversuch beschrieben.
Alle 11 Kinder zeigten für MTX typische Fehlbildungen (z.B. Seidahmed 2006, Milunsky
1968). Die Gesamtdosis lag zwischen 10 und 100 mg Methotrexat. In 7 dieser Schwangerschaften
(8 Kinder) wurde zusätzlich Misoprostol (Yedlinski 2005, Adam 2003, Wheeler 2002)
einige Tage nach Methotrexat verabreicht. In einem Fall wurde zuvor erfolglos eine
Kürettage durchgeführt (Bawle 1998). Andere Berichte thematisieren pränatal diagnostizierte
Schädigungen exponierter Feten, die zum Abbruch der Schwangerschaft führen (Chapa
2003, Krähenmann 2002).
Antirheumatische Therapie mit MTX.
Zehn Veröffentlichungen mit mehr als 110 im 1. Trimenon exponierten Schwangerschaften
beziehen sich auf die als „Low-dose” bezeichnete Therapie bei Erkrankungen aus dem
rheumatischen Formenkreis. Doch abgesehen von der kürzlich veröffentlichten kleinen
prospektiven Studie aus Frankreich (Lewden 2004) und unseren eigenen noch unveröffentlichten
Daten handelt es sich um retrospektive Fallbeschreibungen oder allenfalls um kleine
prospektive Fallserien mit maximal 4 Schwangerschaften (Østensen 2000, Donnenfeld
1994).
Insgesamt fanden sich 4 Kinder mit typischen Fehlbildungen, von denen allerdings zwei
Mütter (Del Campo 1999, Powell 1971) mit 3 ×12,5 mg/Woche (bis Woche 10) bzw. 5 mg/Tag
(bis Woche 8) mehr MTX einnahmen als bei „Low-dose” (maximal 25 mg/Woche) üblich ist.
Eine weitere erhielt 7,5 mg/Tag für zwei Tage in Woche 6 (Nguyen 2002) und die vierte
Schwangere 12,5 mg/Woche bis Woche 10 in Kombination mit täglich 1 mg Folsäure (Buckley
1997).
Dem stehen Fallbeschreibungen mit 14 gesunden Kindern mit einer Dosis zwischen 7,5
und 15 mg/Woche gegenüber (Østensen 2000, Donnenfeld 1994, Feldkamp 1993, Kozlowski
1990), 4 Spontanaborte (Østensen 2000, Kozlowski 1990) und 2 Schwangerschaftsabbrüche
ohne embryopathischen Hintergrund. Chakravarty (2003) berichtet über 38 retrospektive
Schwangerschaften unter „Low-dose”-MTX, wobei genauer Einnahmezeitraum und Dosis nicht
bekannt sind. Es kamen 21 gesunde Kinder zur Welt, bei 3 Schwangerschaften wurden
Fehlbildungen beschrieben keine Spezifizierung, 7 endeten als Spontanabort und 8 Schwangerschaftsabbrüche
wurden durchgeführt. In einer prospektiven französischen Studie (Lewden 2004) mit
28 Fällen und einer wöchentlichen mittleren MTX-Dosis von 10,5 mg wurden 4 Spontanaborte,
5 Schwangerschaftsabbrüche und 19 Lebendgeburten registriert, darunter keine MTX-Embryopathie.
Diese Erfahrungen decken sich mit unseren eigenen: von 22 prospek-tiv dokumentierten
im 1. Trimenon exponierten Schwangerschaften (wöchentliche Dosis 10 bis 25 mg MTX)
wurden 3 bei unauffälligem Ultraschallbefund abgebrochen, 5 endeten als Spontanabort
und 13 mit der Geburt eines gesunden Kindes (1 Frühgeborenes mit 36 Wochen). Ein Kind,
dessen Mutter zusätzlich Phenprocoumon und andere Medikamente einnahm, war mit 1.600
g am Geburtstermin wachstumsretardiert, wies eine Inguinalhernie auf und war 14 Tage
lang hyperirritabel.
Bei Kindern mit typischen Fehlbildungen scheint eine begleitende Kleinwüchsigkeit
bestehen zu bleiben. In der weiteren Entwicklung wurden sowohl eine normale Intelligenzentwicklung
als auch mentale Retardierung beobachtet.
Die Dosierungsbereiche für MTX bei Polychemotherapie, Abortversuch und bei rheumatischen
Indikationen („Low-dose”) überschneiden sich. Daher ist die Schlussfolgerung, es gibt
für MTX sichere und riskante Indikationen, unzulässig. Zwar fand sich bei 10 mg wöchentlich
bisher nur ein Fallbericht mit verdächtiger Symptomatik, so dass die von Feldkamp
(1993) geäußerte These plausibel erscheint, dass MTX erst ab einer wöchentlichen Dosis
von 10 mg teratogen wirkt. Die Autorin postuliert ferner eine sensible Phase zwischen
Woche 8 und 10. Für eine definitive Schlussfolgerung sind die vorliegenden Daten jedoch
noch unzureichend.
Empfehlung für die Praxis:
Nach Behandlung mit dem teratogenen Methotre-xat wurden bei einer Reihe von Schwangerschaften
Entwicklungsanomalien beobachtet, die im Wesentlichen aus einer pränatal beginnenden
Wachstumsre-tardierung, einem schweren Ossifikationsdefekt des Calvariums, fazialen
Dys-morphien, ZNS-Störungen mit oder ohne Intelligenzminderung und Extremitätendefekten
bestehen. Eine unbedenkliche Dosis kann nicht angegeben werden, allerdings gibt es
bisher keine Hinweise auf teratogene Effekte unterhalb einer wöchentlichen Dosis von
10 mg. Eine (versehentlich) ins 1. Trimenon hinein weiter geführte antirheumatische
„Low-dose”-Therapie scheint nur ein gering erhöhtes Fehlbildungsrisiko zu besitzen.
Generell sind bei einer Exposition im 1. Trimenon Fehlbildungen keineswegs obligat,
auch nicht bei der Behandlung von bösartigen Erkrankungen. Dass Kinderwunschpatientinnen
nach einer (antirheumatischen) Methotrexat-Therapie mindestens 3 Monate Pause bis
zur Konzeption einhalten, kann mit den jetzt vorliegenden Daten nicht begründet werden.
Jeder Schwangeren, die im 1. Trimenon mit MTX exponiert war, sollte eine hoch auflösende
Ultraschalldiagnostik zur Bestätigung einer normalen Entwicklung des Fetus angeboten
werden.
2.13.11
Purin-analoge Antimetabolite (Purin-Antagonisten)
6-Mercaptopurin (6-MP; Puri-Nethol®) ist ein Purin-Analogon, das über eine Hemmung
der Nukleinsäuresynthese wirkt (siehe auch Aza-thioprin = AZA, Prodrug von 6-MP).
Es wurde bisher kein spezifisches Fehlbildungssyndrom beschrieben. 6-MP wird auch
als Immunsuppres-sivum eingesetzt, z. B. bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen
(„Inflammatory bowel disease” = IBD). Auch wenn die Plasma-HWZ von 6-MP und AZA mit
1–3 Stunden sehr kurz ist, beträgt die Halbwertszeit des zytostatisch aktiven Metaboliten,
der Tioguanin-Nukleo-tide, 3 bis 13 Tage. Wirkungsweise und Metabolisierung von 6-MP
sind interindividuell variabel. Dabei spielt die Thiopurin-Methyltransferase (TPMT)
eine Rolle, deren Aktivität genetisch determiniert ist. AZA und 6-MP können die Plazenta
passieren (Polifka 2002).
Von mehr als 100 im 1. Trimenon exponierten Schwangeren nahmen über 60 das 6-MP im
Rahmen einer IBD ein (Francella 2003), häufig in Kombination mit Prednisolon und eine
kleine Gruppe sogar fortlaufend während der gesamten Schwangerschaft. Die meisten
Kinder der mit 6-MP therapierten Schwangeren in dieser und anderen Publikationen wurden
ohne Anomalien geboren (Moskowitz 2004, Polifka 2002, Aviles 1990, Dara 1981, Pizzuto
1980). Einige Kinder bzw. Feten wiesen Fehlbildungen auf, wie z.B. Polydaktylie (Mulvihill
1987), Hypospadie (Sosa 1983), Hydrozephalus (Francella 2003), Lungenhypopla-sie,
sowie Harnblasen- und Urethrafehlbildungen (Nørgård 2003), Gaumenspalte und Gesichtsdysmorphien
(Tegay 2002). Ein nennenswertes teratogenes Potenzial lässt sich aus diesen Berichten
nicht ableiten. Die Dosierungsbereiche bei den beiden wichtigsten Behandlungsindikationen
IBD und Leukämie überschneiden sich. Daher ist die Indikation primär kein Unterscheidungsmerkmal
hinsichtlich potentieller Teratogenität.
Tioguanin (Thioguanin-GSK®) ist ein Purin-Analogon, das DNA-Brüche in Säugetierzellen
verursacht. Es ist dem 6-MP hinsichtlich Struktur, Wirkungsweise, Nebenwirkungen und
Interaktionen ähnlich. Bei 5 im 1. Trimenon behandelten Schwangeren fand sich kein
auffälliges Neugeborenes (Übersicht in Schardein 2000). Eine weitere Kasuistik beschreibt
1 Kind mit Kraniosynostose, Fingeranomalien und Radi-usaplasie, dessen Mutter in Woche
8 gleichzeitig auch mit Cytarabin, das vermutlich die Fehlbildungen verursacht hat,
behandelt wurde (Schafer 1981). Auch Artlich (1994) berichtet über 1 fehlgebildetes
Kind nach Exposition im 1. Trimenon (siehe unter Cytarabin).
Das Kind einer wegen Haarzell-Leukämie bis Woche 10 mit Cladri-bin (z.B.Leustatin®)
behandelten Schwangeren zeigte keine teratoge-nen Effekte (Alothman 1994).
Zu Fludarabin (Fludara®) gibt es bisher keine Informationen.
2.13.12
Pyrimidin-analoge Antimetabolite (Pyrimidin-Antagonisten)
Der Pyrimidin-Antagonist Cytarabin (auch Cytosin Arabinosid oder Ara C; z.B. Alexan,
Udicil) hemmt sowohl die DNA- als auch die RNA-Synthese durch Verdrängen von Cytosin,
von dem es sich durch den Zuckeranteil Arabinose unterscheidet. Über eine Behandlung
mit Cytarabin im 1. Trimenon wird in 11 Kasuistiken berichtet. Sechs Kinder waren
gesund (Aviles et al., 1991, Aviles et al., 1990), ein Spontanabort ereignete sich
20 Tage nach Ende der Zytostase (Zuazu 1991), zwei Schwangerschaftsabbrüche wurden
registriert, einer davon mit 20 Wochen und unauffälligem Befund beim Fetus (Zemlickis
1992, Lilleyman 1977). Drei Kinder wiesen Extremitätenanomalien auf, eines von ihnen
hatte zusätzlich eine bilaterale Mikrotie und Atresie des äußeren Gehörgangs (Wagner
1980). Die Mutter hatte im Rahmen einer Erhaltungstherapie bei akuter lymphatische
Leukämie ausschließlich Cytarabin erhalten: zum Zeitpunkt der Konzeption, in Woche
6/7 und in Woche 10. Dies ist der einzige Bericht mit einer Monotherapie. Bei allen
anderen Fällen wurde mit einer Polychemotherapie behandelt. Das zweite auffällige
Kind hatte eine beidseitige Radiusaplasie und jeweils vier Finger mit hypoplastischem
Daumen, eine schwere Brachyzephalie, Hypoplasie der Schädelbasis und des Mittelgesichts,
sowie Synostose der Schädelnähte. Die Mutter wurde wegen akuter myeloischer Leukämie
(AML) zur Konzeption und vom 35.-37. Tag danach u.a. mit Cytarabin behandelt (Artlich
1994). Die dritte Kasuistik (Schafer 1981) wird bei Tiogua-nin beschrieben. Hinsichtlich
der Spezifität teratogener Schäden durch Cytarabin sei auf Vaux (2003) verwiesen,
der eine „gemeinsame” Cyclo-phosphamid-Methotrexat-Cytarabin-Embryopathie diskutiert
(siehe Kapitel 2.13.6).
Ungefähr 30 publizierte Fälle liegen uns zur Exposition mit Cytarabin im 2./3. Trimenon
vor, in Übersichten werden weitere Kasuistiken erwähnt. Dabei ist ein Großteil der
Kinder gesund (Peres 2001, Veneri 1996, Requena 1995, Aviles et al., 1991, Aviles
et al., 1990, Blatt 1980). Auch über 3 Spätaborte bzw. Totgeburten wurde berichtet
(Greenlund 2001, zitiert nach Zuazu 1991), des Weiteren über 3 Frühgeborene mit schwerer,
aber reversibler Panzytopenie (Hsu 1995, Murray 1994, Engert 1990). Reynoso (1987)
berichtet über 3 gesunde Kinder und ein Frühgeborenes der Schwangerschaftswoche 29,
dessen Mutter wegen AML ab Schwangerschaftswoche 25 zytostatisch behandelt wurde.
Im Alter von 2 Jahren wurde eine angeborene Adhärenz der Iris an der Kornea des linken
Auges diagnostiziert. Bis zum 3. Lebensjahr entwickelte sich der Junge im Übrigen
unauffällig.
5-Fluorouracil (5-FU; z.B. 5-FU Hexal®) greift durch Verdrängen von Uracil ebenfalls
in die DNA- und RNA-Synthese ein. Zur lokalen vaginalen Anwendung von 5-Fluorouracil
im 1. Trimenon liegen Berichte über fünf gesunde Kinder vor (Kopelman 1990, Odom 1990).
Kasuistiken zur Anwendung im 1. Trimenon zusammen mit anderen Chemotherapeutika beschreiben
4 gesunde Kinder (Andreadis 2004, Peres 2001, Zemlicki 1992), zwei Spontanaborte (Giacalone
1999) und eine komplexe Fehlbildung nach Exposition in Woche 11 und 12 (Stephens 1980).
Paskulin (2005) beschreibt ein Kind, das intrauterin bis Woche 16 mit Cyclophosphamid,
Fluorouracil und Doxorubicin exponiert war und mit Wachstumsretardierung, fazialen
Dysmorphien und verschiedenen distalen Extremitätenfehlbildungen geboren wurde.
Die meisten der mehr als 40 Kinder mit intrauteriner 5-FU-Exposi-tion im 2. und 3.
Trimenon waren gesund (Ginopoulos 2004, Berry 1999). Selten wurde eine intrauterine
Wachstumsretardierung beschrieben (Zemlickis 1992). Dreicer (1991) berichtet über
einen Jungen, der im 2./3. Trimenon hohen Dosen 5-FU ausgesetzt war (insgesamt 20
g), bei der Geburt in Schwangerschaftswoche 38 mit 2.660 g ein unterdurchschnittliches
Gewicht aufwies und im Alter von zwei Jahren normal entwickelt war. Zur topischen
Anwendung von Fluorouracil siehe Abschnitt 2.17.
Zu Gemcitabin (Gemzar®) und Capecitabin (Xeloda®) gibt es keine Informationen zur
Verträglichkeit in der Schwangerschaft.
2.13.13
Taxane
Taxane wirken antineoplastisch über eine Hemmung der Synthese der Mikrotubuli. Sie
werden beim Mammakarzinom eingesetzt. Erfahrungen zur Anwendung im 1. Trimenon liegen
nicht vor.
Sechs Kasuistiken zur Exposition mit Paclitaxel (Taxol®) im 2./3. Trimenon berichten
über gesunde Kinder (v.a. Gonzales-Angulo 2004, Cardonick 2004, Gaducci 2003, Mendez
2003, Sood 2001).
Docetaxel (Taxotere®) ist ein Analogon des Paclitaxel, zu dem ein Fallbericht mit
einem gesunden Mädchen vorliegt (DeSantis 2000).
2.13.14
Platin-Verbindungen
Cisplatin (z. B. Platinex®) wird bei verschiedenen Tumoren eingesetzt. Es gibt Hinweise
darauf, dass Cisplatin am Anfang einer Schwangerschaft nur in geringem Umfang den
Embryo erreicht, mit Reifung der Plazenta nimmt der Transfer zu (Kopf-Maier 1983).
Bisher gibt es nur einen Fallbericht über eine Polychemotherapie mit Cisplatin, Cyclo-phospamid
und Doxorubicin im 1. Trimenon (Kim 1996). Eine junge Schwangere erhielt zwei Zyklen
in Woche 7 und 12. In Woche 25 wurde ein Junge per Notsectio geboren (Geburtsgewicht
1.020 g), der eine Blepharophimose, Mikrozephalie und erweiterte Seitenventrikel beidseits
aufwies. Ebenso wie bei seiner Mutter wurde eine balancierte autosomale Translokation
diagnostiziert. Bis zum 30. Lebenstag zeigten sich keine Änderungen im Ultraschall
des Schädels. Jacobs (1980) beschreibt einen äußerlich unauffälligen Fetus nach Cisplatinexposi-tion
mit 12 Schwangerschaftswochen.
Etwa 27 Veröffentlichungen liegen über die Anwendung im 2. und 3. Trimenon vor, sowohl
als Monotherapie als auch im Rahmen einer Polychemotherapie. Han (2005) schildert
zwei Fallberichte mit unauffälligem Schwangerschaftsausgang unter Cisplatin, Etoposid
und Bleo-mycin. Ferrandina (2005) berichtet über ein gesundes männliches Frühgeborenes,
das intrauterin mit sechs Zyklen Cisplatin exponiert war. Tomlimson (1997) beschreibt
eine unauffällige Schwangerschaft unter Cisplatin und Cyclophosphamid und gibt eine
Übersicht zu neun weiteren Fällen. Darunter ist auch ein Frühgeborenes mit Neutropenie,
reversiblem Haarausfall ab 10. Lebenstag, das 6 Tage vor der Geburt Cisplatin und
Etoposid ausgesetzt war. Im Alter von einem Jahr zeigte das Kind außer einer milden
Hörstörung keine Auffälligkeiten (Raffles 1989). Elit (1999) berichtete über ein mit
Bleomycin, Cisplatin und Etoposid exponiertes Kind, das bis zum Alter von 16 Monaten
untersucht wurde. Dabei bestätigte sich die bereits intrauterin abzeichnende Ven-trikulomegalie,
die zu einer Hirnatrophie geführt hatte. In einer Fallserie von Peres (2001) wird
über eine Totgeburt mit 26 Schwangerschaftswochen ohne Fehlbildungen berichtet. Die
Mutter hatte wegen eines Non-Hodgkin-Lymphoms Cisplatin und Etoposid in Woche 22 erhalten.
Außer der in 2 Fällen beschriebenen intrauterinen Wachstumsre-tardierung waren die
übrigen Kinder gesund (Ohara 2000, DiPaola 1997, Giacalone 1996, Hoffmann 1995).
Ob die tierexperimentell beobachtete erhöhte Rate an Tumoren, z.B. der Haut, nach
pränataler Exposition mit Cisplatin für den Menschen relevant ist, kann nicht beurteilt
werden.
Carboplatin (z.B. Ribocarbo®) ist dem Cisplatin verwandt. Fetotoxi-sche Wirkungen
wurden bei einer zwischen Woche 17 und 33 behandelten Schwangeren nicht beobachtet
(Mendez 2003).
Zu Oxaliplatin (Eloxatin®) liegen keine Informationen zur Verträglichkeit in der Schwangerschaft
vor.
2.13.15
Andere antineoplastische Mittel
Hydroxycarbamid bzw. Hydroxyurea (Hydroxyharnstoff; z.B. Litalir®) hemmt die DNA-Synthese
und wird zur Behandlung von chronischer Leukämie, bei Polycythaemia vera sowie bei
Thrombozythämie und Sichelzellanämie eingesetzt. Bisher gibt es ca. 25 Berichte über
eine Behandlung mit Hydroxycarbamid in der Schwangerschaft. Bei den Lebendgeborenen,
deren Mütter vorwiegend im 1. Trimenon behandelt wurden, fanden sich keine grobstrukturellen
Fehlbildungen (Merlob 2005, Pata 2004, Thauvin-Robinet 2001, Wright 2001, Diav-Citrin
1999).
Anagrelid wird zur Behandlung der essentiellen Thrombozythämie eingesetzt. Es hemmt
die Phosphodiesterase III und wirkt in der post-mitotischen Phase der Megakaryozyten-Entwicklung.
So wird isoliert nur die Thrombozytenzahl verringert. Es wirkt weder zytotoxisch noch
mutagen. Die Erfahrungen in der Schwangerschaft beschränken sich auf ca. 10 Berichte,
die keine Teratogenität haben erkennen lassen (AlKindi 2005, Doubek 2004, eigene Erfahrungen).
All-trans-Retinsäure (ATRA) bzw. Tretinoin (Vesanoid®) wird oral bei promyelozytärer
Leukämie mit einer Tagesdosis von 45 mg/m2 eingesetzt. Aus den Erfahrungen bei der
Akne- und Psoriasistherapie ist bekannt, dass Retinoide die stärksten Teratogene nach
Contergan sind. Ungefähr 20 dokumentierte Verläufe, davon allerdings nur einer mit
Behandlung im 1. Trimenon, erbrachten keine Hinweise auf Fehlbildungen. Wenn es Probleme
bei Neugeborenen gab, waren sie meist durch die Frühgeburt bedingt und vorübergehender
Natur. Auch Wachstumsretardierung und fetale Arrhythmie sowie Herzstillstand mit erfolgreicher
Reanimation sind beschrieben (Consoli 2004, Carradice 2002, Fadilah 2001). Ein weibliches
Reifgeborenes, das intrauterin ab Woche 15 mit ATRA und Idarubicin exponiert war,
wies einen Vorhof-septumdefekt und eine milde rechtsventrikuläre dilatative Kardiomyo-pathie
auf, die sich nach ein bis zwei Monaten vollständig zurückbildete. Der hämodynamisch
unbedeutende Vorhofseptumdefekt war weiter nachweisbar (Siu 2002).
Zu Amsacrin (Amsidyl®), Miltefosin (Miltex®), das auch bei Leish-maniose eingesetzt
wird, sowie zu Pentostatin (Nipent®) und Mitogu-azon gibt es keine Informationen zur
Verträglichkeit in der Schwangerschaft. Gleiches gilt für die Topo-Isomerase-Inhibitoren
Irinotecan (Campto®) und Topotecan (Hycamtin®), sowie für die Photosensitizer Temoporfin
(Foscan®) und Porfimer-Natrium (Photofrin®) und für Bexaroten (Targretin®), einem
Agonisten am Retinoid-X-Rezeptor. Auch zu Pemetrexed. (Alimta®), einem Thymidylat-Synthese-Inhibitor,
und zu Mitotan (Lysodren®) liegen keine Erfahrungen in der Schwangerschaft vor.
Imatinib, ein Protein-Tyrosinkinase-Inhibitor (Glivec®) wird u.a. zur Therapie der
chronisch myeloischen Leukämie eingesetzt. Wenige Fallberichte existieren zur Anwendung
in der Schwangerschaft. Eine 44Jährige gebar ein gesundes 3.200 g schweres Mädchen,
das intrauterin bis Woche 8 mit Imatinib exponiert war (Ali 2005). Hensley (2003)
beschreibt einen Jungen mit Hypospadie und zwei Schwangerschaftsabbrüche wegen Fehlbildungen
der Feten (Hydrozephalus, Herzfehler). In einem weiteren Fallbericht mit Imatinib-Exposition
bis Woche 7 geht es um ein Mädchen mit Pylorusstenose (Heartin 2004).
Erlotinib (Tarceva®) ist ein neu zugelassenes Zytostatikum zur Behandlung des nicht-kleinzelligen
Lungenkarzinoms. Erfahrungen zur Schwangerschaft liegen nicht vor.
2.13.16
Weitere antineoplastisch wirkende Enzyme und Antikörper
Asparaginase (Asparaginase®) ist ein pflanzliches Enzym, das die Verfügbarkeit der
Aminosäure Asparagin für das Tumorwachstum reduziert. Es wird mit anderen Chemotherapeutika
bei akuter Leukämie kombiniert. Bei 7 im 2. Trimenon exponierten Kindern fanden sich
keine Fehlbildungen, 2 Kinder wiesen jedoch eine Knochenmarkhypoplasie auf und 1 Kind
Chromosomenanomalien (Turchi 1988, Scheuning 1987).
Alemtuzumab (MabCampath®), Ibritumomab-Tiuxetan (Zevalin®), Cetuximab (Erbitux®),
Edrecolomab und Bortezomib (Velcade®) und Tositumomab (Bexxar®) sind monoklonale Antikörper,
für die es keine Erfahrungen zur Verträglichkeit in der Schwangerschaft gibt.
Zu Rituximab (MabThera®) liegen 3 Erfahrungsberichte mit unauffälligem Schwangerschaftsausgang
vor. Zwei Behandlungen fanden aus Versehen im 1. Trimenon statt, die andere ab Woche
21 (Ojeda-Uribe 2006, Kimby 2004, Herold 2001).
Trastuzumab (Herceptin®) ist ein monoklonaler Antikörper, der das „Human epidermal
growth factor receptor 2”-Protein blockiert und eine geschätzte HWZ von 12 Tagen hat.
Es gibt einen Fallbericht über eine versehentliche Exposition einer 28-Jährigen mit
Brustkrebs, die bis Woche 20 alle drei Wochen das Medikament bekam. Als in Woche 23
die Schwangerschaft bemerkt wurde, zeigte sich ein Anhydramnion bei einem gesunden
weiblichen Fetus. Allmählich regenerierte sich die Fruchtwassermenge. In Woche 37
wurde ein gesundes Mädchen entbunden, das auch im Alter von 6 Monaten eine normale
Nierenfunktion zeigte und keinen Anhalt für eine pulmonale Hypoplasie aufwies (Watson
2005).
Noch in der Erprobung ist Gefitinib beim kleinzelligen Bronchialkarzinom, zu dem es
noch keine Erfahrungen in der Schwangerschaft gibt. Gleiches gilt für Lapatinib und
für Bevacizumab (Avastin®), das zusammen mit 5-Fluorouracil beim metastasierten Colon-
oder Rek-tumkarzinom angewendet wird.
Aldesleukin (Proleukin®) wird gentechnisch aus E. coli hergestellt und zur Behandlung
des metastasierenden Nierenkarzinoms eingesetzt. Erfahrungen in der Schwangerschaft
gibt es nicht. Dies gilt auch für Lenalidomid zur Therapie des myelodysplastischen
Syndroms.
Noch in der klinischen Erprobung sind der lipsomale Krebsimpfstoff L-BLP25 gegen nicht
kleinzelliges Bronchialkarzinom, sowie Actino-nin, ein Antibiotikum mit antiproliferativen
Eigenschaften. Erfahrungen zur Schwangerschaft gibt es verständlicherweise nicht.
2.13.17
Endokrin wirkende antineoplastische Mittel
Der Hormon-Antagonist Tamoxifen wird zur Behandlung des Mamma-karzinoms eingesetzt.
Seine Wirkung auf das Endometrium könnte indirekt die vorgeburtliche Entwicklung gefährden.
Bei 37 vom Herstel ler gesammelten Verläufen waren 19 Neugeborene gesund und 2 Kinder
hatten kraniofaziale Fehlbildungen. Zwei weitere Fallberichte beschreiben ein Kind
mit Auffälligkeiten, die einem Goldenhar-Syndrom ähnelten (Cullins 1994) und ein weibliches
Neugeborenes mit indifferenter Genitalentwicklung (Tewari 1997). Bei einem Mädchen,
dessen Mutter bis zum 4. Schwangerschaftsmonat Tamoxifen nahm, wurde im Alter von
2 Jahren ein Adenom der Vagina diagnostiziert. Auch über unauffällige Verläufe wird
berichtet (Andreadis 2004, Isaacs 2001, Lai 1994). Bei 9 Schwangerschaften nach Ovulationsinduktion
mit Tamoxifen zeigten die Neugeborenen keine Fehlbildungen (Ruiz-Velasco 1979). Für
eine differenzierte Risikobeurteilung reichen die vorliegenden Erfahrungen jedoch
nicht aus.
Zu Toremifen (Fareston®) und zu Fulvestrant (Faslodex®), einem Estrogen-Antagonisten,
liegen keine Erfahrungen in der Schwangerschaft vor. Enzyminhibitoren wie Aminoglutethimid
(Orimeten®) setzt man auch zur Therapie des Cushing-Syndroms bei NNR-Adenomen und
-Karzinomen und beim ektopischen ACTH-Syndrom ein. Einige Fallberichte zu Aminoglutethimid
beschreiben sowohl eine Maskulini-sierung weiblicher Feten als auch normale Verläufe
(Übersicht in Schardein 2000).
Die Aromatasehemmer Letrozol (Femara®) und Exemestan (ARO-MATASE®) werden postmenopausalen
Frauen bei hormonabhängigem Mammakarzinom verordnet. Neuerdings findet Letrozol auch
in der Sterilitätsbehandlung zur Ovulationsauslösung als Alternative z.B. zu Clomiphen
Anwendung. Studien zur Embryotoxizität gibt es bisher nicht (Mitwally 2005).
Zu Medroxyprogesteron, Megestrol und Goserelin siehe Kapitel 2.15.
2.13.18
Pflanzliche Zytostatika
Mistelpräparate (Viscum album; z.B. Iscador®) siehe Kapitel 2.19.
2.13.19
Beruflicher Umgang mit Zytostatika
Ein erhöhtes Abortrisiko für Krankenschwestern, die in der Schwangerschaft regelmäßig
mit Zytostatika arbeiten, wurde diskutiert. Ein kausaler Zusammenhang lässt sich mit
den bisher vorliegenden Erfahrungen weder beweisen noch ausschließen (Stucker 1990).
Empfehlung für die Praxis:
Ein regelmäßiger beruflicher Umgang mit Zytostatika sollte in der Schwangerschaft
unterbleiben. Hat eine Krankenschwester oder Pharmazeutin bis zur Feststellung der
Schwangerschaft in einer entsprechenden Abteilung gearbeitet, ergeben sich daraus
weder diagnostische Konsequenzen noch rechtfertigt dies einen risikobegründeten Abbruch
der Schwangerschaft.
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2.14.1
Prostaglandine
Pharmakologie und Toxikologie.
Prostaglandine (PG) sind an vielen Geweben des Organismus wirksame, biologisch aktive
Stoffe. Von praktischer Bedeutung sind in der Schwangerschaft insbesondere die als
PGE1, PGE2, PGF2
a und PGI2 bezeichneten Derivate. Prostaglandine werden durch das Enzym Phospholipase
A2 aus Arachidonsäure gebildet. Die Halbwertszeit der natürlich vorkommenden, z. B.
im Uterus gebildeten Prostaglandine, beträgt nur wenige Minuten. Nieren, Leber, Magen-Darm-Trakt
und Lunge enthalten Enzyme, die Prostaglandine rasch abbauen. Die Synthese der Prostaglandine
wird durch die Hormone Estradiol, Progesteron und auch durch Katecholamine gesteuert.
PGE1 und PGE2 bewirken eine Reifung der Zervix mit Gewebsauflockerung, die eine Verkürzung
der Zervix und die Öffnung des Muttermundes unter Wehen erleichtert. PGF2
a wirkt im Gegensatz zu PGI2kontraktionsfördernd.
Seit 2006 steht in Deutschland - wie in der Schweiz schon länger -kein PGF2
a-Präparat (Dinoprost; Minprostin®F2
a) mehr zur Verfügung. Misoprostol (PGE1; Cytotec®), das neben Gemeprost (Cergem®)
zweite kommerziell erhältliche PGE1-Präparat, war nicht für gynäkologisch-geburtshilfliche
Indikationen zugelassen und kann, da es 2006 ebenfalls in Deutschland vom Markt genommen
wurde, nur noch im Ausland bezogen und „Off-label” eingesetzt werden.
In der Praxis werden folgende Anwendungen unterschieden:
▪
Geburtsvorbereitung, Zervixreifung, Priming
Dinoproston (PGE2; Minprostin®E2, Prepidil®), appliziert in Form von Tabletten, Suppositorien
oder Gel intravaginal oder als Gel intrazervikal, oder Misoprostol (PGE1) in niedrigster
Dosis z.B. 25 μg intravaginal oder per os.
▪
Geburtseinleitung und Wehenverstärkung
Dinoproston (PGE2; Minprostin®E2, Propess®-Pessar-Band), appliziert als Gel oder Vaginal-Insert-Band
intravaginal oder als Gel intrazervikal und extraamnial. International am meisten
verwendet wird -Misoprostol (PGE1) intravaginal, oral oder sublingual.
▪
Behandlung der postpartalen Uterusatonie
Sulproston (PGE2; Nalador®), Applikation intravenös oder Misoprostol (PGE1) oral,
sublingual oder rektal.
▪
Abortinduktion, individuell nach Ausgangsbefund
Dinoproston (PGE2), als Gel intrazervikal (wie Priming), Sulproston (PGE2; Nalador®)
i.v., Gemeprost (PGE1; Cergem®), intravaginal oder Misoprostol (PGE1) intravaginal,
oral oder sublingual.
Für eine beschleunigte Rückbildung des Uterus im Wochenbett werden Prostaglandine
bisher kaum benutzt.
Alle Kontraktionsmittel können zu einer Überstimulierung des Myo-metriums führen.
Prostaglandine verursachen dann, anders als die Erhöhung des Basaltonus bei Oxytozin,
eher einen Wehensturm, den man mit Tokolytika aufheben kann. Aus einer solchen Situation
können sich mittelbar embryo- oder fetotoxische Risiken ergeben, weil über eine Perfusionsminderung
Disruptionsfehlbildungen und im Extremfall auch ein Fruchttod resultieren können (Bond
1994). Fallbeschreibungen über fehlgeschlagene Abortversuche und Überdosierungen unter
der Geburt beschreiben derartige seltene Vorkommnisse.
Eine Untersuchung in Brasilien spricht für eine kausale Beziehung zwischen fehlgeschlagenem
Abortversuch mit dem auch als Ulkusmittel verwendeten Misoprostol (Cytotec®) und einer
in wenigen Fällen beobachteten Möbius-Sequenz (u.a. Hirnnervenaplasie und Extremitätendefekte)
bei den Kindern. Auch andere Fehlbildungen, wie Schädelknochendefekte, Omphalocele
und Gastroschisis, wurden beobachtet (Orioli 2000, Gonzalez 1998, Hofmeyr 1998, Castilla
1994, Schüler 1992). Die zum Abortversuch oral oder manchmal zusätzlich auch vaginal
genommene Dosis von Misoprostol variierte zwischen 200 und 16.000 μg und betrug durchschnittlich
800 μg. Die hohen Dosen waren zeitlich über bis zu 20 Tage verteilt angewendet worden.
In einer retrospektiven brasilianischen Fall-Kontroll-Studie ergab die Medikamentenanamnese
der Mütter von 94 Kindern mit Möbius-Sequenz, dass nahezu die Hälfte Misoprostol angewendet
hatte. In einer Kontrollgruppe von Kindern mit Neuralrohrdefekten waren es lediglich
3 % der Mütter. Zwei prospektive Kohortenstudien zu Misoprostol fanden keine Auffälligkeiten
bei Schwangerschaftsverlauf und Befinden der Neugeborenen, allerdings betrug die Anzahl
exponierter Mütter nur 125 bzw. 86 und schließt bei derart selten auftretenden Defekten
kein Risiko aus (Bellemin 2000, Schüler 1999). Ein Teil der Mütter hatte Misoprostol
als Schutz vor Magengeschwüren bei einer Behandlung mit nichtsteroidalen Antirheumatika
eingenommen.
Schon 200 μg Misoprostol können den arteriellen Strömungswiderstand in den Aa. uterinae
dopplersonographisch nachweisbar heraufsetzen. Dieser Effekt kann die beobachteten
Disruptionsfehlbildungen als Folge einer Perfusionsstörung erklären (Yip 2000). Zusammenfassend
muss nach (versehentlicher) Misoprostolanwendung ein geringes, teratogenes Risiko
angenommen werden.
Obwohl für keine der Indikationen in der Schwangerschaft zugelassen, ist ein Trend
zu beobachten, dass Misoprostol vermehrt eingesetzt wird, sei es zur Abortinduktion,
zur Geburtseinleitung oder in der Post-partalperiode. Sowohl die einfache Applikation
per os als auch der Preis spielen dabei eine Rolle. So ist Misoprostol bei der Geburtseinleitung
nach Blasensprung das wirkungsvollste Medikament, das ohne zusätzliche applikationsbedingte
Infektgefährdung eingesetzt werden kann. Es wird in der WHO-Liste der essentiellen
Medikamente geführt (World Health Organization 2005).
Eine mögliche Überstimulation und pathologische CTG-Muster geben allerdings Anlass,
vor einem unkritischen Einsatz zu warnen. Bei Zustand nach Sectio oder anderen transmuralen
Eingriffen ist Miso-prostol wegen deutlich erhöhter Gefahr einer Uterusruptur kontraindiziert.
Empfehlung für die Praxis:
Prostaglandine dürfen indikationsgerecht zur Geburtsvorbereitung (Zervixreifung),
Geburtseinleitung, Wehenunterstützung und bei Atonie eingesetzt werden. Eine nach
fehlgeschlagenem Abortversuch mit Prostaglandinen weiterbestehende Schwangerschaft
ist aus embryotoxikologischer Sicht kritisch zu beurteilen, insbesondere wenn eine
Unterbauchsymptomatik auf die Wirksamkeit der gegebenen Medikamente hindeutet. Die
morphologische Entwicklung des Fetus sollte per Ultraschallfeindiagnostik kontrolliert
werden, da teratogene Effekte nicht auszuschließen sind.
2.14.2
Oxytocin
Pharmakologie.
Oxytocin (z. B. Syntocinon®) ist chemisch ein Oktapep-tid, das im Hypothalamusbereich
gebildet, im Hypophysenhinterlappen gespeichert und von dort in das Blut abgegeben
wird. Die Inaktivierung erfolgt durch ein spezifisches Enzym in Leber, Milz und Ovar.
Während der Schwangerschaft wird Oxytocin durch die von der Plazenta gebildete so
genannte Schwangerschaftsoxytocinase inaktiviert. Oxytocin hat eine Halbwertszeit
von nur wenigen Minuten und wird im Fettgewebe gespeichert.
Wirkorte sind vor allem der Uterusmuskel und die Milchdrüsenausführungsgänge. Voraussetzung
für die Oxytocinwirkung am schwangeren Uterus ist ein sehr komplexes Geschehen. Dazu
gehören eine Abnahme der Estrogen- und Progesteronkonzentration im Blut mit einer
Verminderung der et- und β-adrenergen Sicherung der Uterusmuskulatur. Die wehenanregende
Wirkung soll durch eine Depolarisierung der Muskelzellmembran ausgelöst werden. Während
der Schwangerschaft erhöht sich die Oxytocinkonzentration im Blut nur gering. Erst
am Ende steigen sowohl die Konzentration als auch die Zahl der Oxy-tocinrezeptoren
im Myometrium deutlich an. Während der verschiedenen Geburtsphasen bis zum Pressen
kann ein Anstieg der Oxytocinkonzentration um das 3- bis 4fache beobachtet werden.
Diese Konzentrationserhöhung wird beispielsweise während der Austreibungsphase durch
den so genannten Ferguson-Reflex bewirkt. Dabei wird der Druckreiz von dem in der
Kreuzbeinhöhle gelegenen Frankenhäuser-schen Ganglion über Rückenmarksbahnen zum Hypophysenhinterlappen
geleitet.
Toxikologie.
Oxytocin besitzt aufgrund seiner strukturellen Ähnlichkeit mit Vasopressin eine antidiuretische
Wirkkomponente. Diese fördert die Rückresorption salzfreier Flüssigkeit in den distalen
Nierentubulus und kann bis zur Wasserintoxikation mit Krämpfen und Koma, selten auch
mit tödlichem Ausgang, führen. Das Risiko einer Wasserintoxikation lässt sich durch
Reduktion der Flüssigkeitszufuhr und Kontrolle der Elektrolyte vermeiden.
Wie bei allen Kontraktionsmitteln kann eine Überstimulation des Myometriums auftreten.
Oxytocin erhöht dabei, was zum Teil nur schwer nachweisbar ist, den Basaltonus mit
nachfolgender utero-pla-zentarer, respiratorischer Versorgungsstörung. Dies kann eine
Hypoxie mit entsprechenden Folgen beim Fetus bewirken.
Empfehlung für die Praxis:
Oxytocin kann indikationsgerecht zur Induktion oder zur Verstärkung von Wehen eingesetzt
werden.
2.14.3
Mutterkornalkaloide
Pharmakologie und Toxikologie.
Uteruswirksame Mittel dieser Gruppe sind Ergometrin und Methylergometrin (Methergin®,
Methylergobre-vin®). Ursprünglich hatten Mutterkornalkaloide (Ergotaminderivate) einen
festen Platz in der Geburtshilfe. Inzwischen haben sie an Bedeutung verloren. Medikamente
dieser Gruppe lösen, wenn uteruswirksam verabreicht, keine rhythmischen, sondern Dauerkontraktionen
aus, die ein erhebliches Hypoxierisiko für den Fetus bergen.
Empfehlung für die Praxis:
Methylergometrin und Ergometrin dürfen nur nach der Geburt des Kindes bei postpartaler
Atonie injiziert werden. Während der Schwangerschaft sind sie kontraindiziert. Eine
versehentliche Anwendung während des 1. Trimenons rechtfertigt keinen risikobegründeten
Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel 1.15). Unmittelbare, funktionelle Störungen
und spätere morphologische Entwicklungsstörungen sollten jedoch per Kardiotokographie
oder durch Ultraschallfeindiagnostik ausgeschlossen werden. Andere Ergotamin-abkömmlinge
siehe Abschnitt 2.1.13 und 2.15.3.
2.14.4
Tokolytika allgemein
Kritische Analysen zeigten, dass der Nutzen einer medikamentösen Tokolyse fast ausschließlich
im Kurzzeitbereich von 24–48 Stunden liegt, ein Zeitraum, der es erlaubt, die Schwangere
in ein Perinatalzen-trum zu verlegen und eine Lungenreifungsbehandlung mit Glucocorti
coiden durchzuführen (Higby 1999, Katz 1999). Eine wirkliche Prävention von Frühgeburten
muss weiter greifen. Kein Langzeittokolyse-Schema hat eindeutig zur Verringerung von
kindlicher Morbidität und Mortalität beigetragen (Higby 1999).
Als Wehenhemmer wurden bzw. werden β-adrenerge Substanzen, Calciumantagonisten, Magnesium,
Prostaglandin- und Oxytocinan-tagonisten und Nitroglycerin verwendet. Am weitesten
verbreitet sind verschiedene β
2-selektive Sympathomimetika. Diese auch in der Asthmatherapie bewährten Pharmaka
haben weniger kardiovaskuläre Nebenwirkungen als die nichtspezifischen β-Sympathomimetika.
2.14.5
β
2-Sympathomimetika
Pharmakologie und Toxikologie.
Fenoterol (Partusisten®) ist das in Deutschland am meisten zur Wehenhemmung verwendete
β
2-Sympa-thomimetikum. Auch Clenbuterol, Ritodrin, Salbutamol, Terbutalin und das nicht
β
2-spezifische Hexoprenalin gehören zu den in der Toko-lyse gebräuchlichen β-Sympathomimetika.
Bei intravenöser Applikation begrenzen kardiovaskuläre Wirkungen die Anwendung von
β-Sympathomimetika. Seit langem und kontrovers wird die Wirksamkeit der oralen Behandlung
erörtert (Baumgarten 1985). Obwohl vergleichbare Konzentrationen wie bei der intravenösen
Behandlung erreicht werden (Von Mandach 1995), wird eine effektive tokolytische Wirkung
angezweifelt.
Tierexperimentell und in einzelnen Fallberichten beim Menschen wurden Myokardnekrosen
beim Fetus und Myokardinfarkte bei der Mutter nach Tokolyse mit β
2-Sympathomimetika beobachtet. Ein erhöhter Sauerstoffbedarf des Myokards zusammen
mit dem durch das Tokolytikum bedingten intrazellulären Calciumeinstrom wird als Ursache
diskutiert. Ein vermuteter kardioprotektiver Einfluss von Verapa-mil führte zeitweise
zur Kombination beider Pharmaka (Weidinger 1973), bis Berichte über Lungenödeme unter
dieser Kombination bei gleichzeitiger Überwässerung erschienen (Grospietsch 1981).
Lungenödeme wurden auch bei einer Tokolyse mit Ritodrin alleine wiederholt beschrieben.
Insbesondere bei Kombination mit Corticosteroiden steigt die Gluco-sekonzentration.
Das kann bei insulinabhängigen Diabetikerinnen zum abrupten Anstieg des Insulinbedarfs
führen.
Wiederholt wurden hyperkinetische Verhaltensauffälligkeiten im Kindesalter als Folge
wochenlanger β-sympathomimetischer Tokolyse diskutiert. Auch über passagere neurologische
Abweichungen in den ersten Lebenstagen, die durch entsprechende Tests im Vergleich
zu nicht exponierten Neugeborenen ermittelt wurden, ist berichtet worden (Thayer 1997).
Eine abschließende Beurteilung ist hierzu bisher nicht möglich.
Empfehlung für die Praxis:
Eine Kurzzeittokolyse mit β
2-Sympathomimetika, kontinuierlich intravenös oder als Bolusgabe (Spätling 1993),
soll eine Verbesserung der Geburtsbedingungen ermöglichen, insbesondere durch eine
Lungenreifungsbehandlung. Eine gleichzeitige Verabreichung von Calciumantagonisten
wie Verapamil ist obsolet. Die Indikation für eine medikamentöse Langzeittoko-lyse
über länger als 48 Stunden sollte kritisch geprüft werden. Zur Kurzzeit- oder Notfalltokolyse
eignen sich auch β-Mimetika in Sprayform (Asthmaspray).
2.14.6
Calciumantagonisten
Pharmakologie und Toxikologie.
Ca++-Kanal-Blocker, wie z. B. Nifedipin oder Nicardipin, werden auch als Tokolytika
eingesetzt. Mehrere Untersuchungen haben Verträglichkeit und Wirksamkeit dieser Mittel
im Vergleich mit anderen Tokolytika wie β2-Sympathomimetika und Prosta-glandinantagonisten
bestätigt (El-Sayed 1998, Janet 1997, Papatsonis 1997). Bei bestehendem Hypertonus
bzw. Präeklampsie (siehe auch Kapitel 2.8) oder Diabetes mellitus besitzen die blutdrucksenkenden
Calciumantagonisten Vorteile gegenüber den β
2-Sympathomimetika. Sie scheinen seltener und weniger schwere Nebenwirkungen als diese
zu verursachen. Jedoch wurde vereinzelt über Myokardinfarkte berichtet (Oei 1999).
Die Kombination von Calciumantagonisten mit Magnesium kann durch die gemeinsame kumulierte
blutdrucksenkende Wirkung zu bedrohlichen Situationen für Mutter und Kind führen (Van
Veen 2004; siehe auch Abschnitt 2.8.5). Da die blutdrucksenkende Wirkung bei der sublingualen
Applikation am stärksten ist und hierbei die meisten bedrohlichen Blutdruckabfälle
beobachtet wurden, sollte Nifedipin als Tokolytikum nur oral verabreicht werden. Derzeit
gelten Nifedipin, Beta-Mimetika und Atosiban als gleich wirksam bei der Hemmung vorzeitiger
Wehen (Coomarasamy 2003, King 2003). Trotz fehlender Zulassung wird Nifedipin z.B.
in Großbritannien vom dortigen geburtshilflichen Fachgremium (RCOG) empfohlen. Nifedipin
gehört zu den essentiellen Medikamenten der WHO (World Health Organization 2005).
Empfehlung für die Praxis:
Calciumantagonisten eignen sich bei entsprechender Indikation zur Tokolyse. Vorsicht
ist bei gleichzeitiger i.v. Magnesiumbehandlung und sublingualer Applikation geboten.
2.14.7
Magnesium
Für den intravenösen Einsatz von Magnesiumpräparaten zur Wehenhemmung fehlt bisher
der Wirkungsnachweis. Zu Magnesium(sul-fat) siehe auch Abschnitt 2.8.5.
2.14.8
Prostaglandinantagonisten
Pharmakologie und Toxikologie.
Prostaglandinsynthesehemmstoffe werden von einigen Autoren zur Wehenhemmung empfohlen.
Eine spezifische Zulassung gibt es nicht. Benutzt werden insbesondere Indometacin
und Sulindac (Higby 1999, Morales 1993). Higby und Mitarbeiter (1993) sahen die Prostaglandinantagonisten
wie Indometacin sogar als die einzig effektiven Tokolytika an. Sulindac hat entgegen
anders lautender Mitteilungen die gleichen Nebenwirkungen wie andere Prostaglandinantagonisten
(Kramer 1999). Diese Mittel können zum vorzeitigen Verschluss des Ductus arteriosus
Botalli und über eine herabgesetzte Nierenfunktion des Fetus zum Oligohydramnion führen.
Dies ist offenbar bei kurzzeitiger Tokolyse (höchstens 48 Stunden) und vor Woche 30
kaum problematisch (Norton 1993). Andererseits sind generelle Vorteile dieser Wirkstoffgruppe
gegenüber den β
2-Sympathomime-tika und Calciumantagonisten nicht erwiesen. Indometacin wurde auch
zur Behandlung des Polyhydramnions angewendet (Nordstrom 1992).
Wenn die letzte Indometacin-Applikation nicht länger als 48 Stunden zurücklag, war
bei sonst vergleichbarem Befinden des Neugeborenen eine Surfactant-Therapie etwas
häufiger erforderlich als bei nicht exponierten Kindern (Abbasi 2003). Beim Vergleich
von 56 Frühgeborenen mit intrakranieller Hämorrhagie fand sich gegenüber 224 Kontrollen
kein signifikanter Zusammenhang mit einer Indometacin-Tokolyse (Suarez 2001). Von
8 Frühgeborenen, bei denen eine chirurgische Intervention wegen persistierendem Ductus
arteriosus erforderlich wurde, war ein größerer Anteil intrauterin mit Indometacin
exponiert als bei 69 konservativ therapierten Kindern (Suarez 2002). Als Ursache hierfür
wurde eine Schädigung der Intima des Ductus diskutiert, die den Spon-tanverschluss
verhindert hat (siehe auch Kapitel 2.1.11). In einer Meta-analyse beschreiben Cuzzolin
und Mitarbeiter (2001) Fälle mit renalen Komplikationen als Ausdruck möglicher Nephrotoxizität
nach tokoly-tischer Applikation von Prostaglandinantagonisten, weisen aber darauf
hin, dass diese eher selten sind. Beim Vergleich der Verträglichkeit dieser Mittel
ergaben sich widersprüchliche Ergebnisse. Sawdy und Mitarbeiter (2003) fanden bei
Indometacin, Sulindac und Nimesulid keinen Unterschied in der Wirksamkeit der Tokolyse
sowie bei maternalen oder neonatalen Nebenwirkungen. Sciscione und Mitarbeiter (2000)
wiesen jedoch auf ein unter Indometacin erhöhtes Risiko für broncho-pulmonale Dysplasien
hin.
Empfehlung für die Praxis:
Eine Tokolyse mit Prostaglandinantagonisten ist möglich. Auswirkungen auf den Kreislauf
und die Nierenfunktion des Fetus mit resultierendem Oligohydramnion müssen bedacht
werden (siehe auch Kapitel 2.1.11).
2.14.9
Oxytocinantagonisten
Pharmakologie und Toxikologie.
Seit dem Jahr 2000 ist der Oxytocinant-agonist Atosiban für die Wehenhemmung zugelassen.
Es ist ein paren-teral wirksames spezifisches Tokolytikum mit wenigen Nebenwirkungen.
Aus Preisgründen wird es in Deutschland überwiegend bei Problemsituationen eingesetzt,
wie z.B. Diabetes mellitus. Fetotoxische Wirkungen wurden bisher nicht beschrieben.
Empfehlung für die Praxis:
Der klinische Wert von Atosiban zur Wehenhemmung ist gesichert.
2.14.10
Andere Tokolytika
Früher wurde Ethylalkohol erfolgreich als Tokolytikum eingesetzt. Seine Wirkung beruht
auf der Hemmung der Oxytocinausschüttung. Per intravenöser Zufuhr wurden 2% und mehr
im mütterlichen Blut angestrebt. Da die schädigende Wirkung von Alkohol auf die kindliche
Entwicklung nachgewiesen ist, gehört diese Therapie nicht mehr zu den akzeptablen
tokolytischen Maßnahmen.
Nitroglyzerin als Pflaster und i.v verabreicht hat sich in kleineren Untersuchungen
als wirksames Tokolytikum erwiesen. Kopfschmerzen waren ein häufiges therapiebedingtes
Symptom, das seine weitere Verbreitung verhinderte. Negative Auswirkungen auf den
Kreislauf des Neugeborenen sind aufgrund der kurzen Halbwertszeit nicht wahrscheinlich
(Black 1999, David 1998).
Der oral verfügbare Vasopressin-V1a-Rezeptor-Hemmstoff Relcovap-tan hat sich in einer
kleinen randomisierten Studie gegenüber Plazebo als wirksam bei der Wehenhemmung erwiesen
(Steinwall 2005).
Empfehlung für die Praxis:
Alkohol ist kontraindiziert. Nitroglyzerin kann, wenn eine entsprechende Indikation
vorliegt, unter Berücksichtigung der Nebenwirkungen als Tokolytikum eingesetzt werden.
2.14.11
Vaginaltherapeutika
Es gibt Hinweise dafür, dass die Behandlung bakterieller Vaginosen Frühgeburten verhindern
kann (Hoyme 2003, Donders 1999). Bei Risikoschwangerschaften scheint eine protektive
Wirkung möglich durch eine systemische antibiotische Behandlung, die eher als eine
vaginale Applikation von beispielsweise Clindamycin (z.B. Sobelin®) oder Me-tronidazol
(z. B. Arilin®) eine aszendierende Infektion vermeidet bzw. heilt (Donders 2000, Joesoef
1999). Eine systemische (orale) antiinfek-tive Therapie führt bei Berücksichtigung
der für die Schwangerschaft empfohlenen Mittel zu keinem entwicklungstoxischen Risiko
(siehe Kapitel 2.6).
Problematisch sind Povidon-Iod als Vaginal-Suppositorien und Iod-spülungen der Scheide
wegen der möglichen passageren Beeinträchtigung der fetalen Schilddrüsenfunktion ab
Woche 12 (siehe Abschnitt 2.17.3).
Die Behandlung mit anderen Vaginaltherapeutika, die Desinfizien-zien enthalten, z.B.
Dequaliniumchlorid (Fluomycin®), Hexetidin (Vagi-Hex®), Policresulen (Albothyl®) oder
mit Estrogenen steht bisher nicht im Verdacht, teratogen zu wirken. Im Bemühen um
eine rationale Therapie sollte man jedoch veraltete und in ihrer Wirksamkeit umstrittene
Mittel meiden. Auch der Einsatz von Nitrofuranen wie Furazoli-don und Nifuratel (inimur®)
sowie vom Antimykotikum Chlorphene-sin ist kritisch zu prüfen.
2.14.12
Spermizide Kontrazeptiva
Frei verkäufliche vaginale Kontrazeptiva, die als Creme, Gel, Tabletten oder Schaumovula
angeboten werden (z.B. Patentex®), enthalten Nonoxinol 9 als spermizid wirksame Substanz.
Diese Form der Kontrazeption galt jahrelang als völlig ungefährlich, bis 1981 in den
USA in einer Studie an 763 Kindern von Müttern, die trotz Anwendung vaginaler Kontrazeptiva
schwanger wurden, über einen geringen Anstieg der Fehlbildungsrate berichtet wurde
(Jick 1981). Eine Metaanalyse mehrerer, z.T. erheblich umfangreicherer Untersuchungen
konnte diesen Verdacht entkräften (Einarson 1990). In zahlreichen Publikationen wurde
erörtert, dass der Gebrauch dieses Spermizids über eine Schädigung der Vaginalschleimhaut
und eine Störung der physiologischen Bakterienflora eine HIV-Infektion bei entsprechendem
Kontakt begünstigen könne (Rosenstein 1998, Stafford 1998).
Empfehlung für die Praxis:
Eine Konzeption trotz Anwendung eines Nonoxi-nol-9-haltigen vaginalen Kontrazeptivums
stellt nach heutigem Wissen kein Risiko dar.
2.14.13
Intrauterinpessare
Die Kupferkonzentration im Eileitergewebe ist bei Frauen mit kupfer-haltigen IUCDs
(Intrauterine Contraceptive Devices) erhöht. Im Serum finden sich jedoch keine erhöhten
Coeruloplasmin- und Kupferkonzentrationen (Wollen 1994).
Einige 100 Schwangerschaften mit liegendem (und verbleibendem) IUCD sind bisher beschrieben
worden. Abort- und Frühgeburtsraten sind im Vergleich zu Frauen erhöht, die sich das
IUCD entfernen ließen. Sichere Hinweise auf ein spezifisches Fehlbildungsrisiko haben
sich nicht ergeben (Übersicht in Schardein 2000). Dies ist auch für das als Intrauterines
System (IUS) bezeichnete Produkt mit Levonorge-strel (Mirena®) zu erwarten.
Empfehlung für die Praxis:
Ein verbleibendes IUCD rechtfertigt aus embryotoxikologischer Sicht weder einen risikobegründeten
Abbruch einer Schwangerschaft noch erfordert es invasive Diagnostik (siehe Kapitel
1.15).
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2.15
Hormone
Hormone sind körpereigene Stoffe, die physiologische Prozesse steuern. Ihre Regulation
erfolgt auf drei Ebenen, der Zwischenhirn-Hypo-thalamus-Ebene (vorwiegend Releasing-Funktion),
der Stimulatore-bene in der Hypophyse und der Drüsenebene in den jeweiligen Organen.
Die Ausschüttung der Hormone wird über Regelkreise zwischen den drei Ebenen gesteuert.
Wenn die Mutter mit Hormonen behandelt wird, sind auch beim Fetus Auswirkungen auf
den verschiedenen Ebenen möglich.
Die in diesem Abschnitt besprochenen klassischen Hormone sind von den Gewebshormonen
oder Mediatoren zu unterscheiden, zu denen u.a. auch die Prostaglandine (siehe Abschnitt
2.14.1) und Leu-kotriene gehören.
2.15.1
Hypothalamus-Releasing-Hormone
Die hypothalamischen Releasinghormone, die im Zwischenhirn gebildet werden, sind aufgrund
ihrer Molekularmasse plazentagängig. Die folgenden Hormone gehören zu dieser Gruppe.
TRH (Thyrotropin releasing Hormone).
Synthetische Analoga sind Protirelin (z.B. Antepan®) und Corticorelin (CortiRel®,
CRH Ferring®).
TRH steuert die Schilddrüsenfunktion und regt die Prolaktinsekre-tion an. Mit seinem
Analogon Protirelin konnte man den Effekt präna-tal verabreichter Corticoide auf die
Lungenreifung des Fetus verstärken, eine günstige Wirkung auf das neonatale Atemnotsyndrom
ließ sich jedoch nach Auswertung von über 1.000 Fällen nicht nachweisen (Ballard 1998,
Collaborative 1998, ACTOBAT 1995). Glucocorticoide allein waren genauso wirksam. Es
wurde kontrovers diskutiert, ob die in der exponierten Gruppe beobachtete leichte
Entwicklungsverzögerung im Alter von 1 Jahr durch TRH bedingt ist (Crowther 1997,
McCormick 1997).
GHRH (Growth hormone releasing Hormone).
Synthetische Analoga sind Sermorelin und Somatorelin (GHRH Ferring®).
GHRH und seine Analoga wirken durchblutungsmindernd im Uterusbereich und hemmen die
Proliferation des Endometriums. Daher werden sie präoperativ zur Verkleinerung von
Myomen eingesetzt. Bei versehentlicher Anwendung während der Schwangerschaft sind
Abort und intrauterine Wachstumsretardierung denkbar. Diese Effekte wurden bisher
aber ebenso wenig beobachtet wie eine Hormonwirkung auf den Fetus (Übersicht bei Briggs
2005).
GnRH (Gonadotropin releasing Hormone) bzw. LHRH (Luteiniz-ing hormone releasing Hormone).
Synthetische Analoga sind Buse-relin (z.B. Profact®), Gonadorelin (z.B. Kryptocur®),
Goserelin (Zola dex®), Leuprorelin (z.B. Enantone®), Nafarelin (Synarela®) und Trip-torelin
(z.B. Decapeptyl®). Cetrorelix (Cetrotide®) und Ganirelix (Orgalutran®) sind Antagonisten
der GnRH. Therapeutisch werden GnRH-Analoga bei hypothalamischer Ovarialinsuffizienz
und in der Onkologie eingesetzt und ebenso wie die GnRH-Antagonisten zur Vermeidung
eines vorzeitigen Anstiegs des luteinisierenden Hormons (LH) und damit eines vorzeitigen
Eisprungs im Rahmen einer assistierten Reproduktion.
Bei über 340 im 1. Trimenon versehentlich mit GnRH-Analoga behandelten Schwangeren
fanden sich weder eine Häufung angeborener Anomalien oder Fehlgeburten noch eine hemmende
Wirkung auf das intrauterine Wachstum (Übersicht in Cahill 1998, Elefant 1995). In
einer nur 6 Kinder umfassenden Untersuchung wurden bei 4 Kindern im Alter von durchschnittlich
8 Jahren Entwicklungsauffälligkeiten diagnostiziert, wie z.B. Aufmerksamkeitsdefizite,
motorische und Sprachstörungen sowie bei einem Kind eine Epilepsie. Die Autoren führen
dies auf einen möglichen entwicklungstoxischen Effekt der GnRH-Analoga zurück (Lahat
1999). Klinische Erfahrungen mit der versehentlichen Gabe von GnRH-Antagonisten bei
einer bereits bestehenden Schwangerschaft sind unzureichend für eine Risikobewertung,
bisher liegen jedoch keine Verdachtsmomente für eine Schädigung des Embryos vor. Bei
der üblichen Anwendung in der Reproduktionsmedizin scheinen GnRH-Agonisten und -Antagonisten
hinsichtlich Wirksamkeit und Schwangerschaftsverlauf vergleichbar zu sein.
Somatostatin (Somatostatin®) und Octreotid (Sandostatin®), ein synthetisches Octapeptidderivat
des Somatostatins, hemmen sowohl die Freisetzung des Somatotropins (STH) wie auch
des Thyreoidea stimulierenden Hormons (TSH). Unter den Hypothalamushormonen nimmt
Somatostatin daher eine Sonderstellung ein. Therapeutisch wird es als Hämostyptikum,
bei Karzinoiden und zur Senkung der Wachstumshormonkonzentration bei Akromegalie verwendet.
In einigen Fallberichten wird über die Behandlung Schwangerer mit Octreotid berichtet,
ohne dass Nebenwirkungen beobachtet wurden (Boulanger 2004, Blackhurst 2002, Takeuchi
1999, Colao 1997). Lanreotid (Somatuline Autogel®), ein Analogon des Somatostatins,
wird seit 2005 zur Therapie der Akromegalie eingesetzt.
Pegvisomant (Somavert®) ist ein Somatotropin-Rezeptorantagonist, der bei Akromegalie
eingesetzt wird und – verglichen mit den bisherigen Therapieoptionen – den Insulin-like-growth-factor-1
(IGF-1) und damit die Symptome der Akromegalie am effektivsten senkt (Stewart 2003).
Erfahrungen zur Anwendung in der Schwangerschaft liegen noch nicht vor.
Empfehlung für die Praxis:
Für den Einsatz der hypothalamischen Releasing-hormone gibt es während der Schwangerschaft
kaum eine Indikation. Eine versehentliche Applikation erfordert weder einen risikobegründeten
Schwangerschaftsabbruch noch invasive Diagnostik (siehe Kapitel 1.15).
2.15.2
Hypophysenvorderlappenhormone
Im Hypophysenvorderlappen (HVL) werden Hormone gebildet, die endokrine Körperdrüsen
stimulieren oder regulieren. Die Freisetzung der HVL-Hormone wird durch hypothalamische
Releasinghormone gesteuert. Hypophysäre Hormone sind aufgrund ihrer hohen Molekularmasse
nicht plazentagängig, eine direkte Beeinflussung des Fetus ist daher nicht zu erwarten.
Die folgenden Hormone gehören zu den HVL-Hormonen.
Adrenocorticotropes Hormon (ACTH), als Medikament Tetracos-actid (Synacthen®), stimuliert
die Synthese der Gluco- und Mineralo-corticoide in der Nebennierenrinde.
Thyreotropin oder Thyreoidea stimulierendes Hormon (TSH) stimuliert die Synthese der
Schilddrüsenhormone.
Somatotropin (STH) oder Wachstumshormon (GH) (z.B. Genotro-pin®, Norditropin®), ein
dem Somatotropin strukturell und funktionell ähnliches Hormon, wird von der Plazenta
mit Fortschreiten der Schwangerschaft in zunehmender Menge gebildet. Es wird auch
als humanes plazentares Laktogen (HPL) oder seltener als humanes cho-riales Somatomammotropin
(HCS) bezeichnet. Funktionell hat es Ähnlichkeit mit Prolaktin (siehe unten).
Zu den Gonadotropinen zählen das Follikelstimulierende Hormon (FSH) (Urofollitropin,
Follitropin alpha, Follitropin beta; z.B. Gon-alf® 75, Puregon®) und das Luteinisierungshormon
(LH). Während der Schwangerschaft wird das dem LH analog wirkende HCG (Humanes Choriongonadotropin)
in der Plazenta synthetisiert.
Prolaktin fördert zusammen mit einigen anderen Hormonen das Wachstum der Milchgänge
und die Synthese der Milchproteine, außerdem beeinflusst es den Flüssigkeitshaushalt
der Mutter. Es hat keine therapeutische Bedeutung.
Von den Hypophysenvorderlappenhormonen werden FSH und Gemische aus FSH und LH therapeutisch
eingesetzt, dazu gehören plazentares HCG (Humanes Choriongonadotropin; z.B. Choragon®)
und HMG (Humanes Menopausengonadotropin). Analoga sind Menotro-pin (Menogon®) bzw.
Urogonadotropin. Indikationen für diese Hormonbehandlung sind Ovulationsinduktion
und Erhaltung des Corpus luteum.
Eine Stimulierung der Ovulation mit Gonadotropinen kann zu Mehrlingsschwangerschaften
führen, darunter in 5–6 % zu Drillingen (Scialli1986
). Zwei Publikationen beschreiben eine komplexe Fehlbildung und vier Neuroblastomfälle
im ersten Lebensjahr nach Gonadotropin-stimulation (Mandel 1994, Litwin 1991). Diese
Befunde wurden durch andere Untersuchungen ebenso wenig bestätigt wie andere Risiken
für den Verlauf der Schwangerschaft oder die spätere Kindesentwicklung. Es gibt auch
keine nennenswerten Hinweise auf eine Schädigung, wenn Hormone des Hypophysenvorderlappens
versehentlich während einer Schwangerschaft appliziert wurden.
Melatonin steuert periphere, dem Biorhythmus unterworfene Vorgänge im Organismus.
Es stimuliert die Progesteronsekretion, hemmt die Prostaglandinsynthese und hat (experimentell)
einen tokolytischen Effekt. Es liegen keine ausreichenden Erfahrungen zur therapeutischen
Anwendung von Melatonin in der Schwangerschaft vor, z. B. zur Vermeidung des Jetlags
bei Interkontinentalflügen.
Empfehlung für die Praxis:
Für die Gabe von Hypophysenvorderlappenhormo-nen gibt es in der Schwangerschaft keine
Indikation. Eine versehentliche Applikation rechtfertigt weder einen risikobegründeten
Schwangerschaftsabbruch noch invasive Diagnostik (siehe Kapitel 1.15).
2.15.3
Prolaktinantagonisten/Dopaminagonisten
Pharmakologie und Toxikologie.
Sterilität infolge eines hyperprolaktinämi-schen Hypogonadismus (Galaktorrhö-Amenorrhö-Syndrom)
oder pro-laktinbildender Tumoren (Prolaktinome) wird üblicherweise mit zentral wirkenden,
von Ergotalkaloiden abstammenden Dopaminagonisten behandelt. Zu diesen gehören Bromocriptin
(z. B. Pravidel®), Cabergo-lin (z.B. Dostinex®), Lisurid (Dopergin), Metergolin (Liserdol®)
und der Dopaminagonist Quinagolid (Norprolac®), der nicht zu den Ergotalkaloiden gehört.
Eine Untersuchung von 2.587 Schwangerschaften, in denen Bromocriptin während der ersten
Wochen gegeben wurde, zeigte zwar einen geringen Anstieg der Frühabortrate, jedoch
keine Hinweise auf terato-gene Effekte (Krupp 1987). Da die meisten Frauen die Therapie
nach Feststellung der Schwangerschaft abgesetzt hatten, bestätigt das Ergebnis der
Untersuchung gleichzeitig die Unschädlichkeit der weiter bestehenden Hyperprolaktinämie
für den sich entwickelnden Fetus. Eine Studie mit 27 Schwangerschaften bewies ebenfalls
Verträglichkeit und Wirksamkeit einer Therapie von Mikro- und Makroprolaktinomen mit
Bromocriptin oder Lisurid, selbst wenn sie bis in die Frühschwangerschaft hinein erfolgte.
Treten bei Makroprolaktinomen im Verlauf der Schwangerschaft ophthalmologische Probleme
auf, wird die Wiederaufnahme der Therapie empfohlen (Ventz 1996). In Einzelfällen
empfiehlt sich eine Dauertherapie während der gesamten Schwangerschaft.
Cabergolin, das aufgrund seiner längeren Wirkdauer nur ein- bis zweimal pro Woche
eingenommen werden muss, hat in über 300 unter dieser Therapie entstandenen Schwangerschaften
keinen Anhalt für teratogene Effekte gezeigt (Ricci 2002, Robert 1996), selbst wenn
in einzelnen Fällen durchgehend behandelt wurde (de Turris 2003, Jones 1997).
Bei 9 Schwangerschaften, in denen die Frauen wegen einer Bromo-criptinresistenz mit
Quinagolid therapiert wurden, zeigten die Neugeborenen keine Auffälligkeiten. In 4
Fällen war eine Therapie bis zur Geburt erforderlich (Morange 1996). Weitere 159 vom
Hersteller gesammelte Schwangerschaftsverläufe, bei denen durchschnittlich 37 Tage
in die Schwangerschaft hinein behandelt wurde, geben ebenfalls keine Hinweise auf
entwicklungstoxische Effekte (zitiert in Webster 1996).
Metergolin ist wahrscheinlich ähnlich wie die übrigen Dopaminago-nisten zu bewerten.
Die wenigen Erfahrungen reichen für eine differenzierte Risikobewertung nicht aus.
Empfehlung für die Praxis:
Bromocriptin und Cabergolin sind bei hyperprolak-tinämischer Amenorrhö aufgrund der
umfangreichen Erprobung Dopaminago-nisten der Wahl. Nach der Konzeption sollte das
Mittel in der Regel abgesetzt werden. Eine Weiterbehandlung rechtfertigt jedoch weder
einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch noch invasive Diagnostik (siehe Kapitel
1.15). Dies gilt auch für die Anwendung von Lisurid, Metergolin und Quinagolid.
2.15.4
Hypophysenhinterlappenhormone
Pharmakologie und Toxikologie.
Von der Neurohypophyse, dem Hypo-physenhinterlappen (HHL), werden Oxytocin und Vasopressin
(Adiu-retin) sezerniert. Strukturell ähneln diese Oktapeptidhormone den hypothalamischen
Hormonen.
Oxytocin (z. B. Syntocinon®) ist das klassische Wehenhormon. Während der Schwangerschaft
wird es in zunehmender Menge gebildet und gleichzeitig durch die ebenfalls gesteigerte
Synthese des Enzyms Schwangerschaftsoxytocinase inaktiviert. Erst bei fetaler Reife
wird dieses Gleichgewicht zugunsten des Oxytocins verändert oder vorzeitig bei einer
Plazentafunktionsstörung, so dass Kontraktionen des Uterus über ct-Rezeptoren induziert
werden.
Eine Hypoxie des Fetus kann als Folge einer Oxytocinüberdosierung und Überstimulation
des Uterus im Rahmen der Geburtseinleitung auftreten (siehe auch Kapitel 2.14).
Vasopressin oder antidiuretisches Hormon (ADH) spielt therapeutisch auch in der Schwangerschaft
eine Rolle bei der Behandlung des Diabetes insipidus. Über teratogene Wirkungen wurde
bisher nicht berichtet (Ray 1998). Das Enzym Schwangerschaftsoxytocinase inaktiviert
neben Oxytocin auch Vasopressin.
Von den synthetischen Analoga Argipressin, Desmopressin (z.B. Minirin®), Lypressin,
Ornipressin und Terlipressin (z.B. Glycylpres-sin®) wurde zur Behandlung des schwangerschaftsbedingten
Diabetes insipidus am häufigsten Desmopressin verschrieben. Die tierexperimentell
induzierbaren, offenbar durch Vasokonstriktion hervorgerufenen peripheren Extremitätenanomalien
wurden beim Menschen bisher ebenso wenig beobachtet wie andere spezifische Schwangerschaftsstörungen.
Allerdings ist die Zahl dokumentierter Verläufe mit rund 50 für eine differenzierte
Risikobeurteilung zu klein (Siristatidis 2004, Ray 1998).
In Fällen mit Thrombozytenfunktionsstörung, wie z.B. nach einer Therapie mit Acetylsalicylsäure
(ASS), vermag Desmopressin die Aktivität der Thrombozyten zu stimulieren. Der Einsatz
erfolgt meist kurzfristig peripartal.
Empfehlung für die Praxis:
Oxytocin darf in der Geburtshilfe zur Einleitung und Verstärkung von Wehen eingesetzt
werden. Schwere Fälle von ADH-Mangel (Diabetes insipidus) rechtfertigen die Gabe von
Vasopressin bzw. Desmopressin in der Schwangerschaft. Dabei sind jedoch genaue Kontrollen
der Kreislauf- und Nierenfunktion unerlässlich. Auch bei einer Thrombozytenfunktionsstörung
kann Desmopressin gegeben werden. Eine Behandlung mit den anderen Vasopressin-analoga
rechtfertigt weder einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch noch invasive Diagnostik
(siehe Kapitel 1.15).
2.15.5
Schilddrüsenfunktion und Iodversorgung in der Schwangerschaft
Die hormonalen Veränderungen und der geänderte Stoffwechselbedarf während der Schwangerschaft
gehen bei jeder gesunden Frau mit einer physiologischen Anpassung der Schilddrüsenfunktion
einher. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für die normale embryonale und fetale
Entwicklung sowie für eine ungestörte Schwangerschaft.
Die fetale Schilddrüse nimmt ihre Aktivität am Ende des dritten Schwangerschaftsmonats
auf (Burrow 1994), vorher ist der Embryo ganz auf die Thyroxinversorgung durch die
Mutter angewiesen.
In der Schwangerschaft steigt der mütterliche Bedarf an Iodid. Sowohl die mütterliche
als auch die fetale Schilddrüsenfunktion sind von einer ausreichenden Iodzufuhr abhängig.
In Iodmangelregionen muss daher möglichst schon vor der Schwangerschaft eine ausreichende
Iodversorgung sichergestellt werden. Eine Substitution erst nach dem 2. Trimenon kann
bei gravierendem Iodmangel-Reifungsstö rungen des Zentralnervensystems nicht mehr
verbessern (Xue-Yi 1994, Pharoah 1984).
Der tägliche Iodbedarf während der Schwangerschaft beträgt 260 μg. Auch in der Bundesrepublik
Deutschland ist die Iodaufnahme häufig unzureichend. Da eine Zufuhr durch Iodsalz,
iodierte Nahrungsmittel und Seefische unzuverlässig erscheint, sollten während der
Schwangerschaft täglich 200 μg mit Tabletten substituiert werden.
2.15.6
Hypothyreose, Triiodthyronin (T3) und Thyroxin (T4)
Hypothyreote Schwangere haben ein höheres Risiko für Komplikationen (Glinoer 1997)
und außerdem kann eine Hypothyreose die geistige Entwicklung des Kindes beeinträchtigen.
Dies ist seit langem insbesondere im Zusammenhang mit Iodmangel bekannt.
Eine neuere Studie an über 60 hypothyreoten Frauen (nach 12 Schwangerschaftswochen
diagnostiziert) ergab, dass ihre bis zum Alter von 2 Jahren nachverfolgten Kinder
mental und motorisch schlechtere Testergebnisse zeigten als Kinder von euthyreoten
oder leicht hyperthy-reoten Schwangeren (Pop 2003). Auch Haddow (1999) kam bei einer
Untersuchung an ca. 60 sieben- bis neunjährigen Kindern zu ähnlichen Ergebnissen;
die Mütter litten in der Schwangerschaft an einer diskreten Hypothyreose. Daher sollten
Unterfunktionen der mütterlichen Schilddrüse gerade auch im Interesse des werdenden
Kindes diagnostiziert und behandelt werden. Zum Risiko einer Hypothyreose des Neugeborenen
nach thyreostatischer Therapie der Mutter siehe auch Abschnitt 2.15.7.
Pharmakologie und Toxikologie.
Die hormonal wirksamen Schilddrüsenhormone sind die L-Formen von Triiodthyronin (T3)
und Thyroxin (T4), die nur in freier, nicht-proteingebundener Form stoffwechselaktiv
sind. T3 ist dabei das biologisch wirksame Hormon, das relativ schnell anflutet und
eine kürzere Wirkdauer hat, während T4 als ein weniger wirksames Prohormon oder Hormondepot
anzusehen ist, das bedarfsgesteuert zu T3 deiodiert wird. Die Plazenta benötigt für
ihre Entwicklung Schilddrüsenhormone, sie deiodiert T4 zu rT3 (reverses T3) und T3zu
T2. Die Plazenta lässt Schilddrüsenhormone nur eingeschränkt passieren (Burrow 1994).
Jedoch kommt bei fetaler Schilddrüsenagenesie ein quantitativer Transfer aufgrund
des dann bestehenden hohen Konzentrationsgradienten zustande.
An Arzneimitteln stehen Levothyroxin (z. B. Eferox®) und Liothyro-nin (z.B. Thybon®)
oder Kombinationspräparate (z.B. Novothyral®) zur Verfügung. Teratogene oder fetotoxische
Wirkungen sind bei den üblichen Dosierungen, die physiologische Verhältnisse herstellen,
nicht zu erwarten. In der Schwangerschaft steigt der Bedarf an Schilddrüsenhormon,
so dass hypothyreote Frauen ihre Dosis entsprechend anpas sen müssen. Als Kontrollparameter
für die richtige therapeutische Einstellung dient der TSH-Wert (Alexander 2004).
Empfehlung für die Praxis:
Im Bedarfsfall sollten Präparate mit Levothyroxin verordnet werden, da der mütterliche
Organismus durch die Konversion zu Tri-iodthyronin die Kontrolle über die tatsächliche
Hormonaktivität behält. Falls erforderlich, ist auch Iod zu substituieren. Zu Beginn
einer Schwangerschaft (ab 5 Schwangerschaftswochen) sollte die T4-Dosis um ca. 30%
gesteigert werden. Als Faustregel gilt die Empfehlung, dass Schwangere nach Feststellung
der Schwangerschaft die Thyroxindosis um 25–50 μg erhöhen sollen. Im 2.Trimenon ist
eine weitere Dosiserhöhung erforderlich und zwar auf 40–50 % über der Ausgangsdosis
vor der Schwangerschaft. Mit dem TSH-Wert lässt sich die therapeutische Einstellung
kontrollieren. Schilddrüsenhormone sollen nicht parallel zu einer thyreostatischen
Therapie gegeben werden, da dies den Bedarf an plazentagängigen Thyreostatika erhöht.
2.15.7
Hyperthyreose und Thyreostatika
Eine unbehandelte, manifeste Hyperthyreose der Mutter stellt ein Risiko für die Schwangerschaft
und den Fetus dar. Beschrieben sind fetale Wachstumsretardierung, Präeklampsie, Frühgeburt
und intrauteriner Fruchttod bzw. Totgeburt (Glinoer 1997). Bei der Basedow-Krankheit
wie auch bei der Hashimoto-Thyreoiditis, die in der Regel zur Hypo-thyreose führt,
sollten zu Beginn der Schwangerschaft und am Anfang des 3. Trimenons die Schilddrüsen-Autoantikörper
bei der Schwangeren bestimmt werden. Hohe Werte, besonders von TSH-R-Immunglobulinen
(= TSI) sind ein Hinweis darauf, dass diese Antikörper diaplazentar übergehen könnten.
Man schätzt, dass es auf diese Weise bei 1–2% der Schwangeren mit Basedow-Krankheit
zu einer vorübergehenden Hyperthyreose beim Fetus bzw. Neugeborenen kommt (Carrol
2005). Eine kürzlich veröffentlichte prospektive Studie an 115 Frauen berichtet über
eine wesentlich höhere Rate von 12,6 %. Vier Neugeborene mit gesteigerter Schilddrüsenfunktion
hatten eine Struma (Rosenfeld 2005).
Pharmakologie und Toxikologie.
Zu den Thyreostatika zählen Propylthio-uracil (PTU; Propycil®), Carbimazol (z.B. Carbimazol-Henning®)
und Thiamazol bzw. Methimazol (z.B. Favistan®), ein aktiver Metabolit des Carbimazols.
Alle Mittel können zum Fetus gelangen. Der plazen-tare Übergang von Methimazol und
Propylthiouracil ist vergleichbar (Briggs 2005). Bei der Schilddrüsenfunktion der
Neugeborenen wurden keine signifikanten Unterschiede zwischen den verschiedenen Thyreostatika
gefunden.
Unter einer mütterlichen Erhaltungsdosis von bis zu 100 mg PTU oder bis zu 10 mg Methimazol
pro Tag zeigten 21 bzw. 14 % der Kinder neonatal erhöhte TSH-Werte (Momotani 1997).
In der oben erwähnten Studie von Rosenfeld (2005) hatten 9,5% der Neugeborenen nach
intrauteriner PTU-Exposition eine Hypothyreose und 5,4% gleichzeitig eine Struma.
Nicht bei allen dieser Kinder war die Schilddrüsenfunktion unmittelbar nach der Geburt
supprimiert, sondern zum Teil erst bei der Kontrolluntersuchung nach zwei Wochen.
Fallbeschreibungen führten zu der Hypothese, Methimazol könne beim Fetus Hautdefekte
(Aplasia cutis), Choanalatresie, Ösophagus-atresie, tracheo-ösophageale Fisteln, hypoplastische
Brustwarzen, faziale Dysmorphien und eine mentale sowie motorische Entwicklungsverzögerung
verursachen (Barbero 2004, Karg 2004, Ferraris 2003, Karlsson 2002, Clementi 1999,
Wilson 1998, Hall 1997, Johnsson 1997, Vogt 1995). Foulds (2005) kommt bei der Sichtung
aller Kasuistiken zu dem Schluss, dass es inzwischen 16 Fallberichte von Kindern oder
Feten gibt, die im 1. Trimenon Methimazol/Carbimazol exponiert waren und die ein Fehlbildungsmuster
aufweisen, das als Embryopathie zu werten ist.
Auf der anderen Seite haben mehrere Fallsammlungen weder nach Behandlung mit PTU noch
bei Carbimazol/Methimazol morphologische Entwicklungsstörungen (Wing 1994) oder Auswirkungen
auf Größe und Funktion der Schilddrüse und auf die physische und intellektuelle Entwicklung
der Kinder erkennen lassen (Eisenstein 1992, Messer 1990). In einer multizentrischen
prospektiven Fall-KontrollStudie an 204 Methimazol exponierten Schwangerschaften fand
sich kein erhöhtes Gesamtfehlbildungsrisiko. Allerdings wies unter den 8 Kindern mit
Fehlbildungen eines eine Choanalatresie und ein anderes eine Ösophagusatresie auf
(Di Gianantonio 2001).
Aufgrund der jetzigen Datenlage kann man feststellen, dass Thyreo-statika nicht zu
einer nennenswerten Zunahme der Gesamtfehlbil-dungsrate führen. Allerdings kann Methimazol
mit einer Häufigkeit von 1/1.000 bis 1/10.000 exponierte Feten zu o.g. Organentwicklungsstörungen
führen (Cooper 2002, Diav-Citrin 2002).
Eine sorgfältig eingestellte thyreostatische Therapie führt heute kaum noch zu einer
schweren angeborenen Struma. Früher wurden strumabedingte Atemwegsobstruktion und
Behinderung des Geburtsvorgangs als Folgen der Therapie mit Thyreostatika, zum Teil
in Kombination mit hoch dosiertem Iod oder mit Schilddrüsenhormonen, beschrieben (Übersicht
bei Briggs 2005). Insgesamt sollte sich die Therapie mit Thy-reostatika eher an klinischen
Befunden, wie der Herzfrequenz der Mutter, als an Laborwerten orientieren.
Natriumperchlorat (Irenat®) ist nur selten bei übermäßiger Iodauf-nahme indiziert.
In der Schwangerschaft kann es den Iodtransfer zum Fetus beeinträchtigen.
Bei schwerer Thyreotoxikose der Mutter kann eine operative Strumaresektion auch während
der Schwangerschaft indiziert sein.
Empfehlung für die Praxis:
Eine manifeste Hyperthyreose muss auch in der Schwangerschaft behandelt werden. Propylthiouracil
ist, insbesondere im 1. Tri-menon, Thyreostatikum der Wahl, Thiamazol (Methimazol)
und Carbimazol sind als Reservemittel zu betrachten. Thyreostatika sind so niedrig
wie möglich zu dosieren. Die thyreostatische Therapie soll nicht mit einer Thyroxinsupplementie-rung
kombiniert werden, da diese den Thyreostatikabedarf der Mutter erhöht. Sowohl fetale
Hypothyreosen als auch eine Hyperthyreose wurden gelegentlich nach mütterlicher Thyreostatikatherapie
infolge des plazentaren Übergangs mütterlicher Autoantikörper beschrieben. Daher sollte
die Schilddrüse des Fetus sonographisch kontrolliert werden. Unverzichtbar ist das
Screening der Schild-drüsenlaborparameter beim Neugeborenen, das in vielen Ländern
routinemäßig durchgeführt wird. Zu erwägen ist eine zweite Kontrolle nach 14 Tagen.
Leichte Symptome einer Hyperthyreose mit grenzwertigen Laborparametern können in der
Schwangerschaft symptomatisch ohne Thyreostatika behandelt werden, z. B. mit β-Rezeptorenblockern
wie Propranolol oder Metoprolol. Nach Therapie mit Thiamazol (Methimazol) und Carbimazol
im 1. Trimenon sollte eine Ultraschallfeindiagnostik zur Bestätigung der normalen
Entwicklung des Fetus angeboten werden.
2.15.8
Hyperthyreose und Radioiodtherapie
Siehe Kapitel Diagnostika 2.20.
2.15.9
Glucocorticoide
Pharmakologie.
Die Nebennierenrinde (NNR) bildet 2 verschiedene Hormongruppen, die Gluco- und die
Mineralocorticoide, die u.a. den Kohlenhydrat- und Mineralstoffwechsel regeln. Während
der Schwangerschaft treten Veränderungen im Hormonhaushalt der NNR auf. Etwa vom 3.
Monat an erhöht sich die Konzentration des Cortisols im Serum und die Ausscheidung
steigt zum Ende der Schwangerschaft an.
Therapeutisch sind vor allem Glucocorticoide von Bedeutung. Man unterscheidet die
nicht halogenierten von den halogenierten Cortico-iden. Die ausschließlich lokal,
dermal oder inhalativ verwendeten Derivate werden an anderer Stelle besprochen (siehe
unter Asthma, Derma-tika, Augen-, Nasen- und Ohrentropfen). In der Plazenta werden
Cortisol und Prednisolon, nicht aber Betamethason und Dexamethason enzymatisch inaktiviert.
Perinatal finden sich im fetalen Blut nur 10% der mütterlichen Konzentration von Prednison
und Prednisolon; bei Betamethason sind es 30% und bei Dexamethason nahezu 100%.
Hauptindikationen für Glucocorticoide.
Glucocorticoide sind in der Therapie allergischer, entzündlicher und proliferativer
Erkrankungen wirk sam. Dabei werden unphysiologisch hohe Dosierungen eingesetzt. Außerdem
werden sie in der Substitutionstherapie bei Nebennierenrin-denversagen verabreicht
und zur Induktion der Lungenreife des Fetus. In Tabelle 2.1
sind für die verschiedenen Glucocorticoide die Dosierungen zusammengefasst, deren
Wirksamkeit 10 mg Prednisolon entsprechen.
Tab. 2.1
Wirksamkeitsvergleich der verschiedenen Glucocorticoide. 10 mg Prednisolon entsprechen
Einige Handelsnamen
Halogeniert/Fluoriert
Betamethason
1,5 mg
z.B. Celestamine® N
+
Budesonid*
z. B. Budenofalk®
Cloprednol
5 mg
Syntestan®
+
Cortisonacetat
50 mg
Cortison CIBA®
Deflazocort
12 mg
Calcort ®
Dexamethason
1,5 mg
z.B. Fortecortin®
+
Flucortolon
10 mg
z. B. Ultralan®
+
Hydrocortison
40 mg
z. B. Posterisan®
Methylprednisolon
8 mg
z. B. Urbason®
Paramethason
4 mg
Prednison
10 mg
z. B. Decortin®
Prednyliden
12 mg
Rimexolon**
Rimexel®
Triamcinolon
8 mg
z. B. Volon®
+
*
Budesonid gibt es zwar auch als Tabletten, diese wirken jedoch vorwiegend lokal im
terminalen Ileum/aufsteigenden Colon.
**
Rimexolon wird nur lokal angewendet.
Eine Substitution ist selten indiziert, z.B. bei Addison-Krankheit. Die erforderlichen
Dosen an Glucocorticoiden und Mineralocorticoiden helfen, wieder physiologische Verhältnisse
zu erreichen, und haben weder für die Mutter noch für den exponierten Fetus Nebenwirkungen.
Eine Langzeitbehandlung mit hohen therapeutischen Dosen bei allergischen, entzündlichen
oder proliferativen Erkrankungen führt zu gravie renden mütterlichen Nebenwirkungen,
wie z.B. Cushing-ähnlichen Symptomen und Osteoporose. Beim Absetzen kann es zum Nebennie-renrindenversagen
kommen. Sollte eine Behandlung des Fetus notwendig sein, ist aufgrund des besseren
plazentaren Übergangs insbesondere Dexamethason zu bevorzugen. Für eine systemische
Dauertherapie der Mutter eignen sich fluorierte Corticoide dagegen nicht.
Teratogene und fetotoxische Effekte.
Die meisten Erfahrungen zu systemisch verabreichten Glucocorticoiden gibt es für Prednison
und Pred-nisolon (die biologisch aktive Form von Prednison), insbesondere im 1. Trimenon.
Im Tierversuch können Glucocorticoide teratogen wirken. Gaumenspalten lassen sich
speziell bei Mäusen verursachen. Zur Frage der Lippen-Gaumen-Spalten beim Menschen
konnten retrospektive Studien ein Risiko nicht vollständig ausschließen (Pradat 2003,
Rodriguez-Pinilla 1998). Eine Meta-Analyse aller bisher publizierten Kohorten- und
Fall-Kontroll-Studien (Carmichael 1999, Czeizel 1997, Fraser 1995, Robert 1994) ergibt
ein signifikant erhöhtes Risiko für Spaltbildungen (Odds Ratio 3,4) bei nicht erhöhter
Gesamtfehlbildungsrate (Park-Wyllie 2000). Eine neue prospektive kontrollierte Studie
mit 311 im 1. Trimenon exponierten Müttern fand weder ein erhöhtes Gesamt-fehlbildungsrisiko,
noch einen einzigen Fall von Lippen-Gaumen-Spalten (Gur 2004). Auch Hardy (2005) fand
keine Assoziation zwischen oraler Steroidmedikation und Spaltbildungen. Zusammenfassend
ist ein geringes Risiko für Gaumenspalten mit oder ohne Lippenbeteiligung nicht auszuschließen,
wenn während der sensiblen Phase zwischen Woche 8 bis 11 mit Glucocorticoiden behandelt
wird. Eine sichere Dosis lässt sich zwar nicht angeben, aber bei 10 bis 15 mg Pred-nisolon/Tag
ist das individuelle Risiko extrem gering.
In Abhängigkeit von der Therapiedauer, Dosis und Indikation kann es bei Behandlung
mit Glucocorticoiden zur intrauterinen Wachstums-retardierung (IUGR), zur Frühgeburt
sowie zu vorübergehender Hypo-glykämie, Hypotonie und Elektrolytstörungen beim Neugeborenen
kommen. In einer neueren Arbeit konnten weder beim Geburtsgewicht noch bei der Basiskonzentration
von Cortisol und bei Cortisolwerten nach Stressinduktion durch Impfungen Unterschiede
zwischen Kindern mit längerer Prednisolon-Exposition in der Schwangerschaft und solchen
gesunder Mütter gefunden werden. Die Kinder wurden mindestens bis zum Alter von 4
Monaten untersucht (Miller 2004).
Induktion der Lungenreife.
Recht gut untersucht sind die Effekte von prä-natal verabreichten, plazentagängigen,
halogenierten Glucocortico-iden, um die Lungenreifung zu fördern und ein Respiratory-Distress-Syndrom
(RDS) beim Neugeborenen zu verhindern. Die Überlebensrate der Frühgeborenen steigt
durch diese Therapie, und Hirnblutungen treten seltener auf. Eine Betamethason- oder
Dexamethason-Therapie zur fetalen Lungenreifung zwischen Schwangerschaftswoche 24
und 33 führte in zwei Untersuchungen an über 140 Schwangeren in den Tagen nach Applikation
bei den Betamethason exponierten Feten zu ausgeprägten, als Stresssymptome interpretierten
Reaktionen, wie z.B. herabgesetzte Atem- und Körperbewegungen sowie eine eingeschränkte
Variabilität der Herzfrequenz. Das Befinden der Neugeborenen war letztlich unbeeinträchtigt
(Senat 1998, Mulder 1997). In einer retrospektiven Studie wurde ein vermehrtes Auftreten
von gastrointesti-nalem Reflux bei Neugeborenen gefunden, die vorgeburtlich mit Stero-iden
behandelt wurden (Chin 2003).
Der wehenfördernde Effekt sowie ein vorzeitiger Verschluss des fetalen Ductus arteriosus
nach Gabe von Glucocorticoiden in der Spätschwangerschaft scheinen klinisch nicht
relevant zu sein. Entgegen einzelner Mitteilungen tritt eine Neugeborenensepsis nach
Induktion der Lungenreife mit Glucocorticoiden nicht gehäuft auf.
Langzeitbeobachtungen bis zum Alter von 12 bis 30 Jahren zeigten überdies keine körperlichen,
intellektuellen und psychosozialen Auffälligkeiten nach Glucocorticoidanwendung zur
Lungenreifung (Dalziel 2005, Dessens 2000, French 1999, Rotmensch 1999).
Bei drohender Frühgeburt nach Schwangerschaftswoche 28 wird heute eine einmalige Applikation
von Glucocorticoiden für ausreichend gehalten. Wenn Schwangere Dexamethason bzw. Betamethason
zur Lungenreifung des Fetus vor Woche 28 erhalten haben und später erneut eine Frühgeburt
droht, kann eine zweite Gabe sinnvoll sein (RCOG 2004, NIH 2001). Nach Schwangerschaftswoche
34 ist eine medikamentöse Unterstützung der Lungenreifung in der Regel nicht notwendig.
Empfehlung für die Praxis:
Eine Substitution mit Corticoiden ist auch in der Schwangerschaft selbstverständlich
weiterzuführen. Die Induktion der Lungenreifung bei drohender Frühgeburt wird einmalig
zwischen Schwangerschaftswoche 28 und 34 durchgeführt. Eine systemische Behandlung
der Mutter mit Glucocorticoiden darf bei entsprechender Indikationsstellung auch in
der Schwangerschaft durchgeführt werden. Prednison und Prednisolon sind hierfür Mittel
der Wahl. Die Erhaltungsdosis sollte zwischen Woche 8 und 11 möglichst 10 mg/Tag nicht
überschreiten. Notfallbehandlungen unterliegen selbstverständlich keinen Dosisbeschränkungen.
Bei einer selten erforderlichen, höher dosierten Behandlung über viele Wochen sollte
das fetale Wachstum sonographisch beobachtet werden. Dauert diese Therapie bis zur
Geburt, muss eine Nebenniereninsuffizienz des Neugeborenen bedacht und ggf. behandelt
werden.
2.15.10
Nebennierenmarkhormone
Siehe Kapitel 2.3.
2.15.11
Diabetes mellitus und Schwangerschaft
Diabetes mellitus ist der Sammelbegriff für heterogene Störungen des Stoffwechsels,
deren Leitsymptom die chronische Hyperglykämie ist. Man unterscheidet im Wesentlichen
drei Typen. Während Typ I auf einer gestörten Insulinsekretion beruht, sind Typ II
und der Gestations-diabetes (GDM) durch eine gestörte Insulinwirkung gekennzeichnet.
Beide Ursachen können auch gleichzeitig vorkommen.
Ein vor oder zu Beginn einer Schwangerschaft bestehender mütterlicher Diabetes mit
ungenügender Blutzuckerkontrolle (HbA1c > 6,5 %) korreliert mit einer erhöhten Rate
an Fehlbildungen. HbA1 markiert als „Blutzuckergedächtnis” die Blutzuckerstoffwechsellage
der Patientin für die Dauer der Erythrozytenüberlebenszeit (120 Tage). Je höher der
HbA1c ist, desto höher ist das Risiko. Bei einem HbA1c von 8,5 % wird ein Fehlbildungsrisiko
von 4 % angegeben; liegt das HbA1c bei 10,5 %, steigt es auf 6 % an. Zu den häufigsten
Fehlbildungen bei Kindern dia-betischer Mütter zählen Anomalien an Wirbelsäule und
Extremitäten, am Herz-Kreislauf-System sowie Neuralrohrdefekte, seltener sind urogenitale
Entwicklungsstörungen, gastrointestinale Fisteln und Atresien (Übersicht bei Briggs
2005, Loffredo 2001).
Bei diabetischen Schwangeren ist die Abortrate erhöht, die perinatale Mortalität liegt
deutlich über dem Durchschnitt und die Frühgeburtenrate beträgt fast 20% (Arbeitsgemeinschaft
2004, Gamson 2004). Die neonatale Morbidität ist gekennzeichnet durch makrosome Neugeborene
mit ungenügender Organreife, Mangelentwicklung und postparta-len Stoffwechselstörungen,
insbesondere von Hypoglykämien. Bei allen Neugeborenen diabetischer Mütter muss eine
Hypoglykämie ausgeschlossen werden.
Ein manifester Diabetes mellitus kann in der Schwangerschaft zu ute-roplazentaren
Versorgungsproblemen und daraus resultierenden Erkrankungen der Mutter führen, wie
z. B. Präeklampsie.
Die überwiegende Mehrheit der Diabeteserkrankungen des Typs II und auch von erstmals
in der Schwangerschaft auftretendem Gestati-onsdiabetes (GDM) entwickelt sich auf
dem Boden eines metaboli-schen Syndroms („Wohlstands”-Adipositas mit Hyperlipidämie,
Hypertonie und Glucosetoleranzstörung). Am Anfang besteht eine Insulinresistenz der
insulinabhängigen Gewebe, so dass erhöhte Insulinspiegel zur Verwertung von Glucose
in den Geweben notwendig sind. Durch die Hyperinsulinämie wird das Hungergefühl erhöht,
das wiederum zur erhöhten Nahrungsaufnahme, weiterer Adipositas etc. führt - ein Cir-culus
vitiosus. Abnehmen führt zu sinkenden Insulinspiegeln und zu einer erhöhten Sensibilität
und Dichte der Insulinrezeptoren. Eine Gewichtsreduktion auf einen Body-Mass-Index
(BMI) möglichst von ≤27 kg/m2 sollte vor einer Schwangerschaft erreicht werden! Zum
Risiko von vorbestehender Adipositas für die Schwangerschaft siehe auch Abschnitt
2.5.26.
Eine gute Stoffwechseleinstellung mit Normoglykämie ist das Ziel jeder Diabetestherapie
in der Schwangerschaft, denn die diabetische Fetopathie geht auf Hyperglykämien der
Mutter zurück, die auch beim Fetus zur Hyperglykämie führt. Dieser reagiert mit einer
gesteigerten Insulinproduktion, die zu einer Beta-Zell-Hypertrophie/-Hyperplasie führt.
Eine fetale Hyperinsulinämie begünstigt auch die Entwicklung eines Respiratory-Distress-Syndroms
(RDS) durch Ausbildung hyaliner Membranen und Beeinträchtigung der Surfactantbildung
in den fetalen Pneumozyten durch Eingriff in enzymatische Vorgänge. Bei Kindern von
Müttern mit unzureichender Blutzuckereinstellung in der Schwangerschaft (meist beim
unerkannten oder unzureichend behandelten GDM) ist das Risiko erhöht, bereits in der
Pubertät oder im jungen Erwachsenenalter adipös zu werden oder einen Diabetes mellitus
bzw. eine Glukosetoleranzstörung zu entwickeln. Übergewicht und Gestati-onsdiabetes
nehmen weltweit in den Industrienationen zu, so dass inzwischen von einer Häufigkeit
des GDM von bis zu 20 % ausgegangen wird. Die AWMF-Leitlinien empfehlen, bei jeder
Schwangeren (mindestens) einen Glucosetoleranztest durchzuführen (Arbeitsgemeinschaft
2001).
Während der Schwangerschaft ändert sich die Insulinempfindlichkeit: In Woche 8–12
besteht eine erhöhte Insulinempfindlichkeit mit höherer Hypoglykämiegefahr, während
in der zweiten Schwangerschaftshälfte die Insulinempfindlichkeit abnimmt, so dass
oft eine Dosissteigerung notwendig wird. Sofort nach der Entbindung kehrt die ursprüngliche
Insulinempfindlicheit zurück.
Empfehlung für die Praxis:
Bei Diabetes mellitus ist die exakte Einhaltung der Normoglykämie die beste Voraussetzung
für eine ungestörte prä- und postnatale Entwicklung des Kindes und eine geringe mütterliche
Morbidität. Dieses Ziel sollte möglichst schon vor einer geplanten Schwangerschaft
erreicht werden. Jede schwangere Diabetikerin sollte unabhängig vom Typ des Diabetes
fachgerecht interdisziplinär betreut werden und möglichst in einem Perinatalzentrum
entbinden.
2.15.12
Insulin
Pharmakologie und Toxikologie.
Das Inselorgan, der endokrine Anteil des Pankreas, bildet und sezerniert Insulin,
Glucagon und Somatostatin. Klinische Bedeutung besitzt vor allem die Störung der Insulinproduktion,
Glucagon ist für die Gegenregulation bei Hypoglykämien wichtig. Humaninsulin ist im
Gegensatz zu oralen Antidiabetika nicht plazentagängig. Eine bessere Blutzuckerkontrolle
und Vorteile für das Befinden des Neugeborenen können erreicht werden, wenn in Form
einer intensivierten Insulintherapie täglich mindestens dreimal präprandial ein kurzwirksames
Insulin appliziert wird, eventuell ergänzt durch ein Langzeitinsulin zur Nacht, anstelle
der zweimaligen Applikation eines Langzeitinsulins.
Die Substitutionstherapie mit humanem Insulin bei schwangeren Diabetikerinnen hat
nach den sehr umfangreichen Erfahrungen keine embryotoxischen Wirkungen.
Das ideale Insulin für die Behandlung Schwangerer sollte ähnlich wie die natürliche
Insulinsekretion des Pankreas zu einer guten glyk-ämischen Kontrolle bei der Mutter
führen und nicht die Plazenta passieren. Außerdem sollte es keine oder kaum Antikörperbildung
auslösen („not immunogenic”), denn es gibt Hinweise darauf, dass AntiInsulin-Antikörper
im Gegensatz zu Insulin die Plazenta passieren können. Die mütterliche Morbiditätsrate
soll durch ein neues Insulin nicht erhöht werden und eine bestehende diabetische Retinopathie
sollte sich nicht verschlimmern (minimale IGF-I-Aktivität). In aller Regel erfolgt
die Einstellung Schwangerer mit humanem Normalinsulin und Verzögerungsinsulin.
Seit einigen Jahren gibt es Insulinanaloga: kurzwirksames Insulin-lispro (HUMALOG®),
Insulinaspart (NovoRapid®, NovoMix®), Insu-linglusilin (z.B. Apidra®) und die langwirksamen
Präparate Insulin-glargin (Lantus®) und Insulindetemir (Levemir®).
Insulinlispro ist in vielen, meist kleineren retrospektiven und pro-spektiven Studien
an insgesamt mehr als 500 Schwangeren nach den oben genannten Kriterien am besten
untersucht (Wyatt 2005, Cypryk 2004, Garg 2003, Masson 2003, Scherbaum 2002, Persson
2002, Bhattacharyya 2001). Bisher wurde unter Insulinlispro keine erhöhte Fehlbildungsrate
beobachtet, das Blutzuckertagesprofil gleicht dem von Humaninsulin, der Blutglucosewert
1 Stunde postprandial ist bei Insu-linlispro niedriger (Mecacci 2003). Daraus ist
jedoch nicht generell abzuleiten, dass die Neugeborenenparameter besser ausfallen.
In einer niederländischen Studie an 289 Schwangeren mit Typ-I-Diabetes wurde festgestellt,
dass im Vergleich zu normalgewichtigen Kindern Insulinlispro in der Gruppe makrosomer
Neugeborener mit 15% vs. 8% überrepräsentiert war (Evers 2002). Ein Fortschreiten
der diabetischen Retinopathie unter Insulinlispro wurde bisher nicht beobachtet, ist
aber auch noch nicht ausreichend untersucht (Loukovaara 2003, Buchbinder 2000). Nach
dem Stand der heutigen Erfahrungen ist die Bildung von Insulinantikörpern bei Behandlung
mit Insulinlispro und Humaninsulin ähnlich niedrig (Gamson 2004).
Insulinaspart ist bisher weniger untersucht. Eine multinationale europäische Studie
vergleicht zz. die mütterlichen und fetalen Komplikationen bei Typ-I-Diabetikerinnen
bei einer Therapie mit Insulinaspart und mit Humaninsulin (Actrapid®). Insulinglusilin
und die langwirksamen Insulinanaloga wie Insulindetemir sind fast gar nicht untersucht.
Aufgrund der Hinweise, dass sich eine Retinopathie unter Insulinglargin verschlechtern
könnte, sollten die langwirksamen Insu linanaloga spätestens bei Feststellung der
Schwangerschaft abgesetzt bzw. umgestellt werden (Übersicht Gamson 2004). Einzelne
Fälle (Devlin 2002) berichten über schwere nächtliche Hypoglykämien unter Normalinsulin,
die nach Umstellung auf Insulinglargin nicht mehr auftraten.
In der Erprobung befindet sich das kurzwirksame inhalierbare Insulin Pramlintid.
Empfehlung für die Praxis:
Ein Typ-I-Diabetes-mellitus muss schon vor einer Schwangerschaft mit Insulin gut eingestellt
sein. Humaninsuline sind Mittel der ersten Wahl. Eine gut auf Insulinlispro eingestellte
Frau muss in der Gravidität nicht zwangsläufig umgestellt werden. Langzeitanaloga
sollten jedoch abgesetzt werden. Schwangere mit einem Typ-II-Diabetes oder einem Gestationsdiabetes,
der diätetisch allein nicht ausreichend therapiert ist, sollten Humaninsulin erhalten.
Auch bei grenzwertig erhöhten Blutglukosewerten und dem Vorliegen einer fetalen Makrosomie
sollte mit einer Insulintherapie begonnen werden. Insulin tierischer Herkunft sollte
während der Schwangerschaft wegen möglicher Antikörperbildung nicht verwendet werden.
Bei schwangeren Diabetikerinnen, die bereits insulinpflichtig waren, kann der Insulinbedarf
stark ansteigen. Zur Therapiekontrolle ist die Ultraschallbiometrie des wachsenden
Fetus heranzuziehen. Da Glucocorticoide und Tokolytika die Kohlenhydrattoleranz der
Mutter verringern, sind bei Gabe dieser Medikamente besonders sorgfältige Stoffwechselkontrollen
anzuraten.
2.15.13
Orale Antidiabetika
Pharmakologie und Toxikologie.
Orale Antidiabetika sind keine Hormone und wirken nicht substitutiv wie Insulin. Die
überwiegend verwendeten Sulfonylharnstoffderivate stimulieren die noch funktionsfähigen
β-Zellen des Pankreas. Zu ihnen gehören als Mittel der zweiten Generation Glibenclamid
(= Glyburid; z. B. Euglucon® N), Glibornurid (Glu-tril®), Gliclazid (Diamicron Uno®),
Glimepirid (z.B. Amaryl®), Glipi-zid und Gliquidon (Glurenorm). Zu den Sulfonylharnstoffen
der ersten Generation zählen Acetohexamid, Chlorpropamid, Tolazamid und Tolbutamid
(Orabet®).
Die Biguanidderivate Metformin (z. B. Glucophage®) und Phenfor-min vermindern die
Glucosesynthese in der Leber, führen zu einer verzögerten Glucoseresorption aus dem
Darm und zur verstärkten Gluco-seaufnahme in die Muskulatur.
Acarbose (Glucobay®) und Miglitol (Diastabol®) verringern als a-Glucosidase-Hemmstoffe
die Kohlenhydratresorption im Darm. Dies ist ein umstrittener Weg der Diabetestherapie.
Die Glinide Nateglinid (Starlix®) und Repaglinid (NovoNorm®) sind postprandiale Glucosere-gulatoren,
die zu einer kurzfristigen Insulinsekretion aus den β-Zellen führen. Sowohl bei diesen
Medikamenten wie auch bei den Glitazonen Pioglitazon (Actos®) und Rosiglitazon (z.B.
Avandia®), die als so genannte „Insulin-Sensitizer” die Empfindlichkeit der peripheren
Zellen für Insulin verbessern, fehlen Wirksamkeitsbelege bezüglich der diabetesspezifischen
Spätfolgen. Evidenzbasierte, endpunktbezogene, positive Ergebnisse liegen nur für
Insulin, Metformin und für Sulfonyl-harnstoffpräparate vor.
Muraglitazar (Pargluva®) ist wie die anderen Glitazone auch ein Aktivator von Peroxisomen-Proliferator-aktivierten-Rezeptoren
(PPAR). Die Studienergebnisse zeigten ein erhöhtes Risiko kardiovaskulärer Ereignisse
und Todesfälle, so dass es von der US-amerikanischen Federal Drug Administration (FDA)
bislang nicht zugelassen wurde.
Sitagliptin ist ein Inkretin-Mimetikum: Im Darm vorkommende Hormone (Inkretine) steigern
bei Nahrungsaufnahme bedarfsgerecht die Insulinsekretion. Bei Diabetes werden weniger
Inkretine als bei Gesunden produziert. Sitagliptin blockiert den normalerweise raschen
Enzymabbau der Inkretine. Es ist noch nicht zugelassen.
Da orale Antidiabetika den Blutzucker nicht so zuverlässig regulieren wie Insulin,
sind sie wenig geeignet für die Behandlung des Diabetes in der Schwangerschaft. Studien
zur Anwendung in der Gravidität gibt es zu Glibenclamid und zu Metformin.
Glibenclamid
Beim Neugeborenen begünstigt es Hypoglykämien, wenn bis zum Ende der Schwangerschaft
behandelt wird. Einige ältere Untersuchungen beobachteten erhöhte Fehlbildungsraten
(Piacquadio 1991), die zunächst als Hinweise für ein teratogenes Risiko der oralen
Antidiabe-tika interpretiert wurden (Towner 1995). Heute wird vermutet, dass die unter
oralen Antidiabetika auftretenden Hyperglykämien selbst ein teratogenes Potenzial
besitzen. Insofern sind auch substanzspezifische Unterschiede in der Plazentagängigkeit
von untergeordneter Relevanz, z.B. ist Tolbutamid besser plazentagängig als Glipizid
(Elliott 1994) und Glibenclamid geht nur minimal über (Koren 2001). Neuere Fallberichte
beobachteten kein erhöhtes Fehlbildungsrisiko, eine differenzierte Risikobeurteilung
des teratogenen Potenzials erlauben sie jedoch nicht.
Randomisierte Untersuchungen fanden keine Unterschiede im Schwangerschaftsverlauf
und beim Status der Neugeborenen bei mehreren 100 mit Glibenclamid behandelten Frauen
mit Gestationsdiabetes im Vergleich zu Insulin. Die Therapie wurde jeweils nach der
Embryogenese begonnen. Im Nabelschnurblut konnte Glibenclamid nicht nachgewiesen werden,
die Insulinkonzentration war dort in beiden Gruppen gleich. Auch die Anzahl hypoglykämischer
Kinder und das durchschnittliche Geburtsgewicht unterschieden sich nicht signifi kant
(Jacobson 2005, Langer 2005, Kremer 2004). Jacobson (2005) beobachtete bei Glibenclamid
signifikant häufiger eine Präeklampsie. Ob diese Befunde ausreichen, die bisherigen
Empfehlungen für die Insulintherapie bei Gestationsdiabetes infrage zu stellen, erscheint
fraglich (Greene 2000).
Metformin
Metformin stimuliert im Gegensatz zu Glibenclamid nicht die Insulinsekretion und führt
auch nicht zur Hypoglykämie bei der Schwangeren. Bei übergewichtigen Diabetikern ist
die Gabe eines Wirkstoffs, der zu einer erhöhten Insulinempfindlichkeit und zu einem
verminderten Insulinbedarf führt, sinnvoller als die Gabe von Glibenclamid.
Metformin wird nicht nur bei Typ-II-Diabetikerinnen eingesetzt, sondern auch bei Frauen
mit einem PCOS (polyzystisches Ovar-Syndrom) im Rahmen der Sterilitätsbehandlung,
zur Senkung der erhöhten Abortrate und zur Vermeidung bzw. Therapie eines Gestationsdiabetes.
Studien zur Verträglichkeit im 1. Trimenon sind rar. Glueck (2004) fand bei 126 Schwangerschaften
keine Hinweise auf ein teratogenes Risiko. In mehreren Studien konnte eine Senkung
der Abortrate bei Frauen mit einem PCOS nachgewiesen werden (Palomba 2005, Jakubowicz
2002). Kontrovers diskutiert wird, wie lange Metformin zur „Stabilisierung der Schwangerschaft”
bei PCOS gegeben werden sollte. Bisher gibt es keine eindeutigen Belege dafür, dass
eine Gabe über Schwangerschaftswoche 6 bis 8 hinaus zu besseren Ergebnissen führt.
Die von Glueck et al., 2002, Glueck et al., 2002) postulierte präventive Wirkung hinsichtlich
Gestationsdiabetes durch eine über das 1. Trimenon hinaus fortgesetzte Therapie konnte
in einer randomisierten prospektiven Untersuchung nicht bestätigt werden (Vanky 2004).
Hier sind weitere Studien notwendig.
Zu Rosiglitazon und Acarbose gibt es nur wenige Einzelfallbeschreibungen (Kalyoncu
2005, Yaris 2004), zu den übrigen Antidiabetika liegen keine Erfahrungen in der Schwangerschaft
vor.
Empfehlung für die Praxis:
Auch eine Typ-II-Diabetikerin sollte schon bei Planung einer Schwangerschaft mit Insulin
eingestellt werden. Eine dennoch weitergeführte Therapie mit oralen Antidiabetika
rechtfertigt keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel 1.15).
Mit Ultraschallfeindiagnostik sollte die morphologische Entwicklung des Fetus kontrolliert
werden. Es ist bisher nicht erwiesen, ob beim Gestationsdiabetes nach dem 1.Trimenon
Glibencla-mid oder Metformin eine Alternative zum Insulin darstellen. Insulin ist
nach wie vor die Therapie der Wahl. Wurde Metformin bei PCOS zur Unterstützung der
Schwangerschaft gegeben, sollte es um Woche 6 bis 8 abgesetzt werden.
2.15.14
Estrogene
Pharmakologie und Toxikologie.
Nur während der Schwangerschaft wird außer Estron und Estradiol auch Estriol synthetisiert,
das sonst nur als Metabolit auftritt. Physiologisch und auch pharmakologisch wirken
Estrogene stimulierend auf das Wachstum von Uterus, Eileitern sowie besonders auf
das Wachstum des Endometriums. Weiterhin bewirken sie eine Proliferation des Vaginalepithels,
eine Zunahme der Zervixsek-retion und eine Weitstellung des Zervikalkanals. Die früher
manchmal übliche Gabe zur Verbesserung der Wehenbereitschaft am Termin wurde durch
wirksamere Pharmaka abgelöst.
Therapeutisch werden Estrogene heute zur hormonellen Kontrazeption, zur Substitution
im Klimakterium und zur Malignombehandlung verwendet. Zu den verfügbaren Substanzen
gehören Estradiol (z.B. Estrifam®) und seine Derivate Ethinylestradiol (Bestandteil
der meisten estrogenhaltigen „Pillen”), Estriol (z.B. Estriol JENA-PHARM®) und Mestranol
(in Esticia®). Polyestradiol sowie die Estrogene Fosfestrol, Chlorotrianisen und Epimestrol
sind derzeit nicht zugelassen.
Die relativ niedrig dosierten Zubereitungen zur hormonalen Kontrazeption (Kombinationspräparate
aus Estrogen und Gestagen) einschließlich der Notfallkontrazeption („Pille danach”)
und Zubereitungen zur Behandlung einer Amenorrhö sind aufgrund ihrer häufigen (versehentlichen)
Anwendung in der Frühschwangerschaft recht gut untersucht. Sie bergen offenbar kein
nennenswertes Risiko (Ahn 2005, Raman-Wilms 1995, Källén 1991), auch nicht für Geschlechtsdifferenzierungsstörungen,
wenn während des sensiblen Zeitraumes nach Schwangerschaftswoche 8 behandelt wurde.
Allerdings gibt es nach Fallberichten aus den 70er Jahren über Herzfehlbildungen,
VACTERL-Syndrom u.a. im Zusammenhang mit der Einnahme oraler Kontrazeptiva in der
Schwangerschaft vereinzelt auch neuere Publikationen, die eine erhöhte Rate von (Harnwegs-)Anoma-lien
diskutieren (Li 1995).
Auswirkungen einer intrauterinen Exposition mit Estrogenen auf die spätere Fertilität
konnten bisher nicht bestätigt werden. In einer Übersichtsarbeit wurden alle bisherigen
Studien zu Störungen der männlichen Reproduktion infolge einer intrauterinen Estrogeneinwirkung
analysiert. Hier wurden sowohl Medikamente der Mutter, physiologisch erhöhter Estrogenspiegel
(z.B. bei Zwillingsschwangerschaften), vegetarische (Soja-)Diät (Soja enthält nichtsteroidale
Phytoestrogene; siehe auch West 2005) und Umweltschadstoffe mit estrogenartiger Wirkung
(Organochlorverbindungen wie PCB oder Dioxine; siehe auch Kapitel 2.23) berücksichtigt.
Allenfalls beim Hodenkrebs, nicht jedoch bei Hypospadien, Hodenhochstand oder Spermienzahlen
ließ sich eine gewisse Assoziation erkennen (Storgaard 2006). Eine ältere Publikation
berichtet von abweichender psychosexueller Entwicklung pränatal exponierter Jungen,
deren diabetische Mütter mit Estradiol und Progesteron behandelt worden waren (Yalom
1973). Es gibt keine Hinweise für vergleichbare Entwicklungsstörungen im Zusammenhang
mit den heute üblichen „Pillen”.
Zur hoch dosierten Anwendung von Estrogenen, z.B. bei Malignomen, liegen keine ausreichenden
Erfahrungen vor.
Empfehlung für die Praxis:
Während einer Schwangerschaft gibt es keine Indikation für die Behandlung mit Estrogenen.
In der Frühschwangerschaft versehentlich eingenommene Kontrazeptiva erfordern weder
einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch noch zusätzliche Diagnostik (siehe
Kapitel 1.15). Dies gilt für die heute üblichen niedrig dosierten Ein- oder Mehrphasenpräparate
und die Behandlung einer Amenorrhö mit Ethinylestradiol und Norethisteronacetat. Die
versehentliche Applikation hoch dosierter Präparate für andere Indikationen rechtfertigt
ebenfalls keinen risikobegründeten Abbruch der Schwangerschaft. Eine Ultraschallfeindiagnostik
sollte jedoch, zumindest bei wiederholter Anwendung, die normale Organentwicklung
dokumentieren.
2.15.15
Gestagene
Pharmakologie und Toxikologie.
Progesteron wird von den Theka- und Luteinzellen der Ovarien gebildet, während der
Schwangerschaft verstärkt auch von der Plazenta. Im fetalen Organismus wird Progesteron
metabolisiert. Die Plazenta kann einzelne Metabolite enzymatisch wieder zu Progesteron
oxidieren. Progesteron wird als Pregnandiol ausgeschieden und teilweise zu Pregnantriol
abgebaut.
Als Arzneimittel werden folgende Substanzen angeboten: Chlorma-dinon (z.B. Chlormadinon
Jenapharm®), Desogestrel (z.B. Cerazette®), Drospirenon (in Petibelle®, Yasmin®),
Dydrogeston (Duphaston®), Gestonoron, Gestoden (in Femovan®, Minulet®), Hydroxyprogesteron
(z.B. Proluton®), Levonorgestrel (z.B. Microlut®), Lynestrenol (z.B. Orgametril®),
Medrogeston (Prothil®), Medroxyprogesteron (z.B. Clinofem®), Megestrol (Megestat®),
Norethisteron (z.B. Gestakadin®, Primolut-Nor®), Norgestimat (z.B. in Cilest®) und
Norgestrel (z.B. in Cyclo-Progynova®).
Seit etwa 40 Jahren werden Progesteron (z. B. Utrogest®) sowie halb-oder vollsynthetische
Derivate (z.B. 17-Hydroxyprogesteron) zur Behandlung des drohenden Abortes eingesetzt.
Bis heute gibt es jedoch keinen Wirkungsnachweis, deshalb ist das Behandlungskonzept
überholt (ACOG 2003). Bessere Erfolgsquoten nach Progesteronbehandlung können vorgetäuscht
sein, da die Patientinnen oft auch intensivärztlich und pflegerisch betreut werden.
Ein Symposium der WHO über Arzneimittelbehandlung während der Schwangerschaft hat
die Nutzlosigkeit dieser Therapie festgestellt, die in der Bundesrepublik Deutschland,
in Frankreich und Italien verbreitet war, in Skandinavien hingegen nicht praktiziert
wurde (WHO-Report 1984). Dennoch wird immer wieder beim drohenden Abort die Therapie
mit Gestagenen vorgeschlagen, heute meistens mit dem natürlichen Progesteron. Eine
aktuell noch diskutierte Indikation zur hormonellen Verhinderung eines Aborts ist
die HCG-Therapie bei der seltenen Corpus-luteum-Insuffizienz.
Der Zusammenhang zwischen Hormontherapie und vermehrtem Auftreten von Hypospadien
wird kontrovers diskutiert (Carmichael 2004, Källén 1992). Wenn überhaupt führen Gestagene
nur äußerst selten zu dieser häufig auch spontan vorkommenden und meist geringfügigen
Anomalie.
Die relativ niedrig dosierten Zubereitungen zur hormonalen Kontrazeption einschließlich
der Notfallkontrazeption („Pille danach”) und Produkte zur Behandlung einer Amenorrhö
sind aufgrund ihrer häufigen (versehentlichen) Anwendung in der Schwangerschaft recht
gut untersucht. Sie bergen insbesondere hinsichtlich extragenitaler Fehlbildungen
nach heutigem Wissen kein erkennbares Risiko (Ahn 2005, Brent 2000, Martinez-Frias
1998, Raman-Wilms 1995, Källén 1991). Allerdings gibt es nach Fallberichten aus den
70er Jahren über Herzfehlbildungen, VACTERL-Syndrom u.a. im Zusammenhang mit der Einnahme
von oralen Kontrazeptiva in der Schwangerschaft vereinzelt auch neuere Publikationen,
die eine erhöhte Rate von (Harnwegs-)-Anomalien diskutieren (Li 1995).
Die Notfallkontrazeption wird heute als reine Gestagentherapie mit 2 × 0,75 mg bzw.
1 × 1,5 mg Levonorgestrel (duofem®, Levogynon®) durchgeführt. Sicherheit, Verträglichkeit
und Nebenwirkungen haben ein so günstiges Profil, dass in einigen Ländern, wie z.B.
der Schweiz, eine verschreibungsfreie Abgabe erfolgt. Bei dieser Therapie wird der
Eisprung verhindert und kein Abort induziert. Embryotoxische Wirkungen wurden, falls
die Schwangerschaft doch weiter besteht, bisher nicht beschrieben (American Academy
of Pediatrics 2005, Food and Drug Administration 2003).
Geschlechtsdifferenzierungsstörungen durch Gestagene in kontrazeptiver Dosis während
des sensiblen Zeitraumes ab Schwangerschaftswoche 8 wurden nicht beobachtet. Wenn
jedoch wiederholt deutlich höhere Dosen der 19-Nor-Gestagene mit ihrem androgenisie-renden
Potenzial eingenommen wurden, kann eine vorübergehende Klitorisvergrößerung auftreten
(Übersicht bei Briggs 2005).
Negative Auswirkungen dieser intrauterinen Exposition auf die Ferti-lität im Erwachsenenalter
wurden bisher nicht vermehrt beobachtet. Die Entwicklung bis ins Jugendalter scheint
nach großen Langzeituntersuchungen, z.B. zu Depotpräparaten mit Medroxyprogesteron
(„Dreimonatsspritze”), altersgemäß zu verlaufen (Pardthaisong 1992). Früher wurde
nach Gabe androgener Gestagene (Norethisteronab-kömmlinge), in höherer Dosis als zur
Kontrazeption heute üblich, eine Auswirkung auf das spätere geschlechtsspezifische
Verhalten der Kinder angenommen.
Zur hoch dosierten Anwendung von Gestagenen, wie z.B. in der Malignomtherapie, liegen
keine ausreichenden Erfahrungen vor.
Empfehlung für die Praxis:
Während einer Schwangerschaft gibt es keine stichhaltige Indikation für die Therapie
mit Gestagenen. Dies gilt auch für das überholte Behandlungskonzept mit Progesteron
bei drohendem Abort. Doch weder eine solche Therapie noch in der Frühschwangerschaft
versehentlich eingenommene Kontrazeptiva erfordern einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch
oder zusätzliche Diagnostik (siehe Kapitel 1.15). Das gilt für die heute üblichen
niedrig dosierten Ein- oder Mehrphasenpräparate, die Notfallkontrazeption mit Levonorgestrel
und die Behandlung einer Amenorrhö mit Norethisteronacetat und Ethinylestradiol. Die
(versehentliche) Applikation hoch dosierter Präparate für andere Indikationen rechtfertigt
ebenfalls keinen risikobegründeten Abbruch der Schwangerschaft. In einem solchen Fall
kann mit Ultraschallfeindiagnostik die normale Organentwicklung dokumentiert werden.
2.15.16
Diethylstilbestrol
Pharmakologie und Toxikologie.
Diethylstilbestrol (DES) ist ein synthetisches nichtsteroidales estrogenaktives Arzneimittel,
das in den 70er Jahren in den USA zur Therapie des drohenden Abortes und außerdem
zur Begrenzung des Längenwachstums bei heranwachsenden Mädchen (Venn 2004) verordnet
wurde. Großes internationales Aufsehen erregte die Entdeckung, dass bei Töchtern,
deren Mütter während der Schwangerschaft DES erhalten hatten, im Adoleszentenalter
vermehrt Adeno-karzinome der Vagina auftraten (Herbst 1975). Dies ist der einzige
beim Menschen nachgewiesene Fall für vorgeburtlich ausgelöste Karzinome („transplazentare
Karzinogenese”). Das Risiko für diese bei jungen Frauen sonst seltene Erkrankung wird
mit bis zu 0,14% angegeben. Andere Krebsrisiken, wie z. B. für Brustkrebs, ließen
sich nicht eindeutig nachweisen (Hatch 1998).
Mindestens 25 % der im 1. Trimenon pränatal exponierten jungen Frauen wiesen außerdem
Anomalien an Scheide, Uterus oder Eileitern auf (Mittendorf 1995). Andere Untersucher
konnten kein erhöhtes Risiko für Leiomyome und Ovarialzysten erkennen, sahen aber
häufiger Parovarialzysten (Wise 2005). Bei männlichen Nachkommen besteht offenbar
ein erhöhtes Risiko für Kryptorchismus, testikuläre Hypoplasie und abnorme Samenzellmorphologie
(Mittendorf 1995). Ein erhöhtes Hypospadierisiko bei Söhnen, deren Mütter als Embryo
selbst pränatal exponiert waren, wird kontrovers diskutiert (Storgaard 2006, Palmer
2005, Klip 2002). Des Weiteren gibt es Hinweise darauf, dass solche Frauen ein erhöhtes
Risiko für Frühgeburten und andere Schwangerschaftskomplikationen haben (Papiernik
2005).
Die Behandlung mit Diethylstilbestrol ist seit langem obsolet. Sie wurde in Mitteleuropa,
im Gegensatz zu den USA, kaum praktiziert (Centers for Disease Control and Prevention
2006).
2.15.17
Androgene und Anabolika
Pharmakologie und Toxikologie.
Zu den als Arzneimittel verfügbaren Androgenen zählen Mesterolon, Testolacton und
Testosteron (Andriol®). Für diese Arzneimittelgruppe gibt es während der Schwangerschaft
keine Indikation. Alle früher üblichen, z.B. psychosexuellen Gründe für eine Androgengabe
bei Frauen, gelten heute als überholt. Auch die Anwendung zur Laktationshemmung wird
schon lange nicht mehr praktiziert.
Zu den Anabolika gehören z. B. Clostebol, Metenolon (z. B. in Anti-Focal®), Nandrolon
(z.B. Deca-Durabolin®) und Tibolon (Liviella®). Für diese Medikamente gibt es in der
Schwangerschaft ebenfalls keine Behandlungsindikation. Im Zusammenhang mit Kraftsport
und Bodybuilding werden jedoch „schwarz” importierte Präparate verwendet, die auch
ohne entsprechende Deklaration Androgene bzw. Anabolika enthalten können. Sie wurden
schon „versehentlich” während einer Schwangerschaft weiter genommen.
Die praktischen Erfahrungen zur pränatalen Verträglichkeit von Androgen- und Anabolika-Präparaten
reichen für eine differenzierte Risikobewertung, auch bezüglich einer androgenisierenden
Wirkung, nicht aus.
Empfehlung für die Praxis:
Androgene und Anabolika sind während der Schwangerschaft absolut kontraindiziert.
Eine versehentliche Anwendung erzwingt jedoch keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch
(siehe Kapitel 1.15). Insbesondere bei wiederholter Anwendung sollte mit Ultraschallfeindiagnostik
die Organentwicklung kontrolliert werden.
2.15.18
Antiestrogene, Antiandrogene und Danazol
Pharmakologie und Toxikologie.
Bicalutamid (Casodex®), Cyproteron (Androcur®; in Diane®35) und Flutamid (z.B. Fugerel®)
gehören zu den Antiandrogenen. Formestan und Raloxifen (z.B. EVISTA®), ein selektiver
Estrogenrezeptormodulator zur Behandlung der Osteopo-rose, sind antiestrogene Arzneimittel.
Danazol ist ein androgen wirkender Gonadotropinhemmer. Zu Aminoglutethimid und Tamoxifen
siehe Kapitel 2.13.17.
Cyproteronacetat ist das im reproduktionsfähigen Alter am häufigsten verschriebene
Antiandrogen. In Kombination mit Ethinylestradiol wird es als kontrazeptive Pille
(Diane®35) angeboten. Dieses Präparat wird besonders bei gleichzeitig bestehender
Akne verschrieben. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM)
hatte 1995 wegen des Verdachts auf Lebertumoren die Anwendung von Diane®35 drastisch
eingeschränkt. Das Präparat sollte nur noch bei Androgenisierungserscheinungen und
Akne mit Narbenbildung verschrieben werden.
Die antiandrogene Wirkung von Cyproteronacetat kann theoretisch zur Feminisierung
männlicher Feten führen. Doch selbst bei versehentlicher Fortführung der Behandlung
mit täglich 2 mg (in Diane®35) bis in die sensible Phase über Schwangerschaftswoche
8 hinaus, ist eine Feminisierung nicht beobachtet worden. Vom Hersteller wurden 23
Schwangere mit männlichen Feten registriert, die während der (nahezu) gesamten Genitalentwicklungsphase
2 mg täglich eingenommen hatten und weitere 6 Schwangere, die sogar 25–100 mg Cyproteron
täglich eingenommen hatten. Die 28 lebend geborenen Knaben waren normal entwickelt.
Bei einem Spätabort wurden ebenfalls keine Entwicklungsstörungen festgestellt. Weitere
Fallserien deuten ebenfalls nicht auf teratogene Effekte beim Menschen hin (eigene
Daten und die des European Network of Teratology Information Services, ENTIS). Allerdings
reicht der Umfang an Erfahrungen für eine differenzierte Risikobewertung nicht aus.
Danazol, ein synthetisches modifiziertes Androgen, leitet sich von Ethisteron ab und
ist ein antiestrogener Hemmstoff. Danazol wurde zur Behandlung der Endometriose, bei
benigner Knotenbildung in der Brust, hereditärem angioneurotischem Ödem und auch als
Kontrazep-tivum eingesetzt. Zahlreiche Publikationen mit über 100 exponierten Schwangeren
offenbaren ein erhebliches virilisierendes Risiko für weibliche Feten, wenn täglich
mit 200 mg noch nach Schwangerschaftswoche 8 (Funktionsaufnahme der Androgenrezeptoren)
behandelt wurde. Bei normalem innerem Genitale zeigten bis über 50% der pränatal exponierten
Mädchen eine Klitorisvergrößerung oder das Vollbild eines weiblichen Pseudohermaphroditismus.
Bei der späteren Entwicklung fanden sich keine weiteren Auffälligkeiten, wie z.B.
Virilisierung oder Störungen des Sexualverhaltens (Übersicht bei Briggs 2005). Eine
erhöhte Abortneigung nach Gabe von Danazol könnte auch durch die Endometriose als
Grunderkrankung verursacht sein.
Die Wirkung der übrigen in diesem Abschnitt angesprochenen Anti-estrogene und Antiandrogene
ist in der Schwangerschaft nicht untersucht, so dass eine differenzierte Risikobewertung
nicht möglich ist.
Empfehlung für die Praxis:
Antiestrogene, Antiandrogene und Danazol sind in der Schwangerschaft absolut kontraindiziert.
Eine versehentliche Applikation rechtfertigt jedoch keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch
(siehe Kapitel 1.15). Durch Ultraschallfeindiagnostik sollte die ungestörte Organentwicklung
zumindest bei höher dosierten Produkten bestätigt werden.
2.15.19
Mifepriston (RU486)
Pharmakologie und Toxikologie.
Mifepriston ist ein Progesteron- und Glu-cocorticoid-Antagonist. Es wurde 1999 als
Abortivum in Deutschland zugelassen. Eine Dosis von 600 mg ist für den Abbruch einer
Frühschwangerschaft erforderlich, in Kombination mit einem Prostaglan-dinpräparat
sind 200 mg jedoch ebenso effektiv (Peyron 1993).
Zu den pharmakologischen Effekten des Mifepristons zählen unter anderem die Senkung
der LH-(Luteinisierungshormon-)Sekretion, eine beschleunigte Gelbkörperregression
und die Zunahme der Kontraktili-tät der Uterusmuskulatur. Auswirkungen auf die plazentare
Produktion von Progesteron, Choriongonadotropin und humanem plazentaren Laktogen wurden
ebenfalls beobachtet.
Mifepriston wurde wegen seines Progesteronantagonismus auch als monatlich einzunehmendes
„Interzeptivum” (Wirksamkeit im Gegensatz zum Kontrazeptivum erst nach einer Konzeption)
versucht. Es hat sich dabei allerdings als ebenso wenig zuverlässig erwiesen wie zur
medikamentösen Beendigung extrauteriner Schwangerschaften. Außerdem wird der Einsatz
zur Zervixreifung, Geburtseinleitung sowie bei Endometriose und Uterus myomatosus
diskutiert.
Mifepriston überschreitet die Plazenta und beeinflusst tierexperimentell nicht die
Konzentration an fetalem Progesteron, Estradiol oder Cortisol. Nur die Aldosteronkonzentration
scheint anzusteigen.
Bezüglich Teratogenese sind die tierexperimentellen Ergebnisse widersprüchlich. In
einer Fallserie mit etwa 70 Schwangerschaften, die nach Abbruchversuchen mit Mifepriston
ausgetragen wurden, beobachtete man verschiedene Fehlbildungen, darunter 4 Kinder
mit Klumpfuß (Sitruk-Ware 1998). Eine spezifische teratogene Wirkung lässt sich aus
dieser Publikation und aus anderen Fallbeschreibungen, die mehrheitlich gesunde Neugeborene
umfassen (Pons 1991, Lim 1990), nicht eindeutig ableiten. Generell kann jedoch der
missglückte Versuch eines Schwangerschaftsabbruchs die fetale Entwicklung gefährden.
Empfehlung für die Praxis:
Falls eine Schwangerschaft nach vergeblicher Anwendung von Mifepriston ausgetragen
wird, sollte eine Ultraschallfeindiagnostik die normale Organentwicklung bestätigen.
Ein risikobegründeter Schwangerschaftsabbruch ist durch einen missglückten Abortversuch
nicht zwingend indiziert (siehe Kapitel 1.15).
2.15.20
Clomifen
Pharmakologie und Toxikologie.
Bei fehlender Ovulation ohne Hyperpro-laktinämie wird seit über zwei Jahrzehnten der
Estrogenantagonist Clomifen (z. B. ClomHEXAL®, Dyneric®) zur Ovulationsauslösung eingesetzt.
Eine Überdosierung, insbesondere in Kombination mit HCG (Humanes Choriongonadotropin),
kann zur Überstimulierung der Ova-rien führen. Zu den unerwünschten Wirkungen zählen
eine erhöhte Rate an Mehrlingsschwangerschaften und die Vergrößerung der Ova-rien.
Die Wirkung beruht offenbar auf einer kompetitiven Besetzung der Estrogenrezeptoren
im Hypothalamusbereich, die zu vermehrter LH-(Luteinisierungshormon-)Freisetzung führt.
Es gibt eine anhaltende Diskussion darüber, ob Clomifen Fehlbildungen, wie z.B. Neuralrohrdefekte,
verursacht (Van Loon 1992). Ein Fallbericht beschreibt eine Glaskörperanomalie bei
einem Kind, dessen Mutter 100 mg Clomifen bis Woche 6 eingenommen hatte (Bishai 1999).
In Japan wurden 1.034 durch Clomifen induzierte Schwangerschaften über einen Zeitraums
von 5 Jahren beobachtet. Von den 935 lebend geborenen Kindern wiesen 2,3 % Fehlbildungen
auf, eine gegenüber der Kontrollgruppe nicht erhöhte Rate (Kurachi 1983). Allerdings
wurde nicht differenziert, ob nur vor oder auch nach Eintritt der Schwangerschaft
mit Clomifen behandelt wurde. Die Fallsammlung eines Herstellers ergab bei 2.379 Clomifen-Patientinnen
58 Fehlbildungen (2,4%). Bei 158 Frauen fand die Clomifeneinnahme (auch) nach der
Konzeption statt, in dieser Gruppe hatten 8 Kinder (5,1 %) Fehlbildungen. Eine Studie
mit Daten eines Fehlbildungsregisters fand eine erhöhte Inzi-denz für Kraniosynostosen
bei 20 Schwangeren, die Clomifen vor oder während der Schwangerschaft eingenommen
hatten (Reefhuis 2002). Eine weitere ähnliche konzipierte Arbeit mit unbekannter Fallzahl
stellte signifikant häufiger penoskrotale Hypospadien nach Clomifen fest (Meijer 2005).
Ein erhöhtes individuelles Risiko lässt sich jedoch mit den derzeit vorliegenden Studienergebnissen
nicht belegen.
Empfehlung für die Praxis:
Clomifen darf zur Ovulationsauslösung verordnet werden, wenn die Patientin auf das
nicht vollständig entkräftete Risiko für Organentwicklungsstörungen hingewiesen wird,
und wenn sie auch das deutlich erhöhte Vorkommen von Mehrlingsschwangerschaften (nicht
nur Zwillinge) akzeptiert. Eine bestehende Schwangerschaft muss vor Beginn der Therapie
ausgeschlossen werden.
2.15.21
Erythropoietin
Unter rekombinantem humanem Erythropoietin versteht man die biotechnologisch hergestellten
Derivate Epoetin alfa (Eprex®, Erypo®), Epoetin beta (NeoRecormon®) und Darbepoetin
alfa (Aranesp®). Alle drei haben dieselbe biologische Wirkung wie das körpereigene
Erythropoietin, nämlich die Stimulation der Erythropoese.
Eythropoietine werden bei schwerer Anämie, z. B. bei chronischen Nierenerkrankungen
und nach Nierentransplantation, eingesetzt, aber auch bei Krebs- und HIV-Therapie,
sowie bei Thalassämie und bei the-rapieresistenter Anämie in der Schwangerschaft.
Rekombinantes humanes Erythropoietin ist nicht plazentagängig und hat sich in einer
Reihe von Berichten und Fallserien als gut verträglich in der Schwangerschaft erwiesen.
Ein nennenswertes Risiko für den Embryo/Fetus besteht nicht. Ob die in 4 Schwangerschaften
beschriebene schwere mütterliche Hypertonie und Verschlechterung der Nierenfunktion
der Schwangeren auf die Gabe von Erythropoietin zurückzuführen ist, konnte nicht abschließend
geklärt werden (Briggs 2005).
Zu Darbepoetin alfa liegen weniger Erfahrungen in der Schwangerschaft vor als zu Epoetin,
jedoch wurden negative Effekte bisher nicht beschrieben (Goshorn 2005).
Empfehlung für die Praxis:
Bei zwingender Indikation dürfen Epoetin alfa oder Epoetin beta auch in der Schwangerschaft
gegeben werden. Darbepoetin alfa sollte aufgrund der geringeren Erfahrung möglichst
nicht eingesetzt werden.
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2.16
Narkotika, Lokalanästhetika und Muskelrelaxanzien
Narkosemittel passieren aufgrund ihrer guten Lipidlöslichkeit rasch die Blut-Hirn-Schranke
und die Plazenta. Neben ihrer schlafinduzierenden Wirkung im Gehirn wirken sie häufig
dämpfend auf das Atemzentrum. Daher besteht in der Perinatalphase die Gefahr einer
verminderten Sauerstoffversorgung durch Hemmung der Spontanatmung des Neugeborenen.
Erfreulicherweise gibt es keine Hinweise, dass unkompliziert verlaufende Narkosen
beim Menschen zu pränatalen Entwicklungsstörungen führen. Weder die heute üblichen
Injektionsnarkotika noch die Inhalationsnarkotika besitzen nach derzeitigem Wissensstand
teratogene Eigenschaften. Allerdings können im Narkoseverlauf bei der Mutter auftretende
Beeinträchtigungen der Atmung, des Kreislaufs, verstärkte Kontraktionen des Uterus
oder Ereignisse wie eine maligne Hyperthermie auch den Fetus schädigen.
Obwohl es nur wenige epidemiologische Daten zu einzelnen Narkosemitteln gibt, wurden
in einigen größeren Studien die Auswirkungen chirurgischer Eingriffe unter Anästhesie
bei Schwangeren untersucht. Dabei wurden verschiedene Narkosemittel kombiniert. Keine
dieser Studien fand signifikante Hinweise auf schädigende Auswirkungen (Ebi 1994,
Duncan 1986, Brodsky 1980).
Einige Untersucher beobachteten eine erhöhte Abortrate nach Narkosen, es ist aber
schwierig, dies den Narkosemitteln zuzuordnen. Tierexperimentelle Ergebnisse zu einzelnen
Substanzen sind aufgrund der hohen Dosen und wiederholten Anwendungen nicht auf klinische
Situationen einer Anästhesie übertragbar.
Lokalanästhetika, die entweder gespritzt oder aufgesprüht werden, galten lange als
Mittel der Wahl in der Schwangerschaft, weil man annahm, dass sie am Ort der Applikation
verbleiben und nicht zum Fetus übergehen. Doch auch diese Form der Anästhesie schließt
Komplikationen nicht aus, da auch Lokalanästhetika je nach Ort und Durchblutung der
Injektionsstelle den Fetus über den mütterlichen Kreislauf erreichen können.
Im Zusammenhang mit operativen Eingriffen verwendete Muskelrelaxanzien sind quartäre
Ammoniumpräparate, die unter physiologischen Bedingungen stark ionisiert vorliegen
und daher nur langsam die Plazenta überschreiten. Trotzdem kommt es zu einem nachweisbaren
Übergang auf den Fetus.
2.16.1
Halogenierte Inhalationsnarkotika
Pharmakologie und Toxikologie.
Desfluran (Suprane®), Enfluran, Halo-than, Isofluran (z. B. Forene®) und Sevofluran
(Sevorane®) gehören zu den halogenierten Inhalationsnarkotika. In der Perinatalphase
ist zum einen ihre relaxierende Wirkung am Uterus zu beachten, die zur Minderung der
Wehentätigkeit führen kann, und zum anderen ihr atemdepressiver Effekt, vor allem
bei Risikogeburten.
Halothan
Halothan ist eines der ältesten und am weitesten verbreiteten halogenierten Inhalationsnarkotika.
Teratogene Wirkungen beim Menschen sind nicht bekannt. Im Tierversuch haben sich dagegen
Skelett- und andere Anomalien, Minderwuchs, Verhaltensabweichungen und Absterben der
Frucht gezeigt. Diese Auffälligkeiten wurden bei der üblichen Anwendung beim Menschen
nicht beobachtet. Bei Gabe von Halothan um den Geburtstermin (z. B. Sectionarkosen)
muss mit einer verstärkten Uterusrelaxation, einer erhöhten Blutungsgefahr sowie mit
einer Atemdepression des Neugeborenen gerechnet werden. Unter den volatilen Anästhetika
hat Halothan die stärkste kreislaufdepressorische Wirkung. Hohe Dosen können Herzrhythmusstörungen
und Herzstillstand verursachen, besonders wenn zusätzlich a-sympathomimetische Tokolytika
oder Katecholamine eingesetzt werden. Über Lebertoxizität wurde bei Wiederholungsnarkosen
berichtet.
Enfluran
Enfluran ist ein fluorierter Ether, der mit einer Metabolisierungsrate von 2–5 % nur
zu geringen Teilen verstoffwechselt wird. Die Anwendung bei Sectionarkosen wird vom
Neugeborenen gut vertragen (Tunstall 1989, Abboud 1985). Tierexperimentell gibt es
unter Versuchsbe-dingungen, die sich grundlegend von der klinischen Situation unterscheiden,
teilweise embryotoxische Effekte. Teratogene Wirkungen beim Menschen sind nicht bekannt.
Enfluran wird wegen der gegenüber Isofluran in fast allen Bereichen ungünstigeren
Eigenschaften (Anflutung, Abflutung, Kreislaufdepression, Metabolisierungsrate) nur
noch in wenigen Zentren für Narkosen benutzt.
Isofluran
Isofluran ist das Strukturisomer von Enfluran. Es gehört mit einer Metabolisierungsrate
von nur 0,2%, genau wie Desfluran, zu den am wenigsten verstoffwechselten halogenierten
Inhalationsnarkotika. Beilin und Mitarbeiter (1999) stellten bei Eiübertragungen im
Rahmen einer In-vitro-Fertilisation unter Isoflurannarkose keine verminderte Implantationsrate
fest. Sectionarkosen unter Isofluran werden vom Fetus gut vertragen, ein leichter
Anstieg der Bilirubinwerte beim Neugeborenen wurde diskutiert (De Amivi 2001). Tierexperimentell
wurden unter Versuchsbedingungen, die sich grundlegend von der klinischen Situation
unterscheiden, teilweise embryotoxische Effekte beobachtet. Teratogene Wirkungen beim
Menschen sind nicht bekannt.
Desfluran
Desfluran weist von allen Anästhesiemitteln den niedrigsten Blut/Gas-und Gewebe/Blut-Verteilungskoeffizienten
auf sowie die geringste Löslichkeit. Es ist das am schwächsten wirksame Narkosegas.
Desfluran wird von allen halogenierten Inhalationsnarkotika am wenigsten ver-stoffwechselt,
daher ist das toxische Potenzial gering. Wegen des schnellen Einschlafens und angenehmen
Aufwachens der Patienten wird Desfluran häufig für Sectionarkosen benutzt, ohne dass
Nachteile für die Neugeborenen oder die Mutter bekannt wurden. Es gibt zwei Fallberichte
über maligne Hyperthermie. Teratogene Wirkungen beim Menschen sind nicht bekannt.
Die uterusrelaxierende Wirkung ist abhängig von der Anästhesietiefe, ähnlich wie bei
den übrigen haloge-nierten Inhalationsnarkotika. Trotz des schnellen Anflutens kann
Des-fluran aufgrund seiner schwachen Wirksamkeit nicht als Einleitungsnarkotikum gewählt
werden. Die für eine Narkose erforderlichen Konzentrationen von mehr als 6% würden
die Atemwege reizen und könnten dadurch zu Atemanhalten führen.
Sevofluran
Sevofluran ist ein weiteres halogeniertes Anästhetikum, das als Halogen nur Fluorid
enthält. Aufgrund der physikalischen Eigenschaften ist der Anstieg im Blut etwas langsamer
als bei Desfluran, aber schneller als bei allen anderen halogenierten Inhalationsnarkotika.
Im Gegensatz zu Desfluran ist Sevofluran als Einleitungsnarkotikum gut geeignet. Die
Metabolisierungsrate liegt bei 3–5%. Dadurch kommt es im Blut zum Anstieg von anorganischem
Fluorid und im Atemkalk zur Bildung von so genanntem Compound A. Beide Substanzen
haben zwar ein nephro-toxisches Potenzial, erreichen aber keine schädigenden Konzentrationen.
Sevofluran wird heute in vielen geburtshilflichen Zentren als Standardnarkotikum bei
der Sectio angewandt, ohne dass negative Einflüsse auf das Neugeborene beschrieben
werden und auch teratogene Wirkungen sind beim Menschen nicht bekannt.
Empfehlung für die Praxis:
Die halogenierten Inhalationsnarkotika gehören in der Geburtshilfe zu den Standardnarkotika.
Sie können bei Beachtung der möglichen charakteristischen Nebenwirkungen während der
gesamten Schwangerschaft eingesetzt werden. Bei Anwendung unter der Geburt sind Uterusrelaxation
und depressorische Auswirkungen auf das Neugeborene zu beachten.
2.16.2
Ether (Diethylether)
Pharmakologie und Toxikologie.
Ether (Äther zur Narkose) ist eine Flüssigkeit mit Siedepunkt bei 35 °C. Wegen seiner
ungünstigen Eigenschaften, wie Explosivität von Ether-Luft-Gemischen, postnarkotischem
Erbrechen und Erregungszuständen, wird Ether als Narkotikum nur noch selten eingesetzt.
Ether erreicht den Fetus ungehindert, schon nach wenigen Minuten wird ein Konzentrationsausgleich
erreicht. Das Ausmaß der Atemdepression beim Neugeborenen ist von Dauer und Tiefe
der Narkose abhängig. Hinweise auf teratogene Eigenschaften beim Menschen liegen nicht
vor.
Empfehlung für die Praxis:
Ether-Tropfnarkosen sind während der Schwangerschaft und in der Geburtshilfe nicht
indiziert. Sie können höchstens dann eingesetzt werden, wenn im Notfall keine andere
Narkosemöglichkeit zur Verfügung steht. Nach einer Ether-Tropfnarkose im 1. Trimenon
sind weder ein risikobegründeter Abbruch der Schwangerschaft noch zusätzliche Diagnostik
erforderlich (siehe Kapitel 1.15).
2.16.3
Lachgas
Pharmakologie und Toxikologie.
Lachgas (Stickoxidul, N2O) ist ein träge reagierendes Gas mit guter analgetischer
und geringer narkotischer Wirkung. Es muss daher mit anderen Narkotika und/oder Muskelrelaxan-zien
kombiniert werden.
Lachgas ist gegenüber den halogenierten Inhalationsnarkotika ein gut verträgliches
Narkotikum, das weder deren negative Wirkung auf das Herz-Kreislauf-System noch auf
den Uterus besitzt. Unter der Geburt kann durch die Inhalation eines Lachgas-Sauerstoff-Gemisches
eine schnelle und einfache analgetische Wirkung erzielt werden, die sich außerdem
sehr gut steuern lässt. In seltenen Fällen kann auch Lachgas beim Neugeborenen eine
Atemdepression hervorrufen, die eine Beatmung erforderlich macht (Langanke 1987).
Umfangreiche Studien über die Anwendung von Lachgas lassen bei über 1.000 Schwangeren
keine teratogenen Effekte erkennen (Crawford 1986, Heinonen 1977). Andere Studien
thematisieren Risiken bei der Anwendung während der Geburt. Taylor und Mitarbeiter
(1993) stellten fest, dass höhere Dosen von Lachgas zu einem verzögerten Geburtsverlauf
führen. Polvi und Mitarbeiter (1996) fanden Veränderungen im zerebralen Gefäßwiderstand
des Kindes. Diese beiden Studien wurden jedoch kritisiert, weil sie nicht auf mögliche
andere auslösende Umstände eingehen.
Empfehlung für die Praxis:
Lachgas ist bei kleinen operativen Eingriffen in der Schwangerschaft ein ideales Inhalationsnarkotikum.
Bei geburtshilflichen Eingriffen ist auf einen möglichen atemdepressiven Effekt beim
Neugeborenen zu achten. Unter der Geburt ist es das am schnellsten wirkende Analgetikum.
2.16.4
Inhalationsnarkotika, berufliche Exposition
Schwangeres OP-Personal ist am Arbeitsplatz trotz aller Möglichkeiten der Gasabsaugung
und des hohen Luftaustauschs durch die Klimaanlage Narkosegasen ausgesetzt, die aus
den Narkosegeräten und den Patienten austreten, wie Messungen bestätigt haben.
Da die gebräuchlichen Anästhesiegase die Plazenta leicht überschreiten, ist ein Risiko
für das ungeborene Kind nicht auszuschließen (Herman 2000, Cordier 1992). Aus diesem
Grunde gibt es Obergrenzen für die Belastung am Arbeitsplatz. In den USA ist für Lachgas
eine maximal zulässige Raumluftkonzentation von 25 ppm festgesetzt, in Deutschland
gelten noch 100 ppm als unbedenklich. Eine korrekte Einhaltung der maximal zulässigen
Belastung durch Narkosegase ist in der Praxis nur schwer möglich. Kontrollmessungen
müssen deshalb wiederholt durchgeführt werden.
Bei beruflich exponiertem Anästhesie- und OP-Personal wurde über erhöhte Abortraten
berichtet, die auf die chronische Exposition mit Inhalationsnarkotika zurückgeführt
wurden (Hemminki 1985, Vessay 1980). Später ließ sich der Verdacht in ausführlichen
epidemiologischen Studien nicht eindeutig bestätigen und begleitende Faktoren wie
Stress, Kaffeekonsum, Rauchen und angespannte Körperhaltung sowie vorbestehende Abortneigung
wurden als auslösende Ursachen angenommen (Rowland et al., 1992, Rowland et al., 1995).
In verschiedenen Studien wurden ein geringeres Geburtsgewicht und ein kürzeres Gestationsalter
festgestellt (Ericson 1979, Rosenberg 1978, Pharoah 1977, Cohen 1971). Die Langzeitentwicklung
im Alter von 5 bis 13 Jahren wurde von Ratzon (2004) bei 40 Kindern untersucht, deren
Mütter als Anästhesistinnen oder Schwestern im OP Restkonzentrationen von Narkosegasen
ausgesetzt waren und mit 40 Kindern verglichen, deren Mütter in anderen Abteilungen
im Krankenhaus arbeiteten. Es gab keine Unterschiede der allgemeinen Entwicklung weder
bei den Neugeborenen noch bei den 5- bis 13-Jährigen. Jedoch wurden Einschränkungen
bei der Grobmotorik, Aufmerksamkeitsdefizite und Hyperaktivität häufiger in der exponierten
Gruppe beobachtet. Die Höhe der Exposition korrelierte mit Einschränkungen der Feinmotorik
und einem niedrigeren Intelligenzquotienten. Jedoch sind die untersuchten Fallgruppen
zu klein, um verbindliche Rückschlüsse zu erlauben.
Zusammengefasst ist die Datenlage zum Fehlbildungsrisiko bei beruflicher Exposition
mit Narkosegasen beruhigend, während Auswirkungen auf Spontanaborte und andere Entwicklungsstörungen
weiterer Untersuchung bedürfen.
Empfehlung für die Praxis:
Es ist für Schwangere unbedenklich, in OP's mit Absaugvorrichtung für Narkosegase
zu arbeiten, wenn die Luftkonzentrationen gemessen und die maximal erlaubten Arbeitsplatzkonzentrationen
nicht überschritten werden.
2.16.5
Injektionsnarkotika
Pharmakologie und Toxikologie.
Zu den Injektionsnarkotika gehören Eto-midat ( z.B. Etomidat-Lipuro®, Hypnomidate®),
Ketamin/Ketamin S (z.B. Ketamin®), Methohexital (Brevymital®, nicht mehr verfügbar),
Propofol (Disoprivan®) und Thiopental (z.B. Trapanal®). Nach intravenöser Injektion
erreicht die Konzentration eines Injektionsnarkotikums sofort ihren Maximalspiegel
im Blut, der dann wegen der rasch einsetzenden Umverteilung und Ausscheidung schnell
wieder abfällt. Die Wirkung im Gehirn setzt wegen des starken Blutflusses kurzfristig
ein und klingt mit der Umverteilung schnell wieder ab. Alle Injektionsnarkotika passieren
wegen ihrer hohen Lipidlöslichkeit rasch die Plazenta, werden aber vor Erreichen des
fetalen Gehirns zunehmend im fetalen Blut verdünnt und zum Teil auch in der fetalen
Leber aufgenommen. Daher bewirkt eine einmalige Bolusinjektion eines nicht zu hoch
dosierten Injektionsnarkotikums keine Anästhesie des Fetus bzw. des Neugeborenen,
während nach wiederholten Dosen mit einer depresso-rischen Wirkung beim Fetus gerechnet
werden muss.
Die Konzentration im Neugeborenen ist bei Anwendung unter der Geburt umso geringer,
je mehr Zeit zwischen Injektion des Narkotikums und der Geburt des Kindes verstreicht.
Alle genannten Injektionsnarkotika können während der Schwangerschaft benutzt werden,
sie werden nachfolgend einzeln vorgestellt.
Etomidat
Etomidat ist ein Imidazolderivat, das durch unspezifische Esterasen abgebaut wird.
Es führt zu einem extrem schnellen Wirkungseintritt mit sehr raschem Abklingen (Halbwertszeit
im Serum 3 Minuten). Die kurze Wirkdauer beruht ähnlich wie bei den Barbituraten auf
Umverteilung vom gut durchbluteten Gehirn in schlechter durchblutete große Gefäßgebiete,
nämlich Muskel- und Fettgewebe (Lipophilie). Etomidat besitzt keine kardiodepressorischen
Eigenschaften, kann aber zu Myo kloni und Dyskinesien führen und wirkt hemmend auf
die Nebennie-renrindenfunktion.
Ketamin
Ketamin ist ein rasch wirkendes Injektionsnarkotikum, das eine gute analgetische Wirkung
besitzt und die Atmung kaum beeinflusst. Es gibt keine Studien zur Beeinflussung der
fetalen Entwicklung beim Menschen. Aufgrund einer Verstärkung der Empfindlichkeit
gegenüber Sympathikomimetika führt es zu deutlichen kardiovaskulären Effekten, wie
z.B. Anstieg von Herzfrequenz und Blutdruck. Ketamin stimuliert dosisabhängig den
Tonus und die Wehenfrequenz des Uterus und darf bei uteriner Hyperaktivität und drohender
fetaler Hypoxie nicht eingesetzt werden. Hohe Dosen können fetale Funktionen beeinträchtigen
und ein erweitertes Monitoring unter der Geburt erforderlich machen (Barak 1990, Reich
1989). Ketamin führt bei Kaiserschnittentbindungen zu teilweise therapiebedürftigen
Angstzuständen in Folge von Horrorvisionen, was den Einsatz trotz seiner guten analgetischen
Eigenschaften stark limitiert. Ketamin S wird eine in dieser Hinsicht bessere Verträglichkeit
zugeschrieben.
Propofol
Propofol ist in Nordamerika heute das neben Thiopental am meisten angewandte Injektionsnarkotikum
in der Schwangerschaft. Als Einleitungssubstanz stellt es eine geeignete Alternative
zu Thiopental dar (Richardson 1991, Gin 1990 A & B). Für die Intubation zeichnet sich
Propofol durch einen raschen Bewusstseinsverlust aus. Die kurze Aufwachzeit und die
geringen Nebenwirkungen sind von großem Vorteil für die schwangere Patientin. Nach
Injektion überwindet Propofol die Plazenta rasch, die fetalen Blutkonzentrationen
entsprechen etwa 70% der mütterlichen Werte (Jauniaux 1998, Dailland 1989). Propofol
wird rasch aus dem Kreislauf des Neugeborenen entfernt (Dailland 1990, Moore 1989,
Valtonen 1989). In klinischen Untersuchungen fand sich bei Einleitung zur Sectio mit
Propofol mit 2–2,8 mg/kg KG im Vergleich mit 4–5 mg/kg KG Thiopental kein Unterschied
in den Apgar-Werten, den Säure-Basen-Parametern und dem neurologischen Zustand des
Neugeborenen (D' Alessio 1998). In einer Studie, die den ENNS (Early neonatal neurobehavioral
scale) benutzte (D'Alessio 1998, Celleno 1989), wurde bei Neugeborenen nach Sectionarkose
mit Propofol im Vergleich zu Thiopental ein ungünstigeres Ergebnis bei einigen neurologischen
Funktionen nachgewiesen. Diese Effekte zeigen sich aber nur zeitlich begrenzt. Gin
und Mitarbeiter (1990 B) fanden dagegen, dass Propofol dem Thiopental als Einleitungsnarkotikum
zur Sectio überlegen war. Blutdruckabfälle waren nicht häufiger zu beobachten als
nach Thiopental. Wird die Gewinnung von Eizellen bei der In-vitro-Fertilisa-tion (IVF)
in Propofol-Narkose vorgenommen, so hat dies keinen negativen Effekt auf den Schwangerschaftserfolg
(Beilin 1999, Christiaens 1998).
Thiopental-Natrium
Thiopental-Natrium ist ein Thiobarbiturat, das sich durch schnellen Wirkungseintritt
auszeichnet. Die kurze Wirkdauer ist durch Umverteilung bedingt. Anfangs reichert
sich das Medikament wegen der guten Durchblutung im Gehirn an. Die anschließende Umverteilung
in das Muskel- und Fettgewebe lässt die Konzentration im Gehirn rasch unter die narkotisch
wirksame Schwelle abfallen. Da Thiobarbiturate den Uterustonus und die Wehentätigkeit
nicht beeinflussen, bleibt nach der Geburt die Kontraktionsfähigkeit des Uterus erhalten.
Außerdem wurden keine Interaktionen mit ß-Sympathikomimetika beschrieben. Thiobarbiturate
lassen sich bereits eine Minute nach Injektion im fetalen Blut nachweisen. Die Konzentration
liegt dabei nur gering unter der im mütterlichen Blut. Während der Geburt ist bei
niedriger Dosierung (i.v bis 5 mg/kg KG) keine Beeinträchtigung des Fetus zu erwarten.
Bei höherer Dosierung muss mit einer Atemdepression beim Neugeborenen gerechnet werden
(Langanke 1987).
Empfehlungen für die Praxis:
Etomidat darf in der Geburtshilfe unter Beachtung der atemdepressiven Wirkung beim
Neugeborenen eingesetzt werden. Insbesondere wegen der blutdrucksteigernden Wirkung
ist Ketamin bei schwangeren Hypertonikerinnen und bei Präeklampsie kontraindiziert.
Propofol darf als Anästhetikum sowohl in der Geburtshilfe als auch zur Narkoseeinleitung
bei Operationen während der Schwangerschaft eingesetzt werden. Bei Neugeborenen ist
die atemdepressive Wirkung zu beachten. Bei Kindern wurde nach mehrtägiger Sedierung
mit Propofol ein Propofolsyndrom mit tödlichem Ausgang beschrieben. Daher sollte die
Substanz zur Langzeitsedierung bei Schwangeren nicht benutzt werden. Auch Thiopental-Natrium
kann sowohl in der Geburtshilfe als auch bei Narkoseeinleitungen während der Schwangerschaft
eingesetzt werden. Beim Neugeborenen ist die atemdepressive Wirkung zu beachten. Gleiches
gilt für das noch kürzer wirkende Barbiturat Methohexital (wird zurzeit nicht mehr
hergestellt).
2.16.6
Lokalanästhetika
Pharmakologie und Toxikologie.
Lokalanästhetika bleiben nicht am Ort ihrer Applikation fixiert, sondern werden in
Abhängigkeit von der Applikationsstelle und deren Gefäßreichtum resorbiert und gelangen
über das Blut der Mutter zum Fetus. Sie haben neben ihrer eigentlichen Wirkung, der
Unterbrechung der Nervenimpulsleitung, je nach (toxischer) Konzentration eine erregende
bis krampfauslösende Wirkung auf das Zentralnervensystem, sie hemmen die Erregungsausbreitung
am Herzen und erweitern die Blutgefäße. Bei schwangeren Patientinnen, die eine Epiduralanästhesie
erhalten, beträgt die Häufigkeit systemisch toxischer Reaktionen durch Lokalanästhetika
1% im Vergleich zu 0,2–0,3% bei Nicht-Schwangeren. Die ZNS-Toxizität eines Lokalanäs-thetikums
korreliert gut mit seiner anästhetischen Potenz. Bupivacain wirkt vierfach kardiotoxischer
als Lidocain. Der Zusatz vasokonstrik-torischer Substanzen, wie z.B. Adrenalin oder
Noradrenalin, kann die Wirksamkeit des Lokalanästhetikums erhöhen und die Blutspiegel
durch die Verringerung der Absorptionsrate erniedrigen. Das bietet aber nicht nur
Vorteile, sondern erhöht auch die Möglichkeit von Komplikationen. So können Gewebsnekrosen
oder eine Gangrän resultieren. Metabisulfid, das adrenalinhaltigen Lokalanästhetikalösungen
zugesetzt wird, um die Oxidation von Adrenalin zu vermeiden, wirkt zusätzlich neurotoxisch
und ist eventuell verantwortlich für die Auslösung des so genannten Cauda-equina-Syndroms.
Generell werden Lokalanästhetika in allen Phasen der Schwangerschaft jedoch gut vertragen.
Sie scheinen keine anhaltenden Auswirkungen auf die Neurophysiologie des Neugeborenen
zu haben. Es wurden keine teratogenen Schäden nach Einsatz im 1. Trimenon beobachtet.
Lidocain
Lidocain, das am häufigsten eingesetzte Lokalanästhetikum, hat wegen des niedrigen
pKa–Wertes (7,7 bis 7,8) einen schnellen Wirkungseintritt und überschreitet leicht
die Plazenta. Ein negativer Einfluss auf die Schwangerschaft ist nicht bekannt. In
einer Studie mit mehr als 1.200 Schwangeren fand sich keine Zunahme der Fehlbildungsrate
(Heinonen 1977). Lidocain wird auch in der geburtshilflichen Periduralanäs-thesie
eingesetzt. Es lindert den Geburtsschmerz, ohne die Wehenstärke oder die Mitarbeit
der Gebärenden wesentlich zu beeinträchtigen. Auch bei dieser Anwendung gibt es einige
wenige Berichte über negative Auswirkungen. Sie betreffen zeitlich begrenzte Veränderungen
der fetalen kardiopulmonalen Anpassung (Bozynski 1987), Veränderungen von evozierten
Potenzialen im Stammhirn (Bozynski 1989) und Temperaturregulationsstörungen mit Hyperthermie
nach mehrstündiger Epiduralanalgesie (Macaulay 1992). In einigen Studien wurde die
Periduralanästhesie mit Veränderungen des Verhaltens beim Neugeborenen in Zusammenhang
gebracht. Neuere Studien haben jedoch gezeigt, dass solche Veränderungen selten und
nur vorübergehend sind (Decocq 1997, Fernando 1997).
Bupivacain
Bupivacain ist das zurzeit am häufigsten verwendete Lokalanästheti-kum in der Geburtshilfe.
Es hat eine starke Wirkung und ausgeprägte zentralnervöse und kardiotoxische Nebenwirkungen,
die in der Schwangerschaft zusätzlich durch Progesteron verstärkt werden. Bupi-vacain
kann zu einem Reentry-Phänomen mit Auslösung ventrikulärer Tachykardien und Kammerflimmern
führen. Die Rate an toxischen Wirkungen konnte deutlich gesenkt werden, nachdem das
0,75%ige Bupi-vacain in der Geburtshilfe nicht mehr angewandt wurde. Der Hauptvorteil
dieser Substanz liegt in der langen Wirkdauer (3–10 Stunden). Besonders in geringen
Konzentrationen kommt es eher zur sensorischen als zur motorischen Blockade. Wegen
der hohen Eiweißbindung ist die Plazentapassage gering.
Ropivacain
Ropivacain ist ein Lokalanästhetikum vom Amidtyp mit einer dem Bupivacain vergleichbaren
Pharmakokinetik und Pharmakodynamik. Die vorzugsweise sensorische Blockade ist noch
ausgeprägter als bei Bupivacain. Dennoch hat sich bei Ropivacain im Vergleich zu Bupiva-cain
bisher kein Vorteil hinsichtlich geringerer Inzidenz motorischer Blockaden (die eine
instrumentelle Entbindung notwendig machen) bei gleicher Anästhesiequalität nachweisen
lassen (Eddleson 1996). Toxische und zentralnervöse Nebenwirkungen treten bei Ropivacain
im Vergleich mit Bupivacain erst bei einer höheren Gesamtmenge an verabreichtem Lokalanästhetikum
auf (Santos 1995). Die Austestung einer minimal lokalanästhetischen Konzentration
(MLAC) konnte nachweisen, dass die anästhetische Potenz von Ropivacain um 30% geringer
ist als die von Bupivacain.
Kombination Lokalanästhetika – Opioide
Ein Zusatz von Opioiden zu epidural verabreichten Lokalanästhetika bietet den Vorteil
eines schnelleren Wirkungseintritts, einer verbesserten Analgesie und einer Reduktion
des Bedarfs an Lokalanästhetika. Dadurch kann die Rate an motorischen Blockaden und
instrumentellen Entbindungen gesenkt werden. Bei rückenmarksnahen Regionalanästhesieverfahren
werden lipophile Opioide wie Sufentanil und Fen-tanyl bevorzugt, da sie schnell am
Applikationsort aufgenommen werden, und dadurch die Analgesie regional begrenzt bleibt.
Das Risiko einer späteren Atemdepression kann aufgrund einer kürzeren Liquor-verweildauer
gesenkt werden. Andere opioidbedingte Nebenwirkungen, wie Übelkeit und Erbrechen,
Atemdepression und Pruritus, treten seltener auf (Gogarten 1997). Lipophile Opioide
wie Sufentanil werden jedoch leichter in das Gefäßsystem aufgenommen und können in
signifikanten Konzentrationen im Plasma nachgewiesen werden. Beim Vergleich von Fentanyl
mit Sufentanil führt Letzteres zur besseren Schmerzausschaltung und reichert sich
trotz einer nachweisbaren Plazentapassage weniger ausgeprägt im Neugeborenen an (Loftus
1995). Eine Gesamtdosis von 30 μg Sufentanil epidural führt nicht zu einer klinisch
relevanten neonatalen Beeinträchtigung (siehe auch Kapitel 2.1).
Empfehlungen für die Praxis:
Lokalanästhetika dürfen auch in der Schwangerschaft zur Infiltrations- und Leitungsanästhesie
eingesetzt werden. Das gilt auch für Präparate mit Adrenalinzusatz. Bewährte Vertreter
dieser Gruppe, wie z. B. in der Geburtshilfe Bupivacain, sind zu bevorzugen. Prilocain
ist wegen des vergleichsweise hohen Risikos der Methämoglobinbildung zu meiden.
2.16.7
Muskelrelaxanzien
Pharmakologie und Toxikologie.
Muskelrelaxanzien werden immer dann in der Narkose eingesetzt, wenn sich durch Narkotika
allein keine ausreichende Erschlaffung der Skelettmuskulatur erreichen lässt.
Alcuronium (Alloferin®), Atracurium (Tracrium®), Cisatracurium (Nimbex®), Mivacurium
(Mivacron®), Pancuronium (Pancuronium duplex®), Rocuronium (Esmeron®) und Vecuronium
(Norcuron®) gehören wie Tubocurarin zu den kompetitiv hemmenden Muskelrelaxanzien.
Im Gegensatz zu den Narkotika und Lokalanästhetika passieren Muskelrelaxanzien wegen
ihres hohen Dissoziationsgrades und ihrer geringen Lipidlöslichkeit die Blut-Hirn-Schranke
und auch die Plazenta nur in geringem Ausmaß. Im Nabelschnurblut bzw. im fetalen Gewebe
erreichen sie deshalb nur etwa 10 % der bei der Mutter gemessenen Konzentration. Die
übertragenen Konzentrationen reichen nicht aus, um beim Fetus eine relaxierende Wirkung
hervorzurufen. Es gibt jedoch einen Fallbericht über eine zehn Stunden anhaltende
Neugebo-renenparalyse nach Gabe von 245 mg d-Tubocurarin zur Behandlung eines Status
epilepticus bei der Mutter (Lusso 1993) und über eine an tierexperimentelle Beobachtungen
erinnernde Arthrogrypose beim Kind nach Behandlung eines mütterlichen Tetanus mit
Tubucurarin über 2,5 Wochen am Ende des 1. Trimenons (Jago 1970).
Teratogene Eigenschaften wurden bisher nicht beobachtet. Insbesondere Pancuronium
hat sich in der Geburtshilfe bewährt. Bei einer Dosierung von 0,03 mg/kg wurden bei
800 Schnittentbindungen keine Nebenwirkungen an den Neugeborenen beobachtet (Langanke
1987). Es kann auch zur Relaxierung des Fetus bei intrauteriner Transfusion benutzt
werden (Moise 1987).
Atracurium soll Pancuronium bei der direkten Relaxation des Fetus überlegen sein,
wenn dieser wegen einer Anämie für eine intrauterine Transfusion vorbereitet werden
soll (Mouw 1999). In einer anderen Untersuchung werden Vorteile des Vecuroniums bei
dieser Anwendung beschrieben. Einschränkungen der fetalen Herzfrequenz sollen geringer
als bei Pancuronium sein (Watson 1996).
Suxamethonium (Succinylbischolin; Lysthenon®, Pantolax®) ist ein depolarisierendes
Muskelrelaxans, das durch die Plasmacholinesterase schnell abgebaut wird. Heinonen
(1977) fand bei 26 Kindern, deren Mütter während der Schwangerschaft mit Succinylcholin
behandelt worden waren, keine Anomalien. Vorübergehende Atemdepression bei Neugeborenen
wurde vereinzelt nach Succinylcholinbehandlung unter der Geburt beschrieben. Bei ca.
3–4% der Bevölkerung ist die Plasma-cholinesterase erniedrigt. Zusätzlich verringert
sich die Aktivität dieses Enzyms am Ende der Schwangerschaft um bis zu 30%. Bei diesen
Patientinnen kann es nach Succinylcholingabe zur Verlängerung der Wirkung und auch
zur Apnoe beim Neugeborenen kommen (Cherala 1989). Solche Komplikationen sollten durch
Anwendung der niedrigsten effektiven Dosis vermieden werden. Succinylcholin kann bereits
bei Dosen von 1 mg/kg den Tonus des Uterus erhöhen oder die Wehentätigkeit stimulieren.
Dieser unerwünschte Effekt ist bei drohender fetaler Hypoxie zu beachten.
Mivacurium ( Mivacron®) ist ein kurz wirkendes, nicht depolarisierendes Muskelrelaxans,
das ebenso wie Succinylcholin durch Plasma-cholinesterase abgebaut wird. Wegen der
häufig kurzen OP-Zeiten bei Kaiserschnitt bietet es sich als Muskelrelaxans an, führt
aber bei einem Mangel an Plasmacholinesterase ebenso wie Succinylcholin zur Verlängerung
der Wirkdauer.
Völlig andere Indikationen haben Präparate mit Clostridium botuli-num Toxin (BOTOX®,
Dysport®), die beim Blepharospasmus und anderen fokalen Spastizitäten sowie bei primärer
Hyperhidrosis appliziert werden. Systematische Untersuchungen zur Schwangerschaft
liegen nicht vor. Anaphylaktoide Reaktionen sind nicht auszuschließen (siehe auch
Botulismus in Abschnitt 2.22).
Empfehlung für die Praxis:
Im Rahmen der Narkose dürfen die üblichen Mus-kelrelaxanzien (Pancuronium, Suxamethonium)
in der Schwangerschaft eingesetzt werden, dabei sollten möglichst niedrige Dosierungen
gewählt werden. Clostridium botulinum Toxin sollte in der Schwangerschaft nicht verabreicht
werden, da es sich nicht um eine vitale Indikation handelt. Eine dennoch erfolgte
Exposition erfordert keine Konsequenzen, wenn die Mutter keine nennenswerten Nebenwirkungen
hatte.
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2.17
Dermatika und Lokaltherapeutika
In diesem Abschnitt werden die wichtigsten Arzneimittel in der Derma-tologie sowie
andere häufig verwendete Lokaltherapeutika behandelt. Weitergehende Informationen
zu einzelnen Arzneimitteln finden sich unter den Substanzbegriffen in anderen Abschnitten.
Vaginaltherapeu-tika siehe Kapitel 2.14.11.
2.17.1
Schwangerschaftstypische Veränderungen an der Haut
Die Umstellung des Organismus in der Schwangerschaft führt an der Haut zu typischen
morphologischen und funktionellen Veränderungen. Sie sind völlig normal und müssen
nicht behandelt werden. Dazu gehören:
▪
Pigmentierung: Auffallend ist im Gesicht das Auftreten einer fleckigen Hyperpigmentierung
(Melasma), die sich bald nach der Geburt gewöhnlich spontan zurückbildet. Sie wird
durch UV-Licht verstärkt, z.B. durch direkte Sonnenbestrahlung, und kann durch Anwendung
von Sonnenschutzsalben gemildert werden. Außerdem verstärkt sich bei Schwangeren die
Pigmentierung der Brustwarzen und der Warzenhöfe, die Umgebung des Nabels, der Achseln,
des Genital- und Analbereiches. Allgemein nimmt die Lichtempfindlichkeit bei Schwangeren
zu.
▪
Striae: An Bauch, Hüften, Oberschenkeln und auch an den Brüsten treten in der zweiten
Hälfte der Schwangerschaft relativ häufig Striae distensae auf. Mit Zunahme des Leibesumfangs
werden diese breiter und zahlreicher. Die Haut ist im Bereich der Striae dünn, schlaff
und ohne Elastizität. Eine wirksame physikalische oder medikamentöse Prophylaxe ist
nicht bekannt.
▪
Fibrome: Weiche Fibrome treten besonders in der Hals- und Axilla-region vermehrt auf.
▪
Gefäßveränderungen: Die Haut wird stärker durchblutet, fühlt sich wärmer an und die
vasomotorische Erregbarkeit der Hautgefäße nimmt zu. Das führt zu rascherem Erröten
bzw. Erblassen und zu einem verstärkten Dermographismus. Außerdem werden die Venen
an Brust und Bauchhaut deutlicher sichtbar, und es können Varizen an den Beinen und
der Vulva sowie Hämorrhoiden auftreten.
▪
Hautdrüsen, Haare und Nägel: Besonders in der Frühschwangerschaft kann die Sekretion
der Schweißdrüsen deutlich zunehmen. Eine bestehende Akne bessert sich häufig. Andererseits
kann vom dritten Monat an eine akute Schwangerschaftsakne (Acne gravida-rum) auftreten,
die sich im Wochenbett zurückbildet. Das Wachstum von Kopfhaar und Nägeln ist in der
Schwangerschaft generell beschleunigt. Nach der Geburt kommt es im Rahmen einer erneuten
Synchronisation des Haarwachstums zu einem oft bedrohlich er scheinenden Haarausfall.
Dieses als postpartales Effluvium bezeichnete Phänomen ist physiologisch. Der Haarwuchs
normalisiert sich üblicherweise innerhalb der folgenden Monate und bedarf keinerlei
Therapie.
Externa werden in der Schwangerschaft vermehrt resorbiert. Dies gilt insbesondere
bei entzündlich veränderter Haut und Wundflächen und kann zur Exposition des Fetus
führen.
2.17.2
Antiinfektiva
Lokale Antibiotika
Pharmakologie und Toxikologie.
Fusidinsäure (z. B. Fucidine®) ist ein fast ausschließlich äußerlich angewandtes Antibiotikum,
über das trotz länger zurückliegender Markteinführung keine systematischen Untersuchungen
zur pränatalen Verträglichkeit vorliegen. Es hat nur ein enges Wirkspektrum gegen
grampositive Bakterien (Staphylokokken) und wird daher nicht für eine ungezielte Behandlung
empfohlen. Grundsätzlich muss jede äußere antibiotische Therapie unter dem Aspekt
kritisch geprüft werden, ob tatsächlich eine bakterielle Infektion vorliegt, die sich
wirkungsvoller systemisch behandeln lässt. Außerdem sind Sensibilisierung und Resistenzbildung
bei topischer Behandlung zu bedenken.
Von dem bakteriostatisch wirkenden Sulfonamid Natriumsulfacet-amid, das häufig in
Kombination mit schwefelhaltigen Präparaten (siehe Abschnitt 2.17.9) zur Aknetherapie
eingesetzt wird, werden bei topischer Anwendung etwa 4% perkutan resorbiert (Akhavan
2003). Weder zu Natriumsulfacetamid noch zu Sulfadiazin-Silber (z. B. Flam-mazine®
Creme), das zur Infektprophylaxe und Behandlung von Verbrennungen eingesetzt wird,
liegen systematische Untersuchungen zur Anwendung in der Schwangerschaft vor.
Zur lokalen Therapie mit Neomycin gibt es 12 prospektiv erfasste Fälle, davon 7 mit
Exposition im 1. Trimenon. Über Fehlbildungen wurde nicht berichtet.
Zu den ausschließlich lokal angewandten Antibiotika Framycetin (Leukase®), Meclocyclin
(Meclosorb® Creme), Mupirocin (z.B. Turi-xin® Salbe), Nadifloxacin (Nadixa® Creme),
Neomycin (z.B. Nebace-tin®) und Tyrothricin (z. B. Tyrosur® Gel) liegen keine ausreichenden
Erfahrungen vor. Für kein Antibiotikum in äußerlicher Anwendung hat sich bisher ein
Verdacht auf teratogene Effekte ergeben. Mittel, die systemisch unbedenklich sind,
können, falls sinnvoll, auch für die lokale Therapie eingesetzt werden (siehe auch
Kapitel 2.6).
Lokale Antimykotika
Siehe Abschnitt 2.6.34 und folgende.
Lokale Virustatika
Bei topischer Anwendung hat sich bisher für kein Virustatikum ein Verdacht auf teratogene
Effekte ergeben. Dies gilt auch für das Virus-tatikum Aciclovir (z.B. Zovirax®). Generell
ist die lokale antivirale Therapie von Herpes-simplex-Infektionen wegen möglicher
Resistenzentwicklungen nicht zu empfehlen. Besser geeignet scheinen austrocknende
Maßnahmen oder falls indiziert, eine systemische Therapie.
Im eigenen Datenbestand finden sich bei 35 prospektiv erfassten Schwangerschaften
mit lokaler Aciclovir-Therapie, 21 davon mit Exposition im 1. Trimenon, keine Hinweise
auf entwicklungstoxische Schäden. Auch die wesentlich umfangreicheren Erfahrungen
mit der systemischen Anwendung von Aciclovir haben kein Risiko für das Ungeborene
erkennen lassen (siehe Abschnitt 2.6.52).
Auch die lokale Behandlung von Condylomata acuminata (Feigwarzen) mit Podophyllotoxin
(z.B. Condulox®, Wartec®), einem pflanzlichen Mitosehemmstoff (Robert 1994, Bargman
1988, Karol 1980), hat keine Hinweise auf Teratogenität ergeben (eigene Daten). Systematische
Untersuchungen liegen allerdings nicht vor.
Über insgesamt 8 Schwangere mit einer äußerlichen Therapie mit dem Immunmodulator
bzw. Virustatikum Imiquimod (Aldara®) wegen Condylomata acuminata oder anderer Warzen,
davon 2 im 1. Trimenon, wird berichtet. Alle wurden von gesunden Kindern entbunden
(Einarson 2006, Maw 2004). Von 5 eigenen prospektiv ausgewerteten Schwangerschaften
mit lokaler Imiquimodtherapie endeten 2 mit einem Spontanabort. Bei den 3 Lebendgeborenen
wurden keine Fehlbildungen beobachtet.
Zu den vorwiegend lokal eingesetzten Virustatika Foscarnet-Na-trium (z.B. Triapten®),
Idoxuridin (z.B. Virunguent®), Penciclovir (Vectavir®), Tromantadin (Viru-Merz®) und
Vidarabin liegen keine ausreichenden Erfahrungen vor. Virustatika, die in der Schwangerschaft
systemisch angewendet werden dürfen, sind in der Regel auch als Lokaltherapeutika
unproblematisch (siehe Kapitel 2.6.52 bis 2.6.55).
Empfehlung für die Praxis:
Antiinfektiva dürfen bei entsprechender Indikation auch während der Schwangerschaft
auf Haut und Schleimhäuten sowie an Auge und Ohr angewendet werden. Aus theoretischen
Erwägungen sollten erprobte Substanzen bevorzugt und auf Chloramphenicol verzichtet
werden. Bei großflächiger Anwendung müssen Präparate für die äußerliche Behandlung
wegen der Gefahr der Resorption wirksamer Mengen genauso kritisch wie eine systemische
Applikation bewertet werden. Bei Condylomata acuminata sind Kryotherapie oderTrichloressigsäure
Behandlungsmethoden der Wahl in der Schwangerschaft.
2.17.3
Antiseptika und Desinfizienzien
Desinfizienzien sollten einerseits eine starke bakterizide oder bakterio-statische
Wirkung besitzen und andererseits eine gute lokale Verträglichkeit an Haut, Schleimhäuten
und Wundgewebe aufweisen. Außerdem sollten sie bei Resorption möglichst nicht zu systemischen,
toxischen Effekten führen.
Alkohol
Pharmakologie und Toxikologie.
Bei der lokalen Anwendung von Alkoholen in der Schwangerschaft - in der Praxis haben
nur Ethanol und Iso-propylalkohol (Isopropanol) eine Bedeutung - wurden bisher keine
toxischen Effekte beobachtet.
Empfehlung für die Praxis:
Alkoholderivate sind ungefährlich und können als Desinfizienzien in der Schwangerschaft
eingesetzt werden.
Benzoylperoxid
Pharmakologie und Toxikologie.
Benzoylperoxid (z.B. Benzoyt®) wird insbesondere zur äußeren Aknebehandlung verwendet.
Etwa 5 % werden resorbiert, in der Haut entsteht z.T. Benzoesäure daraus. Bei gleichzeitiger
topischer Therapie mit Retinoiden werden diese vermehrt resorbiert. Benzoylperoxid
wird auch in der Lebensmittel- und Kunst-stoffherstellung benutzt. Es liegen keine
für eine Risikobewertung ausreichenden experimentellen oder epidemiologischen Daten
vor. Trotz der umfangreichen Anwendung gibt es keine Hinweise auf teratogene Effekte.
Empfehlung für die Praxis:
Benzoylperoxid darf zur Aknebehandlung begrenzter Areale (z. B. Gesicht) eingesetzt
werden.
Povidon-Iod
Pharmakologie und Toxikologie.
Bei Anwendung von Povidon-lod (z. B. Betaisodona®, PVP-Iod-ratiopharm®) zur lokalen
Desinfektion an der intakten Haut, an Wunden und Schleimhäuten sowie in Körperhöhlen
muss mit dem Übertritt von Iod auf den Fetus gerechnet werden. Dies kann zu Funktionsstörungen
der Schilddrüse beim Fetus führen (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer
1985; siehe Kapitel 2.3 und 2.15). Bei Vaginalspülungen unter der Geburt kann es zu
einer vorübergehenden Erhöhung des TSH beim Neugeborenen als Zeichen einer passageren
Hypothyreose kommen (Weber 1998). Hinweise auf teratogene Effekte bei vaginaler Anwendung
in der Schwangerschaft haben sich in einer retrospektiven vergleichenden Untersuchung
von fehlgebildeten und gesunden Kindern nach mütterlicher Povidon-Iod-Exposition nicht
ergeben (Czeizel 2004). Andererseits ist eine ungestörte fetale Schilddrüsenfunktion
wichtig für die ZNS-Differenzierung.
Empfehlung für die Praxis:
Iodhaltige Desinfizienzien dürfen in der Schwangerschaft nur kleinflächig für wenige
Tage angewendet werden. Die Spülung von Körperhöhlen mit iodhaltigen Lösungen sollte
unterbleiben. Eine dennoch erfolgte Anwendung ist nach heutigem Wissen nicht mit bleibenden
Schäden verbunden.
Phenolderivate
Pharmakologie und Toxikologie.
Phenolderivate werden überwiegend in frei verkäuflichen Präparaten für die Mundspülung,
die Hautdesinfektion und die perianale Desinfektion eingesetzt. Lösungen von Phenolderivaten
wie Kresol (Lysol
®) und Thymol sowie von chlorierten Phenolderivaten (z.B. 4-Chlorkresol, Sagrotan®;
Triclosan, z.B. in Sicor-ten plus®) sind in der Schwangerschaft als relativ sicher
anzusehen. Sie sollten in einer Konzentration von nicht mehr als 2% und nur an der
unverletzten Haut angewendet werden. Bei höheren Konzentrationen muss mit relevanter
Resorption gerechnet werden.
Chlorhexidin (z.B. Lemocin CX®) ist bei Schwangeren zur Desinfektion von Haut und
Schleimhäuten geeignet. Es hat sich zur Desinfektion der Scheide bei Geburten und
des Abdomens beim Kaiserschnitt bewährt (Übersicht in Briggs 2005).
Mit dem neurotoxischen Phenolderivat Hexachlorophen ist dagegen Zurückhaltung in der
Schwangerschaft angezeigt, da bei Behandlung größerer Flächen und mit Konzentrationen
von mehr als 3% resorptive Vergiftungsbilder mit ZNS-Symptomatik bei den behandelten
Patienten beobachtet wurden. In einigen tierexperimentellen Studien hat sich Hexachlorophen
als teratogen gezeigt. In den letzten Jahrzehnten wurde in mehreren Publikationen
der berufliche Kontakt mit Hexa-chlorophen kontrovers bezüglich möglicher fetotoxischer
Wirkungen diskutiert. Eine ältere Untersuchung an 3.000 gewerblich exponierten Schwangeren
fand keine Auffälligkeiten (Baltzar 1979), eine weitere retrospektive Untersuchung
postulierte einen Zusammenhang zwischen mentaler Entwicklungsretardierung und beruflicher
Exposition im letzten Schwangerschaftsdrittel (Roeleveld 1993).
Empfehlung für die Praxis:
Hexachlorophen ist in der Schwangerschaft zu meiden. Dennoch erfolgte (versehentliche)
Anwendung erfordert keine Konsequenzen. Die übrigen Phenolderivate, wie z.B. Chlorhexidin,
dürfen bei Schwangeren indikationsgerecht zur Desinfektion von Haut und Schleimhäuten
eingesetzt werden.
Quecksilberverbindungen
Pharmakologie und Toxikologie.
Quecksilber kann aus Zubereitungen zur äußeren Anwendung (früher in Mercuchrom®) quantitativ
resorbiert werden und ist potenziell entwicklungstoxisch (Lauwerys 1987).
Empfehlung für die Praxis:
Quecksilberhaltige Desinfizienzien sind in der Schwangerschaft kontraindiziert. Eine
dennoch erfolgte Anwendung rechtfertigt weder einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch
noch zusätzliche Diagnostik (siehe Kapitel 1.15).
Andere Antiseptika
Pharmakologie und Toxikologie.
Chinolinolsulfat (z.B. Leioderm®) zeigte experimentell mutagene Eigenschaften. Clioquinol
(z.B. Linola-sept®) gehört zu den jodhaltigen Antiseptika. Dequaliumsalze (z.B. Evazol®
Creme), die sowohl bei der Therapie von bakteriellen als auch mykoti-schen Infektionen
der Haut Anwendung finden, stehen bisher nicht im Verdacht teratogen zu wirken, systematische
Untersuchungen liegen jedoch nicht vor. Gentianaviolett oder Kristallviolett sind
seit langem im Gebrauch und weit verbreitet. Tierexperimentell gibt es Hinweise auf
karzinogene Eigenschaften und widersprüchliche Daten zur Terato-genese. Beide Effekte
wurden beim Menschen bisher nicht bestätigt. Auch zu Pyoktanin wurden keine negativen
Auswirkungen bei Anwendung in der Schwangerschaft beschrieben. Systematische Untersuchungen
zur Pränataltoxizität liegen jedoch zu diesen Mitteln nicht vor, auch nicht zu dem
bei eitrigen Infektionen lokal eingesetzten Antiseptikum Ethacridin (Rivanol®). Eigene
Fallberichte ergaben keine Störungen bei den Neugeborenen.
Empfehlung für die Praxis:
Auf Chinolinol sollte verzichtet werden. Kleinflächige und kurzfristige Applikationen
der anderen genannten Mittel sind bei entsprechender Indikation in der Schwangerschaft
unbedenklich.
2.17.4
Glucocorticoide und nichtsteroidale Antiphlogistika
Pharmakologie und Toxikologie.
Bei langfristiger Anwendung oder bei Applikation auf größere Hautareale muss sowohl
bei Glucocorticoiden (siehe auch Abschnitt 2.15.9) als auch bei nichtsteroidalen Antiphlogistika
wie Bufexamac (z.B. Parfenac®) mit einer Resorption und dem Übergang auf den Fetus
gerechnet werden. Speziell zu dem in der Der-matologie weit verbreiteten Gebrauch
von Bufexamac liegen keine systematischen Untersuchungen in der Schwangerschaft vor.
Da es ein nicht unerhebliches allergenes Potenzial hat, sollte die Therapieindikation
nicht zu unkritisch gestellt werden. Nichtsteroidale antiphlogisti-sche Substanzen
haben sich in der systemischen Anwendung bislang nicht als teratogen erwiesen, sie
sind jedoch wegen ihrer prostaglandin-antagonistischen Effekte ab Woche 30 zu meiden
(siehe auch Abschnitt 2.1.11).
Bei 363 Kindern, deren Mütter in der Schwangerschaft mit topischen Glucocorticoiden
therapiert wurden, 170 davon im 1. Trimenon, war weder ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko
noch ein Unterschied der Geburtsparameter gegenüber einer unbehandelten Kontrollgruppe
nachweisbar (Mygind 2002).
Zu den lokalen Antiphlogistika Levomenol (z.B. in Sensicutan® Salbe) und Benzydamin
(Tantum® Rosa Lösung, Tantum® Verde Lösung) liegen keine systematischen Untersuchungen
zur Anwendung in der Schwangerschaft vor, aber auch keine Hinweise auf teratogene
Wirkungen.
Empfehlung für die Praxis:
Gegen eine zeitlich und flächenmäßig begrenzte externe Therapie mit Glucocorticoiden,
Bufexamac oder anderen lokalen Antiphlogistika ist nichts einzuwenden.
2.17.5
Adstringenzien
Pharmakologie und Toxikologie.
Adstringenzien führen an Schleimhäuten und Wunden durch Eiweißfällung der oberflächlichen
Schichten zur Abdichtung und Schrumpfung des Gewebes. Sie werden zur lokalen Behandlung
entzündeter Schleimhäute und Wunden verwendet. Therapeutisch werden zwei Gruppen eingesetzt,
gerbstoffhaltige Präparate wie Tannin (z. B. Tannalbin®) und verdünnte Lösungen von
Metallsalzen wie Aluminium aceticum oder Zinksalze.
Empfehlung für die Praxis:
Für die Therapie mit Adstringenzien in der Schwangerschaft gibt es keine Kontraindikation,
da mit deren Resorption nicht zu rechnen ist.
2.17.6
Antipruriginosa und ätherische Öle
Antiallergika und Lokalanästhetika
Antiallergika und Lokalanästhetika, die als Antipruriginosa zur lokalen Therapie zum
Einsatz kommen, sind in der Regel kein Problem in der Schwangerschaft (siehe Kapitel
2.2 und 2.11).
Polidocanol
Pharmakologie und Toxikologie.
Polidocanol (z.B. Anaesthesulf®) wird äußerlich gegen Juckreiz aufgetragen. Außerdem
benutzt man es intra-vasal zur Krampfaderverödung, bei Mundschleimhautläsionen, in
vaginalen Spermiziden und in Kosmetika. Weitere Anwendung findet es in Wundbehandlungsmitteln,
zum Teil in Kombination mit Benzethoni-um und Harnstoff (z.B. Brand- und Wundgel Medice®
N). Teratogene Wirkungen wurden bei diesem weit verbreiteten Mittel bislang weder
im Tierversuch noch beim Menschen beobachtet. Systematische Untersuchungen wurden
bisher nicht publiziert.
Empfehlung für die Praxis:
Polidocanol kann auch von Schwangeren gegen Juckreiz verwendet werden.
Kampfer und Menthol
Pharmakologie und Toxikologie.
Auf der Haut hat Kampfer bei Aufbringen geringer Mengen einen abkühlenden und lokalanästhetischen
Effekt, während durch intensives Einreiben die Hautdurchblutung gesteigert wird. Wegen
dieser Wirkungen ist Kampfer zusammen mit anderen ätherischen Ölen in vielen hyperämisierenden
Dermatika enthalten.
Menthol wird bei Juckreiz äußerlich angewendet.
Teratogene Wirkungen wurden bisher weder im Tierversuch noch beim Menschen beobachtet.
Empfehlung für die Praxis:
Kampfer und andere ätherische Öle dürfen in der Schwangerschaft zum Einreiben verwendet
werden.
2.17.7
Steinkohlenteerpräparate und Schieferölpräparate
Pharmakologie und Toxikologie.
Steinkohlenteerpräparate (z.B. Teer-Linola®-Fett), die vorwiegend zur Therapie der
Neurodermitis eingesetzt werden, stehen bislang nicht im Verdacht, teratogen zu wirken.
Eine retrospektive Untersuchung mit 23 exponierten Schwangeren ergab keinerlei Auffälligkeiten
(Franssen 1999). Teerprodukte haben experimentell z.T. mutagene bzw. kanzerogene Eigenschaften
gezeigt. Therapeutische Applikationen dieser schon lange benutzten Stoffgruppe haben
beim Menschen bislang keine derartigen Hinweise erbracht.
Die Schieferölextrakte Ammoniumbituminosulfonat (z.B. Ichtho-lan®) und Natriumbituminosulfonat
(Ichthosin®) werden bei (sub)-akuten und auch bei chronisch-entzündlichen Dermatosen
und anderen Indikationen äußerlich angewendet. Systematische Untersuchungen zur Pränataltoxizität
liegen nicht vor, jedoch auch keine Hinweise auf reproduzierbare teratogene Effekte
beim Menschen. Auf Kombinationspräparate mit Chloramphenicol (z.B. Ichthoseptal®)
sollte verzichtet werden.
Empfehlung für die Praxis:
Steinkohlenteerpräparate sollten in der Schwangerschaft möglichst nicht eingesetzt
werden. Eine dennoch erfolgte (versehentliche) Anwendung erfordert jedoch keine Konsequenzen.
Die flächenmäßig meist begrenzte Anwendung von Schieferölextrakten ist akzeptabel.
2.17.8
Lokale Immunmodulatoren zur Neurodermitis-Therapie
Tacrolimus und Pimecrolimus
Pharmakologie und Toxikologie.
Tacrolimus (z.B. Protopic®) und Pimecrolimus (z. B. Elidel®) werden zur lokalen Behandlung
der Neurodermitis eingesetzt. Zwar gibt es zur lokalen Anwendung in der Schwangerschaft
keine systematischen Studien, jedoch existieren umfangreiche Erfahrungen zur systemischen
Anwendung von Tacrolimus als Immun-suppressivum nach Transplantationen (siehe Abschnitt
2.12.4), die nicht auf ein teratogenes Risiko hindeuteten.
Zu Pimecrolimus liegen keine ausreichenden Erfahrungen zur Anwendung in der Schwangerschaft
vor.
Empfehlung für die Praxis:
Tacrolimus darf bei strenger Indikationsstellung in der Schwangerschaft auf begrenzten
Hautarealen angewendet werden. Eine Therapie mit Pimecrolimus sollte unterbleiben.
Eine dennoch erfolgte Applikation begründet aber weder einen Schwangerschaftsabbruch
noch invasive Diagnostik (siehe Kapitel 1.15).
2.17.9
Keratolytika
Salicylate und Harnstoffpräparate
Pharmakologie und Toxikologie.
Keratolytika werden zum Erweichen von Hornmaterial und zum Ablösen von Schuppen eingesetzt.
Salicylate sind als Keratolytika in 2–10%iger Lösung (z.B. Squamasol®) oder in 30–50
%iger Lösung (z. B. in Vaseline zur Therapie von Verrucae vulga-ris) in Gebrauch,
Harnstoffpräparate in 10%iger Zubereitung (z.B. Elacutan®). Systemische Wirkungen
sind bei indikationsgerechter Anwendung auch in der Schwangerschaft nicht zu erwarten.
Empfehlung für die Praxis:
Die lokale Anwendung der genannten Keratolytika ist bei Schwangeren unbedenklich,
wenn Behandlungszeitraum und -fläche begrenzt sind.
Calcipotriol und Dithranol
Pharmakologie und Toxikologie.
Calcipotriol (z.B. Psorcutan®) ist ein Vit-amin-D3-Derivat, das zur Therapie der Psoriasis
sowohl extern als auch intern angewendet wird. Es führt zur Reduktion der Keratinozytenpro-liferation
und hat auch immunmodulatorische Funktionen. Grundsätzlich ist in der Schwangerschaft
eine D-Hypervitaminose zu vermeiden. Anwendungen im empfohlenen Dosisbereich (< 100
g/Woche einer 0,005 %igen Zubereitung) führen aber nach heutigem Wissen nicht zu einer
Störung des Calcium-Stoffwechsels.
Systematische Untersuchungen zur Pränataltoxizität beim Menschen fehlen zu Calcipotriol
ebenso wie zu Dithranol (z. B. Micanol®), das als antimitotische Substanz in der Schwangerschaft
theoretisch suspekt ist, obwohl eine quantitative Resorption der üblicherweise 1–3
%igen Zubereitungen nicht wahrscheinlich ist.
Zu dem ausschließlich lokal angewendeten Vitamin-D-Derivat Tacalcitol (z.B. Curatoderm
Salbe®) liegen keine ausreichenden Erfahrungen zur Anwendung in der Schwangerschaft
vor. Es ist ähnlich zu bewerten wie Calcipotriol.
Empfehlung für die Praxis:
Großflächige wiederholte Anwendungen mit den genannten Mitteln sollten bei resorptionsbegünstigender
entzündlicher Veränderung der Haut unterbleiben.
Selendisulfid
Pharmakologie und Toxikologie.
Selendisulfid (z.B. Ellsurex® Paste) wird zur unterstützenden Therapie der Psoriasis
sowie bei Pityriasis vesico-lor eingesetzt. Systematische Untersuchungen zur Anwendung
in der Schwangerschaft liegen nicht vor, bisher gibt es keine Hinweise auf ein substantielles
teratogenes Risiko.
Empfehlung für die Praxis:
Die lokale Anwendung von Selendisulfid ist in der Schwangerschaft auf kleinen Hautarealen
und für einen begrenzten Behandlungszeitraum akzeptabel.
Azelainsäure
Pharmakologie und Toxikologie.
Die antibakteriell, antiphlogistisch und keratolytisch wirkende Azelainsäure (z.B.
Skinoren®) wird in der Aknetherapie eingesetzt. Ungefähr 4–8% der kutan applizierten
Dosis werden systemisch resorbiert. Im Tierversuch wirkte Azelainsäure selbst bei
hohen Dosen nicht teratogen (Akhavan 2003). Systematische Untersuchungen zur Anwendung
beim Menschen fehlen jedoch.
Empfehlung für die Praxis:
Azelainsäure sollte in der Schwangerschaft nur nach strenger Indikationsstellung auf
begrenzten Hautarealen zum Einsatz kommen und nach Möglichkeit nicht im 1. Trimenon
angewendet werden. Eine dennoch erfolgte Exposition rechtfertigt weder invasive Diagnostik
noch einen Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel 1.15).
Schwefelhaltige Präparate
Pharmakologie und Toxikologie.
Schwefel (2–10%), der als Zusatz in Lotionen, Cremes, Pudern, Einreibungen benutzt
wird, hat milde kera-tolytische und bakteriostatische Eigenschaften. Die Bioverfügbarkeit
von topisch appliziertem Schwefel beträgt etwa 1% (Akhavan 2003). Daten zur Anwendung
in der Schwangerschaft liegen nicht vor.
Empfehlung für die Praxis:
Schwefel darf bei entsprechender Indikationsstellung auf begrenzten Hautarealen auch
in der Schwangerschaft zum Einsatz kommen. Systemische Wirkungen nach lokaler Therapie
sind unwahrscheinlich.
Resorcinol
Pharmakologie und Toxikologie.
Resorcinol ist ein aromatischer Alkohol zur lokalen Therapie von Akne, seborrhoischer
Dermatitis und Psoriasis. Es ist ebenfalls in Haarfärbemitteln und Kosmetika enthalten.
Bisher gibt es keine Hinweise auf teratogene Effekte. Systematische Untersuchungen
zur Anwendung in der Schwangerschaft fehlen jedoch.
Empfehlung für die Praxis:
Die topische Behandlung mit Resorcinol ist bei entsprechender Indikationsstellung
in der Schwangerschaft auf begrenzten Hautarealen akzeptabel.
2.17.10
Retinoide zur Akne- und Psoriasistherapie
Pharmakologie.
Isotretinoin (13-cis-Retinsäure; Roaccutan®, Isotrex-Gel®) und Tretinoin (All-trans-Retinsäure;
z. B. Cordes® VAS, Vesano-id®) sind natürliche Derivate des Vitamin A (Retinol). Sie
werden bei äußerlicher und systemischer Anwendung seit über 20 Jahren mit großem Erfolg
bei Akne eingesetzt. Tretinoin ist außerdem in systemischer Zubereitung zur Behandlung
der promyelozytären Leukämie zugelassen. Retinsäure ist ein körpereigener Wachstumsfaktor,
der in allen Zellen vorkommt und an spezifische Retinoidrezeptoren gebunden wird.
Eine besonders wichtige Funktion hat die Retinsäure während der Embryonalphase, da
sie u.a. die Entwicklung von Gehirn und Wirbelsäule steuert.
Retinoide stimulieren die Proliferation epidermaler Zellen, an der Haut lockern sie
die Hornschicht auf und begünstigen auf diese Weise die Hautabschilferung. Isotretinoin
führt zusätzlich zur Atrophie der Talgdrüsen. Diese Eigenschaften erklären die Wirksamkeit
in der Akne-therapie. Die Halbwertszeit von Isotretinoin und seinem Metaboliten 4-oxo-Isotretinoin
beträgt durchschnittlich 29 bzw. 22 Stunden, im Extremfall bis zu einer Woche (Nulman
1998).
Bei der Behandlung der Psoriasis haben sich Acitretin (Neotigason®) und das inzwischen
aus dem Handel genommene Etretinat (Tigason®) bewährt. Beide führen zu lang anhaltend
hohen Retinoidkonzentratio-nen im Körper. Dabei wird Acitretin zu Etretinat metabolisiert,
dessen Halbwertszeit 80–175 Tage beträgt. Alkoholgenuss steigert die Umwandlung zu
Etretinat (Larsen 2000).
Zu den synthetischen, polyaromatischen, rezeptorselektiven Retino-iden gehören Adapalen
(Differin®), das zur Therapie einer schweren Acne vulgaris eingesetzt wird und Tazaroten
(Zorac®) zur Behandlung der Psoriasis.
Für die topische Behandlung eines AIDS-assoziierten Kaposi-Sar-koms steht als neue
Substanz 0,1%iges Alitretinoin-Gel (Panretin®) zur Verfügung, das durch Aktivierung
von Retinoidrezeptoren das Wachstum von Tumorzellen hemmen soll.
Toxikologie.
Die ausgeprägten teratogenen Eigenschaften der Retinoide waren vor der Markteinführung
tierexperimentell bekannt. Retinoide sind heute die beim Menschen am stärksten teratogen
wirksamen Arzneimittel seit Thalidomid (Contergan®). Ihre Anwendung in der Schwangerschaft
erhöht das Spontanabortrisiko und führt zum charakteristischen Retinoid-Syndrom: Fehlanlage
der Ohren einschließlich Agenesie oder Stenose des Gehörgangs, Störungen der Gesichts-
und Gaumenbildung, Mikrognathie, kardiovaskuläre Defekte und Entwicklungsstörungen
im Bereich des Thymus und des ZNS, die von neurologischen Schäden mit Beteiligung
von Augen und Innenohr bis zum Hydrozephalus reichen (Lammer et al., 1988, Larsen
et al., 2000). Intelligenzdefizite wurden auch bei Kindern ohne erkennbare Fehlbildungen
beobachtet (Adams 1991). Prospektive Studien zur mütterlichen Einnahme von Isotretinoin
in der Schwangerschaft ergaben bis zu 40% Spontanaborte, vermehrt Frühgeburten und
bis zu 35% große Fehlbildungen. Nachuntersuchungen der intrauterin mit Retinoid exponierten
Kinder im Alter von 5–10 Jahren fanden eine hohe Rate an mentalen Retardierungen und
speziellen Schwächen bei der visuell-räumlichen Verarbeitung. Bei 25% der Kinder mit
Intelligenzdefekten wurden keine großen Fehlbildungen diagnostiziert (Adams 2004).
Vor allem in Nordamerika wurden durch Isotretinoin geschädigte Kinder geboren, obwohl
wissenschaftliche Fachgesellschaften eindringlich auf das teratogene Risiko hingewiesen
hatten, wie z.B. die Teratology Society der USA (1991). Offenbar funktionierte die
vorgeschriebene Aufklärung in vielen Fällen nicht ausreichend (Honein 2000). An Hersteller
und FDA wurden bis zum Jahre 2000 über 150 Fälle gemeldet. Zahlreiche Publikationen
berichten über Einzelfälle oder kleine Fallserien, wie z.B. 14 in Kalifornien erfasste
Schwangerschaften, von denen 5 mit einem Schwangerschaftsabbruch endeten, 4 mit einem
Spontanabort und 5 mit Lebendgeburten. Eines der Kinder wies die bekannten Fehlbildungen
auf, bei den anderen 4 Kindern waren keine nachweisbar (Honein 2001). Moericke (2002)
beschreibt 2 Feten nach Schwangerschaftsabbruch, die zwar keine äußeren Fehlbildungen
aufwiesen, jedoch Mittel- und Innenohranomalien.
Neben früheren Fallberichten zu multiplen Fehlbildungen bei Acitre-tin (z.B. De Die-Smulders
1995) wurde kürzlich ein weiterer Fallbe richt mit täglich 10 mg bis Woche 10 und
typischer Embryopathie (Mikrozephalie, fasziale Dysmorphien, Vorhofseptumdefekt, bilaterale
sensorineurale Taubheit) publiziert. Im Alter von 18 Monaten hatte das Kind eine persistierende
Mikrozephalie sowie eine neurologische Ent-wicklungsretardierung (Barbero 2004). Geiger
und Mitarbeiter (1994) berichteten über insgesamt 8 Schwangerschaften mit Acitretin,
von denen 2 mit Schwangerschaftsabbruch, 4 mit Spontanabort und weitere 2 mit einer
Lebendgeburt endeten. Einer der abortierten Feten wies typische Fehlbildungen auf.
Die beiden Lebendgeborenen waren gesund, lediglich bei einem der Kinder waren Hörstörungen
bei hohen Frequenzen auffällig. Von 67 Schwangerschaften mit präkonzeptioneller Acitretin-Behandlung
(im Mittel 5 Monate vor der Konzeption) endeten 9 mit Spontanabort, 18 mit Schwangerschaftsabbruch
und 40 mit einer Lebendgeburt. Vier Kinder wiesen unspezifische Fehlbildungen auf.
Bei 75 Frauen mit Etretinat-Therapie in der Schwangerschaft wurde über 29 Lebendgeborene
berichtet, von denen 6 retinoidtypische und 3 unspezifische Fehlbildungen aufwiesen.
Unter den 41 Schwangerschaftsabbrüchen fanden sich 5 Feten mit retinoidspezifischen
und 2 mit anderweitigen Fehlbildungen, weitere 5 Schwangerschaften endeten mit einem
Spontanabort. Unter 88 Lebendgeborenen von insgesamt 173 Fällen mit einer Etretinat-Therapie
vor der Schwangerschaft (im Mittel 15 Monate vor Konzeption) waren bei 5 Kindern typische,
bei 13 weiteren unspezifische Fehlbildungen nachweisbar. Auch bei 3 Schwangerschaftsabbrüchen
wurden retinoidspezifische Fehlbildungen diagnostiziert (Geiger 1994).
In Postmarketing-Studien wurden 11 Fälle einer Acitretin-Behand-lung zum Zeitpunkt
der Konzeption beim Vater erfasst. Fünf Schwangerschaften endeten mit der Geburt gesunder
Kinder, 5 mit einem Spontanabort und 1 mit einem Schwangerschaftsabbruch (Geiger 2002).
Äußerliche Anwendung.
Fünf Fallbeschreibungen haben in den letzten Jahren den Verdacht aufkommen lassen,
dass auch nach topischer Applikation von Tretinoin Vitamin-A-Säure-typische Fehlbildungen
nicht sicher auszuschließen sind (Selcen 2000, Colley 1998, Navarre-Belhassen 1998,
Lipson 1993, Camera 1992). Zwei kontrollierte Studien mit insgesamt etwa 300 Schwangeren
erbrachten hingegen keine Hinweise auf teratogene Effekte (Shapiro 1997, Jick 1993).
Die größere dieser Studien beruht jedoch auf Verordnungsprotokollen, von denen nicht
zwingend auf eine tatsächlich erfolgte Anwendung der Mutter geschlossen werden kann.
Außerdem erlauben Design und Fallzahlen dieser Studien noch nicht die Annahme einer
Unbedenklichkeit (Martinez-Frias 1999). Eine neuere prospektive Studie mit 106 im
1. Trimenon äußerlich mit Tretinoin behandelten Frauen ergab weder ein erhöhtes Abort-
noch ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko. Es fanden sich auch keine Hinweise auf eine
erhöhte Inzidenz von retinoidverdächtigen kleinen Anomalien im Vergleich zu einer
Kontrollgruppe. Die Studie gibt allerdings keine Angaben zur Dosis und Häufigkeit
der lokalen Tretinoinbe-handlung (Loureiro 2005). Im eigenen Datenbestand haben wir
30 Schwangerschaften mit lokaler Tretinointherapie im 1. Trimenon pros-pektiv erfasst.
Bis auf einen Abort endeten alle Schwangerschaften mit einer Lebendgeburt. Grobstrukturelle
Fehlbildungen wurden nicht beobachtet.
Auch aufgrund pharmakokinetischer Daten ist ein nennenswertes teratogenes Risiko bei
äußerlicher Anwendung nicht wahrscheinlich, wenn die behandelte Fläche nicht allzu
groß ist: Die Resorptionsquote beträgt durchschnittlich 2 % und maximal etwa 6 % (van
Hoogdalem 1998), die Konzentration der topischen Retinoidpräparate liegt bei 0,05%,
ein nennenswerter Anstieg der endogenen Retinoidkonzentra-tionen im Plasma (2–5 μg/l)
nach äußerer Anwendung wurde nicht beobachtet. Übliche tägliche Dosen sind maximal
2 g Salbe, die 1 mg Wirkstoff enthalten (0,05 %ig). Allerdings muss bedacht werden,
dass stark entzündete Haut oder zusätzliche (desinfizierende) Anwendungen (z.B. mit
Benzoylperoxid; siehe dort) die Resorptionsquote erhöhen können.
Das BfArM (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) warnt vor der äußerlichen
Applikation von Tretinoin in der Schwangerschaft (BfArM 1994). Eine topische Anwendung
von Isotretinoin (Iso-trex-Gel®) ist genauso wie Tretinoin zu bewerten. Eigene Daten
zur lokalen Isotretinoin-Anwendung umfassen 23 prospektiv erfasste Schwangerschaften.
Nur eines von 18 Lebendgeborenen wies eine Fehlbildung (Gaumenspalte) auf.
Zur topischen Anwendung von Adapalen (Differin®) gibt es einen Fallbericht mit Therapie
bis Woche 13, bei dem die Schwangerschaft nach sonographischer Diagnose zerebraler
und okulärer Fehlbildungen, die als nicht retinoidtypisch bewertet wurden, abgebrochen
wurde (Autret 1997). Im eigenen Datenbestand haben wir 6 prospektiv dokumentierte
Schwangerschaften mit Adapalentherapie im 1. Trimenon, die alle mit der Geburt eines
gesunden Kindes endeten.
In einer französischen prospektiven Studie wurden 94 Schwangerschaften mit topischer
Retinoidtherapie (Tretinoin, Isotretinoin oder Adapalen) ausgewertet, dabei zeigte
sich weder ein Hinweis auf ein erhöhtes Abortrisiko, noch war ein teratogenes Risiko
nachweisbar (Carlier 1998). Allerdings wird weder nach Substanzen differenziert, noch
gibt es Angaben zu Zeitpunkt und Dauer der Therapie.
Bei lokaler Anwendung von Tazaroten (Zorac®) werden 6% der applizierten Dosis perkutan
resorbiert. Es hat eine Halbwertszeit von 17–18 Stunden. Seine Metaboliten sind hydrophil,
so dass keine Anreicherung im Fettgewebe stattfindet. Nach Behandlung in der Schwangerschaft
wurde über gesunde Kinder berichtet, allerdings ohne Angaben zu Therapiedauer und
Dosis (Menter 2000). Wir überblicken 5 prospektiv erfasste Schwangerschaften mit Therapie
im 1. Trimenon, von denen 2 mit einem Spontanabort und 3 mit der Geburt eines lebenden
Kindes endeten, ein Neugeborenes wies ein kleines Hämangiom auf. Bei den anderen beiden
fanden sich keine Auffälligkeiten (eigene Daten).
Zu Alitretinoin-Gel (Panretin®) liegen keine Erfahrungen in der Schwangerschaft vor.
Empfehlung für die Praxis:
Die systemische Therapie mit den Retinoiden Aci-tretin, Etretinat, Isotretinoin und
Tretinoin ist in der Schwangerschaft absolut kontraindiziert. Bei Frauen im gebärfähigen
Alter ist eine Behandlung nur bei ausreichendem kontrazeptivem Schutz und nach Ausschluss
einer Schwangerschaft erlaubt, wenn andere Therapieansätze wirkungslos waren. Eine
sichere Kontrazeption muss nach Absetzen von Acitretin und Etretinat noch zwei Jahre
weitergeführt werden und nach Absetzen von Isotretinoin noch einen Monat. Bei deutlichem
Unterschreiten dieser Zeitvorgaben, insbesondere bei Behandlung in die Frühschwangerschaft
hinein, ist eine erhebliche Schädigung der embryonalen Entwicklung möglich. Nach eingehender
Analyse im Einzelfall muss eventuell ein Schwangerschaftsabbruch erörtert werden.
Die äußerliche Anwendung von Retinoiden ist während der Schwangerschaft ebenfalls
kontraindiziert. Im Fall einer solchen Therapie in der Frühschwangerschaft ist ein
risikobegründeter Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel 1.15) aufgrund des offenbar
nur geringen, wenn überhaupt vorhandenen teratogenen Risikos nicht inidiziert. Eine
Ultraschallfeindiagnostik sollte jedoch angeboten werden.
2.17.11
Photochemotherapie und Fumarsäure-Präparate
Pharmakologie und Toxikologie.
Die Photochemotherapie (PUVA-Therapie) der schwer verlaufenden Psoriasis erfolgt mit
oraler Gabe oder -heute bevorzugt - äußerer Anwendung von 8-Methoxy-Psoralen (Methoxsalen;
Meladinine®) und anschließender langwelliger WA-Bestrahlung. Durch das UV-Licht wird
das Psoralen chemisch aktiviert, bindet stärker an DNS und schädigt die Zellen. Der
zytotoxische Effekt der PUVA-Behandlung ist aufgrund der geringen Eindringtiefe des
UV-Lichtes auf die Haut beschränkt.
Das European Network of Teratology Information Services ENTIS hat 41 Schwangerschaften
analysiert, bei denen die systemische PUVA-Therapie mit 8-Methoxypsoralen durchgeführt
wurde (Garbis 1995). In dieser Studie, in der sich die PUVA-Therapie auf das 1. Trimenon
beschränkte, fanden sich ebenso wie in einer skandinavischen Studie (Gunnarskog 1993)
keinerlei Hinweise auf embryotoxische Effekte.
Fumarsäure wird in geringen Mengen auch bei der Nahrungsherstellung z.B. als Antioxidanz
verwendet, in der Psoriasis-Therapie sind hingegen nach Einschleichen Dosierungen
von täglich einigen 100 mg üblich, die als Nebenwirkungen u.a. Leuko- und Lymphopenien
verursachen können. Die Verträglichkeit für den Fetus wurde nicht untersucht. Wir
überblicken 15 Schwangerschaften, bei denen in das 1. Tri-menon hinein eine Psoriasis
mit Fumarsäure (Dimethylfumarat + Ethylhydrogenfumarat; Fumaderm®) behandelt wurde.
Hinweise auf embryotoxische oder teratogene Effekte haben sich dabei nicht ergeben
(1 Spontanabort, 1 Totgeburt, bei den 13 lebend geborenen Kindern fanden sich keine
großen Fehlbildungen).
Empfehlung für die Praxis:
Die Photochemotherapie mit 8-Methoxypsoralen und UVA-Bestrahlung ist in der Schwangerschaft
wegen möglicher mutagener Wirkungen kontraindiziert, auch eine Fumarsäure-Behandlung
sollte unterbleiben. Eine dennoch erfolgte Anwendung rechtfertigt weder einen risikobegründeten
Schwangerschaftsabbruch noch invasive Diagnostik (siehe Kapitel 1.15).
2.17.12
Sexualhormone und Cyproteronacetat
Siehe auch Kapitel 2.15.
Cyproteronacetat
Pharmakologie und Toxikologie.
Androgene, wie z.B. Testosteron, haben eine direkte Wirkung auf Behaarung und Talgdrüsen;
das verdeutlicht die juvenile Akne in der Pubertät. Aufgrund ihrer antiandrogenen
Eigenschaften besitzen eine Reihe von Sexualhormonen, wie manche Gestagene und Estrogene
und besonders der Antagonist Cyproteronacetat, eine aknehemmende Wirkung. Dieser Effekt
wird therapeutisch genutzt. Am weitesten verbreitet ist die Kombination von Ethinylestra-diol
und Cyproteronacetat in oralen Kontrazeptiva (Diane®35). Siehe auch Abschnitt 2.15.18.
Empfehlung für die Praxis:
In der Schwangerschaft ist die Akne-Therapie mit Sexualhormonen und ihren Hemmstoffen
kontraindiziert. Eine dennoch erfolgte Anwendung rechtfertigt weder einen risikobegründeten
Schwangerschaftsabbruch noch invasive Diagnostik (siehe Kapitel 1.15).
2.17.13
5-Fluorouracil
Pharmakologie und Toxikologie.
Das Zytostatikum 5-Fluorouracil (z. B. Efudix-Salbe®) wird systemisch in der Krebs-Therapie
eingesetzt (siehe Kapitel 2.13). Bei lokaler Behandlung der vaginalen Condylomatose
in der Frühschwangerschaft verursachte es keine embryotoxischen Effekte (Kopelman
1990, Odom 1990), gleiches gilt für die Behandlung von Warzen (eigene Daten). Diese
Erfahrungen beruhen allerdings auf geringen Fallzahlen.
Empfehlung für die Praxis:
Die lokale Behandlung mit 5-Fluorouracil ist, mit Ausnahme einzelner Warzen (Verrucae
vulgares), in der Schwangerschaft kontraindiziert, Salicylsäure sollte als Alternativ-Therapie
geprüft werden. Die Behandlung von Condylomata sollte bis nach der Geburt verschoben
werden oder andere Vorgehensweisen wie Kryotherapie und Trichloressigsäure gewählt
werden. Die lokale Anwendung dieses Zytostatikums stellt jedoch keine Indikation für
einen risikobegründeten Abbruch der Schwangerschaft oder invasive Diagnostik dar (siehe
Kapitel 1.15).
2.17.14
Lithium
Pharmakologie und Toxikologie.
Lithium wird neben der oralen Therapie von bipolaren Störungen (siehe Abschnitt 2.11.11)
auch zur lokalen Therapie einer seborrhoischen Dermatitis eingesetzt (z.B. Efadermin
Salbe). Es besitzt eine antientzündliche Wirkung. Die perkutane Penetration ist sehr
gering und Plasmakonzentrationen sind wesentlich geringer als nach oraler Aufnahme
(Sparsa 2004).
Empfehlung für die Praxis:
Die äußerliche Behandlung mit Lithium ist aufgrund unzureichender Daten in der Schwangerschaft
nicht zu empfehlen. Eine dennoch erfolgte Exposition rechtfertigt aber weder den Abbruch
einer gewünschten Schwangerschaft noch invasive Diagnostik.
2.17.15
Krätze-und Läusemittel
Pharmakologie und Toxikologie.
Zur äußerlichen Therapie der Krätze (Skabies) stehen Benzylbenzoat (Antiscabiosum®),
Lindau (Jacutin®) und das Pyrethroid Allethrin („Bioallethrin”; Spregal®) zur Verfügung
und zur innerlichen Anwendung Ivermectin (siehe Abschnitt 2.6.51). Bei Läusebefall
werden Kokosöl (Aesculo®), Pyrethrumextrakt (Gold geist forte®), die Pyrethroide Allethrin
(mit Wirkungsverlängerer Pipe-ronylbutoxid in Jacutin N®) und Pyrethrin sowie Lindan
(Jacutin®, Delitex Haarwäsche N®) verwendet. Crotamiton (Crotamitex®) sowie das Pyrethroid
Permethrin (z.B. Infectopedicul®, Infectoscab®) sind für die Behandlung von Skabies
und Läusebefall zugelassen.
Aufgrund letal verlaufender Intoxikationen in den USA („Gasping-Syndrom” mit progressiver
Enzephalopathie und schwerer metaboli-scher Azidose, Knochenmarkdepression und multiplem
Organversagen) ist Benzylbenzoat in der Neonatologie in Verruf geraten. Allerdings
wurde in den o.g. Fällen Benzylbenzoat als Spüllösung bei zentralen Kathetern verwendet.
Nach äußerlicher Applikation ergaben sich bisher, abgesehen von Reizwirkungen auf
Haut und Schleimhaut, weder im Tierversuch noch bei der Anwendung beim Menschen Hinweise
auf nennenswerte Toxizität (Fölster-Holst 2000).
Crotamiton wird zu weniger als 1% der applizierten Dosis perkutan resorbiert. Eine
Kumulation der Substanz war bisher nicht nachweisbar. Im Vergleich zu anderen Antiskabiosa
soll es etwas weniger wirksam sein (Fölster-Holst 2000).
Bei Kokosöl ist ein toxisches Potenzial nicht anzunehmen (Richter 2005).
Lindan hat ein neurotoxisches Potenzial. Lindan 0,3%ig wird zu 10% perkutan resorbiert
(Fölster-Holst 2000; siehe auch Abschnitt 4.12.7). Im Tierversuch konnte gezeigt werden,
dass sich Lindan nicht nur im Fettgewebe, sondern auch im Hoden anreichern und zur
Zerstörung von Leydig-Zellen führen kann (Suwalsky 2000). Nach europäischen Umweltrichtlinien
darf es nur noch bis Ende 2007 verwendet werden.
Die synthetischen Pyrethroide Allethrin I, Permethrin und Pyrethrin haben längere
Halbwertszeiten als das „natürliche” Pyrethrum, weshalb dieses bei der Therapie einer
Pedikulose bevorzugt werden sollte. Permethrin wird zu etwa 2% perkutan resorbiert
(Fölster-Holst 2000). Aufgrund seiner Langzeitwirkung wird es als effektiver angesehen
als Pyrethrum, obwohl keine systematischen Studien zum Vergleich beider Substanzen
vorliegen. Weltweit ist eine erhebliche Zunahme von Resistenzen gegen Pyrethroidderivate,
einschließlich Permethrin festzustellen (Richter 2005). Die prospektive Untersuchung
von 113 Schwangeren mit Anwendung von Permethrin-Shampoo, 31 im 1. Trimenon, ergab
keinen Hinweis auf ein embryotoxisches Risiko (Kennedy 2005, Kennedy 2003). Zusammenfassend
haben sich bei keinem der genannten Mittel teratogene Effekte nach üblicher Anwendung
beim Menschen gezeigt.
Empfehlung für die Praxis:
Krätze sollte mit Crotamiton oder Benzylbenzoat und Läusebefall mit Kokosöl oder Pyrethrumextrakt
behandelt werden. Alternativ kann auch 2,5% Essiglösung (Speiseessig 1:1 verdünnt)
bei Läusen ver sucht werden. Synthetische Pyrethroide sind in der Schwangerschaft
Mittel der zweiten Wahl. Lindan sollte gemieden werden. Eine bereits erfolgte Behandlung
erfordert jedoch keine Konsequenzen.
2.17.16
Repellents
Pharmakologie und Toxikologie.
Mückenabschreckende Mittel (Repellents), wie z.B. Diethyltoluamid (DEET; z.B. Nobite®
Hautspray) oder Icaridin (Bayrepel®, Autan®) werden durch Einreiben oder Spray auf
die Haut aufgebracht. Perkutan können von DEET ca. 8 % bis maximal 17 % resorbiert
werden (Sudakin 2003). Eine Mutter, die in Afrika während der gesamten Schwangerschaft
neben einer Malariaprophylaxe mit Chloroquin ihre Arme und Beine täglich mit einer
25 %igen DEET-Lotion eingerieben hatte, brachte ein in seiner geistigen Entwicklung
retardiertes Kind zur Welt (Schaefer 1992). Da DEET neurotoxische Eigenschaften besitzt
und über die Haut resorbiert wird, schließen die Autoren einen kausalen Zusammenhang
nicht völlig aus. Es gibt allerdings keine weiteren Berichte zu entwicklungstoxischen
Schäden beim Menschen. In einer prospektiven randomisierten Doppelblindstudie fanden
sich bei 449 Schwangeren, die im 2. und 3. Trimenon durchschnittlich 1,7 g/Tag DEET
anwendeten, im Vergleich zur Kontrollgruppe keine Unterschiede in der Entwicklung
der Neugeborenen. Bei 8 % der behandelten Frauen war DEET im Nabelschnurblut nachweisbar.
Unterschiede in der Entwicklung der Kinder bis zum 1. Lebensjahr zeigten sich nicht
(McGready 2001). Zur Anwendung von DEET im 1. Trimenon liegen keine systematischen
Untersuchungen vor, nur 3 Einzelfallbeobachtungen mit gesund geborenen Kindern (eigene
Daten). Icaridin hat ein geringeres toxisches Potenzial als DEET, systematische Untersuchungen
zur Schwangerschaft liegen allerdings nicht vor.
Empfehlung für die Praxis:
Von der bedenkenlosen, großflächigen Anwendung von Insektenrepellents vom Typ des
DEET über längere Zeit ist in der Schwangerschaft abzuraten. In Gebieten mit hohem
Malariarisiko, die während einer Schwangerschaft nur aus zwingenden Gründen besucht
werden sollten, ist das mit der Anwendung von DEET verbundene Risiko für Mutter und
Kind als eindeutig geringer einzuschätzen als das Risiko durch eine Malariainfektion.
Pyrethro-idhaltige Repellents sind zu meiden. Wo immer möglich, sollten in der Schwangerschaft
andere Repellents einschließlich Icaridin bevorzugt werden. Weder die Anwendung von
DEET im 1. Trimenon noch von pyrethroidhaltigen Repellents erfordert einen risikobegründeten
Abbruch der Schwangerschaft oder invasive Diagnostik (siehe Kapitel 1.15).
2.17.17
Augen-, Nasen- und Ohrentropfen
Augen-, Nasen- und Ohrentropfen dürfen bei entsprechender Indikation generell auch
in der Schwangerschaft angewendet werden. Allerdings gilt auch hier, dass eine wohl
begründete Medikamentenwahl erfolgen sollte und sowohl fragwürdige Kombinationspräparate
als auch (Pseudo-)Innovationen während der Schwangerschaft zu meiden sind. Im Zweifelsfall
kann man sich an Empfehlungen zur systemischen Therapie in den entsprechenden Abschnitten
orientieren.
Augentropfen und Glaukomtherapie
Insbesondere bei Augentropfen ist mit einer quantitativen Arzneimittelresorption über
die Konjunktiven zu rechnen. Daher ist nicht auszuschließen und teilweise beobachtet
worden, dass beispielsweise atro-pinartige Substanzen und Betarezeptorenblocker (siehe
Abschnitt 2.8.2) als Augentropfen die fetale Herzfrequenz erhöhen bzw. senken können.
Bedrohliche Situationen sind bei üblichen Dosen zum diagnostischen Weittropfen oder
zur Glaukombehandlung nicht zu erwarten. Die ebenfalls zur Glaukomtherapie verwendeten
Carboanhydra-sehemmer Brinzolamid (Azopt®), Dorzolamid (z.B. Trusopt®) und zur systemischen
Anwendung Acetazolamid (z.B. Diamox®) sind zwar nicht systematisch untersucht, bisher
haben sich jedoch bei den länger eingeführten Präparaten keine negativen Auswirkungen
auf den Fetus gezeigt. Eigene Daten zu insgesamt ca. 10 prospektiv dokumentierten
Schwangerschaften mit mütterlicher Brinzolamid- oder Dorzolamid- therapie deuten nicht
auf ein embryotoxisches Risiko hin.
Die mütterliche Therapie mit 750 mg/Tag Acetazolamid (Diamox®) in den letzten 3 Tagen
vor Entbindung führte bei einem mit 34 Wochen geborenen Kind zu Tachypnoe, respiratorisch-metabolischer
Azidose, Hypoglykämie und Hypokaliämie. Die Serumkonzentration 5 Stunden nach der
Geburt betrug 2,9 μg/ml, das entspricht beinahe der therapeutischen Konzentration
bei Erwachsenen (3–10 μg/ml). Nach Normalisierung des pH-Wertes besserten sich die
klinischen Symptome spontan. Am 11. Tag war kein Acetazolamid mehr nachweisbar, die
weitere Entwicklung des Kindes verlief normal (Ozawa 2001). Bei den Neugeborenen von
12 Frauen, die wegen eines idiopathischen, erhöhten intrakraniellen Drucks mit durchschnittlich
500 mg/Tag Acetazolamid behandelt wurden, 9 davon im 1. Trimenon, waren keine Fehlbildungen
oder andere Auffälligkeiten nachweisbar (Lee 2005).
Zu Latanoprost (z.B. XALATAN®) wurde über 10 prospektiv dokumentierte Behandlungen
berichtet, 9 davon im 1. Trimenon. Eine Schwangerschaft endete mit einem Spontanabort.
Die 9 reifgeborenen Kinder wiesen keine Fehlbildungen auf (De Santis 2004). Eine andere
Publikation beschreibt 2 weitere Fälle mit Latanoprost, beide im 1. Trimenon bzw.
in einem Fall während der gesamten Schwangerschaft. Beide Neugeborenen waren gesund.
Bei einer Patientin wurde die Therapie mit Brimonidin und in beiden Fällen mit Timolol
kombiniert (Johnson 2001). Unsere eigenen Daten zu 11 Schwangerschaften ergeben ebenfalls
keine Hinweise auf Embryotoxizität.
Nach mütterlicher Therapie mit Bimatoprost (Lumigan®) verliefen 3 Schwangerschaften
unauffällig (eigene Daten). Zu Travoprost (TRAVA-TAN®) liegen keine Erfahrungen in
der Schwangerschaft vor.
Da Prostaglandine den Uterustonus erhöhen und eine Minderperfusion des Fetus verursachen
können, ist generell Zurückhaltung geboten. Falls ein schweres Glaukomleiden die lokale
Behandlung mit Pro-staglandinderivaten unbedingt erfordert, sollte die Dosis so niedrig
wie möglich gewählt werden.
Einem Fallbericht zufolge wurde nach mütterlicher Pilocarpin-Behandlung (z.B. Borocarpin®)
über die gesamte Schwangerschaft ein gesundes Kind geboren (Johnson 2001). Cholinergika
wie z.B. Pilo-carpin, Clonidin zubereitungen (z.B. Dispaclonidin®) oder Sympatho-mimetika,
wie z.B. Brimonidin (Alphagan®) oder Dipivefrin (z.B. Glaucothil®) sind zwar nicht
systematisch untersucht, haben aber bisher keine negativen Auswirkungen auf den Fetus
gezeigt.
Anticholinergika und Mydriatika (z.B. Cyclopentolat, Homatropin oder Tropicamid) siehe
Abschnitt 2.5.8.
Abschwellende Nasentropfen
Systematische Untersuchungen liegen zur Embryotoxizität von abschwellenden Nasentropfen
oder -sprays nicht vor. Es haben sich auch in der Schwangerschaft sehr häufig verwendete
Präparate mit Xy-lometazolin (z.B. Olynth®) und Oxymetazolin (z.B. Nasivin®) bisher
nicht als riskant für den Fetus erwiesen, obwohl theoretisch (in hohen Dosen) eine
Vasokonstriktion zur Versorgungsstörung beim Fetus führen könnte. Diese Nebenwirkung
ist bei der üblichen Dosierung nicht zu befürchten. Eigene Daten zur mütterlichen
Xylometazolin- Therapie mit 113 prospektiv erfassten Schwangerschaften, 77 davon im
1. Trime-non, lassen kein teratogenes Risiko erkennen. Viele Frauen – auch Schwangere
– nehmen abschwellende Nasenpräparate häufig über mehrere Monate, statt der empfohlenen
Begrenzung auf wenige Tage. Um Schäden an der Nasenschleimhaut zu vermeiden, sollten
„Entzugs-strategien” angeboten werden.
Zu Indanazolin (Farial®), Naphazolin (z.B. Rhinex®), Tetryzolin (z.B. Tetrilin K/-E®)
und Tramazolin (z.B. Rhinospray®) liegen keine ausreichenden Erfahrungen in der Schwangerschaft
vor.
Andere Augen-, Nasen- und Ohren-Präparate
Glucocorticoide, Cromoglicinsäure, Antihistaminika, Antibiotika und Aciclovir sowie
Filmbildner („künstliche Tränenflüssigkeit”), wie z.B. Povidon (z. B. Arufil®), dürfen
indikationsgerecht angewendet werden. Aus grundsätzlichen Erwägungen sollte auf Chloramphenicol
verzichtet werden.
Die nasale oder inhalative Anwendung von Budesonid und anderer Corticosteroide hat
keine nennenwerte Teratogenität gezeigt (Källén 2003).
Bei 26 Frauen, die im Rahmen einer randomisierten Doppelblindstudie. Fluticason-Nasenspray
benutzten, fand sich gegenüber der Place-bogruppe kein Unterschied in der Entwicklung
der Neugeborenen (Ellegard 2001).
Zu dem neueren Ophthalmologikum Loteprednol (Lotemax®) gibt es bisher keine Erfahrungen
zur Anwendung in der Schwangerschaft. Es ist ähnlich zu bewerten wie andere lokale
Glucocorticoide und für eine Kurzzeitanwendung akzeptabel, wenn keine anderen Therapiemöglichkeiten
zur Verfügung stehen.
2.17.18
Hämorrhoidenmittel
Pharmakologie und Toxikologie.
Hämorrhoidenmittel (Hämorrhoidensal-ben und Suppositorien) sind Lokaltherapeutika,
die als Einzelstoffe oder in Kombination meistens Lokalanästhetika, Glucocorticoide,
Antibiotika und Desinfizienzien enthalten. Diese Präparate werden auch zur Nachbehandlung
operativer Eingriffe im rekto-analen Bereich eingesetzt.
Empfehlung für die Praxis:
Die üblichen Hämorrhoidenmittel haben sich in der Schwangerschaft als unbedenklich
erwiesen.
2.17.19
Venentherapeutika
Aescin-Präparate (Rosskastanienextrakt) bei Venenbeschwerden sind in der Schwangerschaft
bisher nicht als problematisch aufgefallen, aber nicht systematisch untersucht.
Eine Venenverödung bei Krampfadern, z. B. mit Polidocanol (Mac-rogollaurylether; z.B.
Aethoxysklerol®), darf- falls zwingend erforderlich - auch während der Schwangerschaft
durchgeführt werden.
2.17.20
Antihidrotika
Pharmakologie und Toxikologie.
Methenamin (z. B. Antihydral® Salbe) ist ein Lokaltherapeutikum, das als Salbe bei
übermäßiger Schweißproduktion eingesetzt wird. Systematische Untersuchungen zur Anwendung
in der Schwangerschaft liegen nicht vor. Die systemische Anwendung ist umstritten,
bei lokaler Applikation ist jedoch nicht mit einer Resorption größerer Wirkstoffmengen
zu rechnen. Zu intrakutan zu applizierenden Präparaten mit Clostridium botulinum Toxin
(z.B. BOTOX®) siehe Abschnitt 2.16.
Empfehlung für die Praxis:
Methenamin darf bei entsprechender Indikation auf kleinen Flächen auch in der Schwangerschaft
angewendet werden. Clostridium botulinum Toxin sollte nicht in der Schwangerschaft
(bei primärer Hyperhi-drosis oder kosmetischen Indikationen) angewendet werden. Eine
dennoch erfolgte Exposition erfordert keine Konsequenzen, wenn die Mutter keine nennenswerten
Nebenwirkungen hatte.
2.17.21
Minoxidil
Minoxidil findet oral als Antihypertensivum Anwendung. Es hat eine vasodilatatorische
Wirkung und wird lokal bei androgener Alopezie und anderen Arten von Haarausfall angewendet
(z. B. Regaine® Frauen Lösung). Die Substanz ist lipophil, ihre perkutane Resorption
soll 2–3 % betragen. Dabei werden Serumkonzentrationen erreicht, die weit unterhalb
einer therapeutischen, antihypertensiv wirksamen Konzentration für Erwachsene liegen.
In einer prospektiven Studie wurden 17 Schwangere mit Minoxidil-Lösung behandelt,
eines von 15 lebend geborenen Kindern wies eine Herzfehlbildung auf (Shapiro 2003).
Zwei eigene prospektiv erfasste Schwangerschaften mit Exposition im 1. Trimenon endeten
mit der Geburt gesunder Kinder.
Bei einer Frau, die seit einigen Jahren mindestens zweimal täglich Minoxidil lokal
auf ihre Kopfhaut applizierte, diagnostizierte man beim Fetus Hirn-, Herz- und vaskuläre
Fehlbildungen. Der pathologische Befund zeigte eine deutliche Herzvergrößerung mit
einer distalen Stenose der Aorta, ein erheblich verlängertes Colon sigmoideum, eine
Hirnventrikelerweiterung, zerebrale Hämorrhagien sowie ischämische Areale in der Plazenta
(Smorlesi 2003).
In einer weiteren Publikation wird nach einer mehrjährigen lokalen 2 %igen Minoxidil-Behandlung
über eine ausgeprägte kaudale Hypo-trophie des Fetus berichtet mit Aplasie der unteren
Wirbelsäule, Fehlanlage der unteren Extremitäten und des harnableitenden Systems,
kompletter Nierenagenesie und Ösophagusatresie (Rojansky 2002).
Da ausreichende Erfahrungen auch für die lokale Anwendung von Minoxidil in der Schwangerschaft
nicht vorliegen, sollte auf eine län-gerfristige Anwendung verzichtet werden.
Gleiches gilt für Eflornithin (Vaniqa®), das zur äußerlichen Behandlung des Hirsutismus
angeboten wird.
2.17.22
Kosmetika
Kosmetika, auch Haarkosmetika einschließlich Färben und Dauerwelle, dürfen, wenn es
die Befindlichkeit der Schwangeren fördert, im üblichen Rahmen angewendet werden.
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2.18
Vitamine, Mineralien und Spurenelemente
Der veränderte mütterliche Stoffwechsel, das Wachstum des Fetus und die zusätzliche
Speicherung einiger Vitamine in der Plazenta (insbesondere handelt es sich dabei um
die Vitamine A, B1, B2, B3, B6, B12, C, Fol-säure), erhöhen sowohl den Vitaminbedarf
als auch den Bedarf an Eisen und Iod in der Schwangerschaft. Die im Folgenden für
den Tagesbedarf angegebenen Werte beziehen sich auf die Empfehlungen der Deutschen
Gesellschaft für Ernährung (DGE).
Bei ausgewogener und vielseitiger Ernährung ist eine zusätzliche Substitution von
Vitaminen oder Mineralien nicht routinemäßig erforderlich, mit Ausnahme von Folsäure
in der Frühschwangerschaft und Iodid.
Es wird kontrovers diskutiert, ob eine Substitution weitere Vitamine das Risiko von
Fehlbildungen senkt (Groenen 2004, Krapels 2004, Shaw 2000). Es ist grundsätzlich
ein größerer Wert auf gesunde und vielseitige Ernährung als auf eine Vitamin-Substitution
in Form von Tabletten zu legen. Toxische oder teratogene Effekte durch Gabe hoher
Dosierungen sind bisher nur für die Vitamine A und D bekannt.
2.18.1
Vitamin A (Retinol)
Pharmakologie.
Vitamin A (z.B. Vitamin-A-saar®) ist die Ausgangssubstanz für den Sehpurpur, außerdem
benötigen epitheliale Zellen Vitamin A für das Wachstum und die Aufrechterhaltung
ihrer Funktion. Einem bei uns seltenen Vitamin-A-Mangel werden Störungen der Lungenentwicklung
bzw. eine erhöhte Inzidenz von Atemwegserkrankungen beim Kind zugeschrieben (Biesalski
2001). Der Tagesbedarf beträgt etwa 1 mg Retinol oder 2 mg β
-Carotin. Vitamin A wird ähnlich wie Vitamin C im Embryo angereichert. Die Konzentration
von Vitamin-A-Metaboliten im Serum ist bei Schwangeren im 1. Trimenon vermindert und
beträgt zwischen 0,26 und 7,7 μg/l, in der zweiten Schwangerschaftshälfte steigt sie
auf etwa 150% des Wertes nichtschwangerer Frauen an (Malone 1975).
Selbst nach 3-wöchiger Gabe von täglich 30.000 IE Vitamin A liegen die Spitzenwerte
der Metaboliten Retinsäure und Isotretinoin höchstens geringfügig über den vorher
gemessenen Konzentrationen (Wiegand 1998). Eckloff und Mitarbeiter (1991) wiesen bei
einer Tagesdosis von 50.000 IE Vitamin A einen Anstieg der Plasmakonzentrationen von
All-Trans-Retinoinsäure nach, die zu Isotretinoin metabolisiert wird.
Toxikologie.
In Kapitel 2.17 „Dermatika und Lokaltherapeutika” wird ausführlich beschrieben, dass
Vitamin-A-Derivate, wie die Retinoide Isotretinoin und Acitretin, die zur Therapie
schwerer Formen von Akne und Psoriasis eingesetzt werden, beim Menschen teratogen
wirken und daher in der Schwangerschaft absolut kontraindiziert sind.
Vor etwa 20 Jahren wurde erstmals diskutiert, dass Vitamin-A-Präpa-rate in Dosen über
25.000 IE pro Tag ähnlich wie die Retinoide beim Menschen teratogen wirken und das
charakteristische „Retinoidsyn-drom” auslösen können (Rosa 1986). In Deutschland haben
1988 aufgrund einer Empfehlung des Bundesgesundheitsamtes die Hersteller von Multivitaminpräparaten
die Zusammensetzung ihrer Produkte so geändert, dass sie nicht mehr als 6.000 IE pro
Tagesdosis enthalten. In anderen Ländern wurde ähnlich verfahren (Bundesgesundheitsamt
1988, Laschinski 1988, Teratology Society 1987). Die Unbedenklichkeit solch niedriger
Dosen wurde verschiedentlich, u.a. durch die Studie von Dudas (1992) an Schwangeren
in Ungarn, bestätigt. Eine Untersuchung des European Network of Teratology Information
Services (ENTIS) ergibt erstaunlicherweise keine Hinweise auf eine teratogene Wirksamkeit
selbst hoher, im 1. Trimenon genommener Vitamin-ADosen (10.000-300.000, Mittelwert
50.000 IE/Tag). Insbesondere können die in einer anderen Studie gemachten Beobachtungen
nicht bestätigt werden, dass hohe Dosen, insbesondere solche über 40.000 IE/Tag, einen
bestimmten Typ von ZNS-Anomalien verursachen (Rothman 1995). Die ENTIS-Studie ist
mit 423 Schwangeren die bisher größte Vitamin-A-Studie (Mastroiacovo 1999). Weder
unter den insgesamt 311 lebend geborenen Kindern, noch innerhalb der Hochdosisgruppe
mit 120 Kindern, deren Mütter über 50.000 IE/Tag eingenommen hatten, zeigte sich gegenüber
Kontrollgruppen eine erhöhte Fehlbildungsrate. Jedoch erlauben diese Fallzahlen aus
statistischen Gründen nur den Ausschluss eines um den Faktor 2,8 erhöhten Risikos.
In einer neueren retrospektiven Studie wurden 126 Kinder mit kardiovaskulären Fehlbildungen
mit 679 gesunden Kindern hinsichtlich Vitamin-A-Aufnahme der Mutter in den 12 Monaten
vor Konzeption verglichen. Es fand sich ein etwa 9fach erhöhtes Risiko für eine Transposition
der großen Gefäße beim Kind, wenn die Mutter mehr als 10.000 IE/Tag eingenommen hatte.
Dieser Zusammenhang war jedoch nur für Tabletten oder Nahrungsergänzungsmittel nachweisbar,
nicht für die Retinolaufnahme über Nahrungsmittel (Botto 2001). Man muss dazu kritisch
anmerken, dass die Zahl der Mütter mit einer hohen Dosis in beiden Gruppen sehr gering
war. Daher kann dieses Ergebnis allenfalls als Hypothese gewertet werden, die durch
andere Studien bisher nicht bestätigt wurde.
Eine weitere Fall-Kontroll-Studie fand keinen Zusammenhang zwischen einer im Normbereich
liegenden Vitamin-A-Aufnahme aus Leber oder Multivitaminprodukten und dem Auftreten
von Spaltbildungen (Mitchell 2003).
Generell wird in der Schwangerschaft vor dem Verzehr von Leber gewarnt, da eine Portion
(100 g), auch gebraten, bis zu 400.000 IE Retinol enthalten kann. Es gibt jedoch kaum
klinische Hinweise darauf, dass der Verzehr von Leber zu Fehlbildungen beim Menschen
führt. Das könnte daran liegen, dass Vitamin A bzw. der teratogene Metabolit All-trans-Retinolsäure
nach Leberverzehr nur 1/20 jener Konzentrationsspitzen im Serum erreicht, die nach
Einnahme standardisierter Vitamin-A-Dosen in Tablettenform gemessen wurden (Buss 1994).
β-Carotin, auch Provitamin A genannt, wird vom Organismus bedarfsgerecht zu Vitamin
A (Retinol) umgebaut. Selbst hohe Dosen β-Carotin erhöhen die Retinolkonzentration
im Serum nicht und beinhalten nach heutigem Wissen kein teratogenes Risiko (Polifka
1996).
Empfehlung für die Praxis:
Mehr als 6.000 IE Vitamin A pro Tag sollten Schwangere nicht zu sich nehmen. Grundsätzlich
besteht bei ausgewogener Ernährung kein Grund, Vitamin A (in Tablettenform) zu substituieren.
Ausnahme sind Erkrankungen mit nachgewiesener Mangelsituation, z.B. durch eingeschränkte
intestinale Resorption. Wurden versehentlich Dosen über 25.000 IE/Tag verabreicht,
ist keineswegs ein risikobegründeter Abbruch der Schwangerschaft indiziert (siehe
Kapitel 1.15), sondern eine individuelle Risikobewertung unter Einbeziehung von Ultraschallfeindiagnostik.
Auf den Genuss von Leber sollte in der Schwangerschaft, vor allem im 1. Trimenon,
verzichtet werden. Den noch erfolgter Verzehr erfordert keine Konsequenz. Dies gilt
auch für die Einnahme des unbedenklichen β-Carotins.
2.18.2
Vitamin B1 (Thiamin)
Pharmakologie und Toxikologie.
Thiamin (z.B. Vitamin B1®-ratiopharm) ist als Coenzym im Kohlenhydratstoffwechsel
(Co-Carboxylase) wichtig. Der tägliche Bedarf wird mit 1–1,2 mg gedeckt. Der Vitamin-B1Bedarf
steigt bei Schwangeren gering an, die Konzentration ist im fetalen Blut höher als
im mütterlichen. Daten zur Hochdosistherapie in der Schwangerschaft liegen nicht vor.
Bisher gibt es keine Hinweise für toxische oder teratogene Effekte durch Überdosierungen,
eine Kumulation ist auf Grund der kurzen Halbwertszeit nicht zu erwarten.
Empfehlung für die Praxis:
Bei ausgewogener Ernährung ist eine Substitution mit Vitamin B1 in der Schwangerschaft
nicht erforderlich. Falls eine begründete Indikation zur Therapie besteht, sprechen
derzeitige Erkenntnisse nicht gegen eine Behandlung.
2.18.3
Vitamin B, (Riboflavin)
Pharmakologie und Toxikologie.
Riboflavin (z. B. Vitamin B2 Jenapharm®) ist im Energiestoffwechsel ein wichtiges
Coenzym. Der Tagesbedarf beträgt 1,2–1,5 mg. Bei Neugeborenen, deren Mütter im letzten
Drittel der Schwangerschaft klinische oder laborchemische Anzeichen des Riboflavinmangels
aufwiesen, waren keinerlei Entwicklungsstörungen nachweisbar (Heller 1974). Dieselbe
Untersuchung zeigte, dass die Vitamin-B2-Konzentration im Nabelschnurblut 4-mal so
hoch wie im mütterlichen Blut war. Ein aktiver plazentarer Transport von Vitamin B2
verhindert anscheinend Mangelzustände beim Fetus.
Diskutiert wird ein Riboflavinmangel als potenzieller Risikofaktor für eine Präeklampsie
(Wacker 2000). Hinweise auf embryotoxische Schäden durch Überdosierungen beim Menschen
liegen nicht vor, systematische Untersuchungen zu Auswirkungen einer Substitution
in der Schwangerschaft allerdings auch nicht.
Empfehlung für die Praxis:
Eine generelle Substitution mit Vitamin B2 ist in der Schwangerschaft nicht erforderlich.
2.18.4
Vitamin B6 (Pyridoxin)
Pharmakologie und Toxikologie.
Pyridoxin (z. B. Hexobion®) ist das Coen-zym einiger Aminosäuredecarboxylasen und
Transaminasen. Der Tagesbedarf wird mit 1,2–1,9 mg gedeckt. Die Vitamin-B6-Konzentra-tion
im Blut der Mutter ist während der gesamten Schwangerschaft erniedrigt, dagegen sind
die Konzentrationen im fetalen Blut etwa um das Dreifache höher (Cleary 1975). Das
beruht auf einem aktiven Transport von Pyridoxin durch die Plazenta zum Embryo.
Vitamin B6 wird in Nordamerika, z.T. in Kombination mit Doxyl-amin, zur Therapie des
Schwangerschaftserbrechens (Hyperemesis) eingesetzt (siehe Kapitel 2.4). Bei 123 Patientinnen
mit üblicher Dosierung (1–4 Tabletten/Tag mit jeweils 10 mg Doxylamin und Pyridoxin)
und 102 Patientinnen mit Hochdosistherapie (5–12 Tabletten/Tag mit jeweils 10 mg Doxylamin
und Pyridoxin) fand sich kein Unterschied hinsichtlich mütterlicher Nebenwirkungen
und bei den Geburtsparametern der Neugeborenen. Ein teratogenes Risiko war nicht zu
erkennen (Atanckovic 2001).
Eine weitere Studie zeigte, dass die Therapie der Hyperemesis im 1. Trimenon mit 50
mg Pyridoxin intramuskulär kombiniert mit 10 mg Metoclopramid oral (bei Bedarf alle
6 h) der Monotherapie mit Pro-chlorperazin oder Promethazin überlegen war. Ein erhöhtes
Fehlbildungsrisiko fand sich in keiner der 3 Gruppen (Bsat 2003).
Empfehlung für die Praxis:
Die generelle Substitution mit Vitamin B6 ist nur ausnahmsweise, z. B. bei tuberkulostatischer
Behandlung mit Isoniazid oder Therapie bei Morbus Wilson mit D-Penicillamin, erforderlich.
Falls tatsächlich eine Therapieindikation besteht (z. B. neuropathische Schmerzen,
Resorptionsstörungen), sprechen derzeitige Erkenntnisse nicht gegen eine Behandlung.
2.18.5
Vitamin B12 (Cyanocobalamin)
Pharmakologie und Toxikologie.
Vitamin B12 (Cyanocobalamin; z.B. Cytobion®) ist ein in tierischer Nahrung enthaltener
Faktor, der zur Reifung der Erythroblasten notwendig ist und dessen Fehlen zu einer
Megaloblastenanämie (Perniziosa) mit neurologischen Störungen führt. Zwar fällt im
Verlauf der Schwangerschaft die Konzentration an Vitamin B12 im Serum gering ab, jedoch
kommt es nicht zu einer Verminderung des in der mütterlichen Leber gespeicherten Vitamin
B12(ca. 3.000 μg). Der Bedarf des Neugeborenen ist mit etwa 50 μg gespeichertem Vitamin
B12
vergleichsweise gering. Die bei uns übliche Ernährung enthält 5–15μg Vitamin B12
pro Tag. Der tägliche Bedarf an Vitamin B12 beträgt bei nichtschwangeren Frauen 2
μg/Tag, während der Schwangerschaft steigt er auf 3 μg/Tag an.
Erhöhte Homocystein-Spiegel werden als Ursache für wiederholte Aborte (Reznikoff-Etievant
2002, Nelen 2000 A) und Präeklampsie im späteren Schwangerschaftsverlauf (Cotter 2001,
Sanchez 2001) diskutiert. In einer dieser Arbeiten fand sich ein Zusammenhang mit
einem Vitamin-B12-Mangel (Reznikoff-Etievant 2002).
Empfehlung für die Praxis:
Da schwangerschaftsbedingt kein Vitamin-B12-Mangel auftritt, ist eine Substitution
mit Vitamin B12 nicht routinemäßig erforderlich. Sie kann allenfalls bei nicht ausgeglichener
vegetarischer oder veganer Ernährung indiziert sein. Eine Vitamin-B12-Mangel-Anämie
ist selbstverständlich in der Schwangerschaft weiter zu behandeln.
2.18.6
Folsäure
Pharmakologie und Toxikologie.
Folsäure (z. B. Folarell®, Folsan®) ist ein Vitamin, das für die Nukleinsäuresynthese
wichtig ist und bei allen Zellteilungs- und Wachstumsprozessen, wie z.B. bei der Blutbildung
und während der Embryonalentwicklung, sowie am Eiweißstoffwechsel beteiligt ist. Folsäure
wird im Organismus in ihre biologisch wirksame Form, die Folinsäure, überführt. Der
Tagesbedarf beträgt etwa 400 μg (0,4 mg). In der Schwangerschaft ist der tägliche
Bedarf um etwa 0,3 mg/Tag gesteigert (McPartlin 1993). Bei ausgewogener Ernährung
sind mangelbedingte Auswirkungen auf die mütterliche Blutbildung nicht zu befürchten.
Beim seltenen, ausgeprägten Folsäuremangel kann sich hingegen eine makrozytäre Anämie
entwickeln.
1965 wurde in England erstmals ein Zusammenhang zwischen einem relativen Folsäuremangel
der Mutter und einer Zunahme von Neural-rohrdefekten, insbesondere von Spina bifida
und Anenzephalie, erörtert (Hubbard 1965). 1980 ließen erste Studien vermuten, dass
sich diese schwerwiegenden angeborenen Fehlbildungen durch Gabe von Multivit-aminpräparaten
(Smithells 1980) bzw. Folsäure (Laurence 1981) verhindern lassen. Umfangreiche Untersuchungen
in den USA (Mulinare 1988), Australien (Bower 1989), Kuba (Vergel 1990), England (Medical
Research Council 1991) und Ungarn (Czeizel et al., 2004, Dudas and Czeizel, 1992)
bestätigten eine protek-tive Wirkung der Folsäuresubstitution. In der ungarischen
Studie lag die Häufigkeit von Neuralrohrdefekten bei Kindern von Frauen, die vor und
während der Schwangerschaft ein Multivitaminpräparat eingenommen hatten, das eine
tägliche Dosis von 0,8 mg Folsäure enthielt, um 50% (Czeizel 1992) bzw. 90% (Czeizel
2004) niedriger als in der Kontrollgruppe, die nur Spurenelemente eingenommen hatte
(Czeizel 1992).
Besonders wirkungsvoll war die Folsäuresubstitution bei Schwangeren, die bereits ein
Kind mit einem Neuralrohrdefekt zur Welt gebracht hatten (Teratology Society der USA
1994, Rosenberg 1992, Medical Research Council England 1991).
Obwohl der Zusammenhang zwischen Folsäuremangel und Neural-rohrdefekt nicht genau
geklärt ist, bestätigen die meisten epidemiologischen Untersuchungen bis heute einen
protektiven Effekt der Folsäure-substitution (Wald 2001, Li 2000). Auswirkungen auf
den Methionin-stoffwechsel spielen neben dem eventuell ebenfalls relevanten Methio-ningehalt
der mütterlichen Ernährung offenbar eine Rolle (Shaw 1997). Ein protektiver Effekt
wird auch bei anderen Fehlbildungen diskutiert (Bailey 2005, Czeizel 2004, Koletzko
2004), wie z.B. kardialen Defekten (Czeizel 2004, Botto 2003) oder Analatresie (Myers
2001) sowie bei Aborten (Gindler 2001, Nelen 2000 B).
Man ist sich heute weitgehend einig, dass alle Frauen in der Frühschwangerschaft,
möglichst schon ab Planung einer Schwangerschaft, bis zur Woche 8 täglich 400 μg Folsäure
zusätzlich einnehmen sollen. Frauen mit Risikoanamnese (bereits Neuralrohrdefekte
in der Familie aufgetreten) oder bei folatantagonistischer Therapie, z. B. mit bestimmten
Antiepileptika, werden 4–5 mg/Tag empfohlen. Eine Überdosierung der Folsäure schädigt
nach bisherigen Erfahrungen die embryonale Entwicklung nicht. Die Maskierung einer
seltenen Vitamin-B12-Man-gelanämie durch eine Folsäureeinnahme ist zwar möglich, hat
aber angesichts der zeitlich begrenzten Einnahme keine Bedeutung.
In manchen Ländern, wie z. B. Kanada und den USA, wird eine allgemeine Anreicherung
von Nahrungsmitteln (Getreideprodukten) mit Folsäure vorgeschrieben und zwar mit etwa
1,5 mg/kg. In den USA wurde seit der Folsäureanreicherung über eine Abnahme der Neuralrohrdefekte
um 19% (Honein 2001) und 26% (Mills 2004), in Kanada um 47 % (Persad 2001) berichtet.
Auch in der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Ländern wird die Folsäureanreicherung
von Nahrungsmitteln erörtert, da die Substitution mit Tabletten nur von wenigen Schwangeren
praktiziert wird und die durchschnittliche Ernährung in Deutschland nur 200 μg/Tag
statt der erforderlichen 400 μg enthält (BgVV 2000). In Deutschland befolgen nur 20%
der Frauen, die eine Schwangerschaft planen, und bei nicht geplanten Schwangerschaften
nur 9 % den Rat einer perikonzeptionellen Folsäureeinnahme. In den Niederlanden sind
es hingegen über 50 % (Gärtner 1999). Häufig beobachtet man infolge unzureichender
ärztlicher Beratung, dass Folsäure erst im späten 1. Trimenon und danach eingenommen
wird. Die hochempfindliche Phase der Neuralrohrentwicklung ist aber schon mit 6 Wochen
abgeschlossen.
Gelegentlich wird diskutiert, ob eine ausgewogene Ernährung für die Folsäureversorgung
ausreicht. Epidemiologische Daten und Untersuchungen zum intraerythrozytären Folsäurestatus
unter Berücksichtigung verschiedener Zufuhrbedingungen sprechen dagegen. Einerseits
gibt es Hinweise darauf, dass Mütter von Kindern mit Neuralrohrdefek-ten einen pathologisch
erhöhten Bedarf an Folsäure aufweisen, der deutlich über der mit „gesunder” Ernährung
zugeführten Menge liegt. Andererseits ergab sich aus einer vergleichenden Untersuchung,
dass nur Tabletten und angereicherte Nahrungsmittel, nicht aber diätetisch aufgenommene
Folsäure zu einer signifikanten Verbesserung des Fol-säurestatus führen (Cuskelly
1996).
Schließlich soll nicht unerwähnt bleiben, dass nach kritischer Auswertung aller vorliegenden
Daten auch heute noch Zweifel an der pro-tektiven Wirkung einer zusätzlichen Verabreichung
von Folsäure in der Schwangerschaft geäußert werden (Källén 2002, Kalter 2000).
Empfehlung für die Praxis:
Um die protektive Wirkung der Folsäure bei Neu-ralrohrdefekten zu nutzen, sollten
möglichst schon bei der Planung einer Schwangerschaft sowie während der ersten 8 Wochen
0,4 mg/Tag eingenommen werden. Die Substitutionsdosis ist auf 4–5 mg/Tag zu erhöhen,
wenn die Mutter bereits ein Kind mit einem Neuralrohrdefekt zur Welt gebracht hat
oder wenn sie folsäureantagonistische Medikamente einnimmt, wie z. B. bestimmte Antiepilep-tika.
Eine Folsäuremangelanämie ist in üblicher Weise auch während einer Schwangerschaft
zu therapieren.
2.18.7
Nicotinsäure und Pantothensäure
Pharmakologie und Toxikologie.
Nicotinsäure und Pantothensäure sind weitere B-Vitamine, die sich u.a. in Nahrungsergänzungsmitteln
finden. Der tägliche Bedarf für Nicotinsäure wird mit 13–15 mg, der für Pantothensäure
mit 6 mg gedeckt. Bei ausgewogener Ernährung ist eine Substitution nicht erforderlich.
Mangelzustände in der Schwangerschaft sind nicht bekannt, ebenso wenig wie Hinweise
auf potenzielle teratogene Effekte.
Empfehlung für die Praxis:
Bei Schwangeren gibt es keine Indikation für die Substitution von Nicotin- oder Pantothensäure.
2.18.8
Nicotinamid
Pharmakologie und Toxikologie.
Nicotinamid (z.B. Nicobion®) ist ein Vit-amin-B-Derivat und Bestandteil mehrerer wichtiger
Enzyme. Mangelzustände in der Schwangerschaft sind nicht bekannt.
Empfehlung für die Praxis:
Bei Schwangeren gibt es keine Indikation für die Gabe von Nicotinamid.
2.18.9
Panthenol
Pharmakologie und Toxikologie.
Panthenol (z. B. in Multi-Sanostol® Saft) ist ein Vitamin-B-Derivat und spielt eine
wichtige Rolle im Intermediärstoffwechsel. Mangelzustände in der Schwangerschaft sind
nicht bekannt.
Empfehlung für die Praxis:
Bei Schwangeren gibt es keine Indikation für die Gabe von Panthenol.
2.18.10
Vitamin C (Ascorbinsäure)
Pharmakologie und Toxikologie.
Vitamin C (z. B. Cebion®, Ctebe®) ist im zellulären Stoffwechsel zur Aufrechterhaltung
des Oxidations-Reduk-tions-Gleichgewichts wichtig. Der Tagesbedarf an Vitamin C beträgt
etwa 100 mg. Vitamin-C-Mangel führt zu Skorbut mit Störungen des Kollagenstoffwechsels
und zur Blutungsneigung. Die Vitamin-C-Kon-zentration im fetalen Blut ist 3-mal so
hoch wie im mütterlichen Blut, da sich nach dem plazentaren Übergang von Dehydro-ascorbinsäure
VitaminC im Fetus anreichert (Malone 1975). Es ist nicht bekannt, ob Gaben von Vitamin
C das Reduktions-Oxidations-Gleichgewicht des Fetus beeinflussen.
Diskutiert werden der Zusammenhang zwischen mütterlichem Vitamin-C-Mangel und einem
erhöhten Risiko für Gestationsdiabetes (Zhang 2004 A und 2004 B) sowie eine Assoziation
zwischen mütterlichem Vitamin-C-Spiegel bzw. einer protektiven Vitamin-C-Substitution
im 2. und 3. Trimenon und vorzeitigem Blasensprung (Casanueva 2005, Tejero 2003).
Empfehlung für die Praxis:
Die Gabe von Vitamin C ist in der Schwangerschaft nicht erforderlich, wenn die Ernährung
ausgewogen ist.
2.18.11
Vitamin D und verwandte Substanzen
Pharmakologie und Toxikologie.
Als Vitamin D werden mehrere fettlösliche Vitamine zusammengefasst, die eine Schlüsselrolle
im Calcium-stoffwechsel einnehmen: Vitamin D fördert die Resorption von Calcium und
Phosphat aus dem Darm. Der Tagesbedarf wird mit etwa 5 μg Calciferol gedeckt (1 μg
= 40 IE bzw. 1 IE = 0,025 μg). Bei Vitamin-D-Mangel kommt es zu Störungen des Knochenaufbaus,
die sich bei Kindern als Rachitis und bei Erwachsenen als Osteomalazie manifestieren.
Das für den Menschen wichtigste Derivat des Vitamin D, Vitamin D3
(Colecalciferol; z.B. D3-Vicotrat®, Vigantol®) ist in Milch, Lebertran und Butter
enthalten, genau wie Vitamin D2 (Ergocalciferol). Colecalciferol und Ergocalciferol
werden in der Haut unter Einwirkung von UV-Strahlen in die aktive Form des Vitamin
D überführt. Im Fetus finden sich davon normalerweise 70–90% der mütterlichen Konzentration
und deutlich über 100 % bei mütterlichem Vitamin-D-Mangel (Pitkin 1975). Weitere Derivate
des Vitamin D sind Alfacalcidol (z. B. Bon-diol®) und Calcitriol (z.B. Decostriol®).
Dihydrotachysterol (z.B. A.T. 10®) ist ein Analogon des Vitamin D, das bei Hypoparathyreoidismus
und Pseudohypoparathyreoidismus gegeben wird. Studien zur Schwangerschaft liegen nicht
vor. Da mit diesem Medikament jedoch physiologische Verhältnisse hergestellt werden
sollen, ist für eine angemessene Dosierung auch in der Schwangerschaft zu sorgen.
Die Ergebnisse einer Longitudinalstudie bis zum Alter von 9 Jahren an 198 Mutter-Kind-Paaren
deuten an, dass ein Vitamin-D-Mangel in der Spätschwangerschaft zu einer signifikant
verminderten Knochenmineralisierung des gesamten Skeletts und speziell der Lendenwirbelsäule
führen kann. Eine unterhalb des Normbereiches liegende Konzentration von Calcium im
Nabelvenenblut scheint ebenfalls auf eine reduzierte Knochenmasse in der Kindheit
hinzuweisen (Javaid 2006).
Empfehlung für die Praxis:
In der Schwangerschaft sind überhöhte Vitamin-D-Einnahmen kontraindiziert, da sie
zu Hypercalcämie sowohl bei der Mutter als auch beim Neugeborenen führen können. Der
Vitamin-D-Bedarf gesunder Frauen ist in der Schwangerschaft nicht erhöht und bedarf
bei ausgewogener Ernährung keiner Substitution. Liegt ein nachgewiesener Mangel vor,
muss bis zum Erreichen normaler mütterlicher Plasmakonzentrationen substituiert werden.
Dies gilt auch für hohe Dosen im Fall einer behandlungspflichtigen X-chromosomal-domi-nant
vererbten Vitamin-D-resistenten Rachitis. In einem solchen Fall scheint selbst ein
genetisch gesunder Fetus nicht durch tägliche Vitamin-D-Dosen von 20.000 IE geschädigt
zu werden. Liegt ein Phosphatdiabetes vor, ist eine Unterbrechung der Vitamin-D-Therapie
zu erwägen, wenn die mütterliche Symptomatik es erlaubt. Im Fall einer Therapie mit
einem der anderen o.g. dem Vitamin D verwandten Präparate ist ebenfalls darauf zu
achten, dass physiologische Verhältnisse erreicht bzw. gewahrt werden. Generell müssen
bei diesen Erkrankungen Calcium- und Phosphatkonzentrationen im Blut der Mutter und
beim Neugeborenen regelmäßig kontrolliert werden.
2.18.12
Paricalcitol
Pharmakologie und Toxikologie.
Paricalcitol (Zemplar®) ist ein synthetisches Vitamin-D-Derivat, das zur Prävention
oder Therapie des sekundären Hyperparathyreoidismus und zur Osteoporosebehandlung
eingesetzt wird. Es senkt die Konzentration von Parathormon im Orga nismus, dabei
können die Serumspiegel von Calcium und Phosphat ansteigen.
Da es sich um eine neue Substanz handelt, liegen keine Erfahrungen zur Anwendung in
der Schwangerschaft vor.
Empfehlung für die Praxis:
In der Schwangerschaft ist Paricalcitol kontraindiziert. Eine dennoch erfolgte Applikation
rechtfertigt keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch. Die Calcium- und Phosphatspiegel
sollten kontrolliert werden.
2.18.13
Vitamin E (Tocopherol)
Pharmakologie und Toxikologie.
Vitamin E (z.B. Optovit®) ist für den Menschen nicht essentiell und Mangelzustände
sind nicht bekannt. Der Tagesbedarf an Vitamin E beträgt etwa 12 mg. Der normale Vit-amin-E-Bedarf
wird mit der üblichen Nahrung gedeckt (10–20 IE/Tag bzw. 22–30 mg/Tag). Vitamin-E-Mangel
in der Schwangerschaft wurde bisher nicht beobachtet.
Bei 82 prospektiv dokumentierten Schwangeren mit hoch dosierter Gabe von Vitamin E
im 1. Trimenon (400-1.200 IE/Tag) war bei den Neugeborenen ein signifikant geringeres
Geburtsgewicht gegenüber nicht exponierten Kontrollen zu verzeichnen. Dabei wurde
nicht erwähnt, ob eine Adjustierung hinsichtlich der Schwangerschaftswoche bei Geburt
erfolgte. Es fand sich kein erhöhtes Abort-, Frühgeburtsoder Fehlbildungsrisiko (Boskovic
2004 A& B).
Empfehlung für die Praxis:
Es gibt keine Indikation für die Gabe von Vitamin E in der Schwangerschaft.
2.18.14
Biotin
Pharmakologie und Toxikologie.
Biotin (z.B. Gabunat®) ist beim Menschen an verschiedenen Stoffwechselreaktionen beteiligt
und verantwortlich für Haut- und Haarbildung und andere Wachstumsprozesse. Der tägliche
Bedarf wird mit etwa 60 μg gedeckt. Bei ausgewogener Ernährung ist eine zusätzliche
Substitution in der Schwangerschaft nicht erforderlich. Im mittleren Drittel der Schwangerschaft
wurden beim Fetus 3- bis 17fach höhere Konzentrationen von Biotin im Blut gemessen
als bei der Mutter (Mantagos 1998). Erfahrungen zur Einnahme überhöhter Dosierungen
in der Schwangerschaft liegen nicht vor. Im Tierversuch führte ein Biotinmangel zu
Fehlbildungen. Beim Menschen gibt es bisher keine gesicherten Hinweise für teratogene
Effekte durch Biotinmangelzustände (Zempleni 2000).
Empfehlung für die Praxis:
Es gibt keine zwingende Indikation für die Gabe von Biotin in der Schwangerschaft.
2.18.15
Vitamin K
siehe Abschnitt 2.9.5.
2.18.16
Multivitaminpräparate
Pharmakologie und Toxikologie.
Multivitaminpräparate (z.B. Multi-bionta®) werden während der Schwangerschaft häufig
verordnet oder von den Patientinnen auch ohne ärztliche Verordnung eingenommen.
Empfehlung für die Praxis:
Die prophylaktische Gabe von Multivitaminpräpa-raten ist bei gesunden Schwangeren
umstritten, weil eine ausgewogene Ernährung ausreicht und die Vitamine A und D in
hoher Dosis (bei unangemessenem Gebrauch der Präparate) für den Embryo toxisch sein
können. Zur Notwendigkeit einer Folsäureprophylaxe siehe Abschnitt 2.18.6.
2.18.17
Eisen
Die Gesamtmenge an Eisen im menschlichen Körper beträgt 4–5 g, davon sind etwa 70
% im Hämoglobin (Hb) gebunden. Eisen wird aus dem Darm durch aktiven Transport mit
Hilfe des Proteins Ferritin resorbiert. Im Blut liegt es gebunden an das Transportprotein
Transferrin vor und gelangt in dieser Form über die Plazenta zum Fetus. Der Tagesbedarf
an Eisen beträgt etwa 15 mg/Tag, bei Schwangeren 30 mg/Tag.
In der Schwangerschaft steigt der Eisenbedarf durch Zunahme des mütterlichen Blutvolumens
sowie durch den Mehrbedarf von Fetus und Plazenta. Das mütterliche Plasmavolumen nimmt
stärker zu als die Menge der Erythrozyten (Hämodilution), was zu einer Abnahme des
Hb-Wertes um etwa 2 g/dl führt. Der Eisenbedarf des Embryos bzw. Fetus steigt während
der Schwangerschaft von 4 mg/Tag auf 6,6 mg/Tag an. Der erhöhte Eisenbedarf in der
Schwangerschaft wird durch die Nahrung nicht ausreichend gedeckt. Deshalb wird gespeichertes
Eisen aus abgebautem Hämoglobin der Mutter mobilisiert.
Bei unkompliziertem Geburtsverlauf und Normalisierung des Blutvolumens erreicht der
Hb-Wert am Ende des Wochenbettes wieder Normalwerte.
Pharmakologie.
Eisen(II)-Salze (z.B. Eisendragees-ratiopharm®) werden nach oraler Gabe gut resorbiert
und sind für die Eisensubstitution der Schwangerschaft geeignet. Der Zusatz von Vitaminen
und Spurenelementen zu oralen Eisen(II)-Präparaten hat keinen erwiesenen therapeutischen
Nutzen. Kombinationspräparate mit Folsäure sind nicht zu empfehlen, da die Eisenresorption
aus diesen Zubereitungen um bis zu 60% reduziert ist (Pietrzik 1988). Etwa 15–20%
der Patientinnen, die Eisen-(II-)Präparate einnehmen, klagen über gastrointesti-nale
Beschwerden, die bei vorbestehender morgendlicher Übelkeit zum Wechsel auf ein anderes
Präparat oder zur Beendigung der Eisensubstitution zwingen können (Letzky 1983).
Die parenterale Applikation von Eisenpräparaten (Singh 2000) wie Eisen(III)-Gluconat-Komplex
(Ferrlecit) ist nur bei ausgeprägter Anämie indiziert und macht in Kombination mit
anderen Antianämika eine Transfusionstherapie in der Schwangerschaft weitgehend überflüssig.
Toxikologie.
Der Verdacht, dass nach Eisensubstitution in der Schwangerschaft die Fehlbildungsrate
gering ansteigen könnte (Nelson 1971), hat sich in umfangreichen prospektiven Untersuchungen
nicht bestätigt (DFG 1977, Royal College 1975). Zur Eisenintoxikation nach Überdosis
siehe Kapitel 2.22.
Empfehlung für die Praxis:
In der Schwangerschaft ist eine Eisensubstitution ab einem Hb-Wert um 10 g/dl indiziert.
Sie sollte oral mit einem Eisen(II)-Präpa-rat durchgeführt werden. Falls in Ausnahmefällen
eine parenterale Eisensubstitution erforderlich ist, sollte sie intravenös mit einem
Eisen(III)-Präparat erfolgen. Bei Überdosierung von Eisen in suizidaler Absicht ist
auch in der Schwangerschaft das Antidot Deferoxamin indiziert.
2.18.18
Calcium
Pharmakologie und Toxikologie.
Etwa 99% des Calciums (Gesamtmenge 1.100-1.200 g) sind im Knochen enthalten, und zwar
komplex gebunden als Phosphat und Hydroxyapatit. Der tägliche Calciumbedarf wird mit
etwa 1.000 mg gedeckt. Der Calciumstoffwechsel und die fetale Knochenbildung sind
vom mütterlichen Vitamin-D-Stoffwechsel und der schwangerschaftsbedingt veränderten
Aktivität verschiedener Hormone abhängig (Parathormon, Calcitonin, Corticoide, Estrogene).
Calcium wird aktiv durch die Plazenta zum Fetus transportiert. Im letzten Trimenon
wird die Knochenbildung durch niedrige Parathormonkonzentrationen und hohe Calcitoninkonzentrationen
im Fetus begünstigt. Der Fetus nimmt im Laufe der Schwangerschaft etwa 30 g Calcium
auf. Diese Menge wird normalerweise ohne zusätzliche Gabe von Calcium-salzen während
der Schwangerschaft aus dem mütterlichen Depot mobilisiert. Es wird jedoch allgemein
vorgeschlagen, den täglichen Bedarf durch zusätzliche Gaben von etwa 500 mg/Tag zu
ergänzen. Calcium sollte nicht als Phosphatsalz gegeben werden (Wadenkrämpfe!). Organische
Salze sind zur Calciumsubstitution besser geeignet, wie z.B. Calciumcitrat (z.B. in
Calcipot®), Calciumaspartat (Cal-ciretard®), Calciumgluconat (z.B. Tridin).
Ein Fallbericht beschreibt die mütterliche Calciumtherapie wegen Osteoporose mit einer
Tagesdosis von 1.000 mg bis Woche 6 und die weitere Therapie mit täglich 3.000 mg,
kombiniert mit einer Colecalcife-rolbehandlung bis zum Ende der (Drillings-)Schwangerschaft.
In Woche 21 kam es zum Spontanabort eines Fetus, die beiden anderen Kinder wurden
gesund geboren (Harsch 2001).
Empfehlung für die Praxis:
Sinnvoll ist die Einnahme von 500 mg Calcium pro Tag oder das Trinken von 1 Liter
Milch, wobei die Milch neben dem Calciumbe-darf zusätzlich den täglichen Vitamin-D-Bedarf
abdeckt.
2.18.19
Fluorid
Pharmakologie und Toxikologie.
Der Tagesbedarf an Fluorid beträgt etwa 3,1 mg. Es wird kontrovers diskutiert, ob
eine zusätzliche Fluoridzufuhr während der Schwangerschaft mit täglich etwa 1 mg in
Tablettenform (entspricht ca. 2 mg Natriumfluorid; z.B. in Fluoretten®) oder über
fluoriertes Trinkwasser die Kariesinzidenz des Kindes senkt. Auf jeden Fall scheint
eine solche Fluoridprophylaxe dem Fetus nicht zu schaden. Frühere Verdachtsmomente
hinsichtlich reproduktionstoxischer Auswirkungen einer regelmäßigen Fluoridzufuhr,
wie z.B. erhöhtes Risiko für Down-Syndrom, konnten nicht bestätigt werden.
Selbst hohe Fluoriddosen durch umweltbedingt kontaminiertes Trinkwasser (über 10 mg/l)
verursachen offenbar keine Zunahme von Fehlbildungen. Eine in der zweiten Schwangerschaftshälfte
induzierte Zahn- und Knochenfluorose beim Kind ist zwar theoretisch denkbar und in
Einzelfällen nach extremer, anhaltender Exposition beschrieben worden. Sie ist nach
versehentlicher Einnahme eines Osteoporoseprä-parates mit etwa 25 mg Fluorid (z.B.
Ossiplex®) jedoch nicht zu erwarten.
Empfehlung für die Praxis:
Eine Fluoridsubstitution mit etwa 1 mg/Tag kann während der Schwangerschaft ohne Risiko
für das Kind durchgeführt werden. Eine hoch dosierte Fluoridtherapie bei Osteoporose
ist kontraindiziert. Versehentliche Applikation hoher Dosen rechtfertigt weder einen
risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch noch zusätzliche Diagnostik (siehe Kapitel
1.15).
2.18.20
Strontium
Pharmakologie und Toxikologie.
Strontium (Protelos®) ist ein neueres Mittel zur Therapie der Osteoporose. Erfahrungen
zur Anwendung in der Schwangerschaft liegen nicht vor.
Empfehlung für die Praxis:
Strontium ist in der Schwangerschaft kontraindiziert. Eine dennoch erfolgte Applikation
rechtfertigt weder einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch noch invasive Diagnostik
(siehe Kapitel 1).
2.18.21
Biphosphonate
Pharmakologie und Toxikologie.
Zu diesen Osteolysehemmstoffen gehören Alendronsäure (Fosamax®), Clodronsäure (z.B.
Bonefos®), Eti-dronsäure (z.B. Didronel®), Ibandronsäure (Bondronat®), Pamidron-säure
(z.B. Aredia®), Risedronsäure (Actonel®), Tiludronsäure (Ske-lid®) und Zoledronsäure
(Zometa®). Sie werden z.B. bei Paget-Krank-heit, postmenopausaler Osteoporose und
anderen osteolytischen Prozessen angewendet. Systematische Untersuchungen zur Schwangerschaft
liegen nicht vor. Tierexperimentelle Ergebnisse sprechen für einen möglichen plazentaren
Übergang und Auswirkungen auf die fetale Skelettentwicklung (Ornoy 1998).
Ein Fallbericht zu täglich 10 mg Alendronsäure während der gesamten Schwangerschaft
beschreibt ein gesundes Kind ohne Fehlbildungen, mit normaler Knochenstruktur sowie
einer normalen Entwicklung bis zum 1. Lebensjahr (Rutgers-Verhage 2003).
Zur Therapie mit Zoledronsäure im 2.und 3. Trimenon existiert ein weiterer Fallbericht.
Die Frau erhielt zusätzlich diverse Zytostatika im 1. Trimenon wegen eines Mammakarzinoms.
Das Kind, mit 35 Wochen geboren, wies keine Fehlbildungen auf und war nach dem 1.
Lebensjahr altersentsprechend entwickelt (Andreadis 2004).
In einer neueren prospektiven Studie wurden die Schwangerschaften von 15 Frauen mit
Biphosphonat-Therapie, davon 9 mit Exposition im 1. Trimenon ausgewertet (Alendronsäure:
7, Etidronsäure: 5, Pamidron-säure: 1, Risedronsäure: 2). Die Schwangerschaften endeten
mit 14 Lebendgeborenen und einem Spontanabort. Hinweise auf embryotoxische Effekte
fanden sich nicht (Levy 2004).
Empfehlung für die Praxis:
Biphosphonate sind in der Schwangerschaft kontraindiziert. Eine Applikation im 1.
Trimenon rechtfertigt jedoch weder einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch
noch zusätzliche Diagnostik (siehe Kapitel 1.15).
2.18.22
Andere Osteoporosemittel
Calcitonin
Pharmakologie und Toxikologie.
Calcitonin (z. B. CalciHEXAL®) ist ein vom Lachs gewonnenes Peptidhormon, das im menschlichen
Körper außer von der Schilddrüse offenbar auch in der Plazenta, vom Fetus und in der
laktierenden Brustdrüse gebildet wird. Im Nabelschnurblut ist die Konzentration höher
als bei der Mutter. Therapeutisch wird dieses der Knochenresorption entgegen wirkende
Mittel bei Osteoporose und Paget-Krankheit angewendet. Es gibt keine Studien zur Behandlung
während der Schwangerschaft.
Cinacalcet
Pharmakologie und Toxikologie.
Cinacalcet (z.B. Mimpara®) ist ein Nebenschilddrüsenhormon-Antagonist und Calcimimetikum,
das zur Therapie des sekundären Hyperparathyreoidismus eingesetzt wird. Die Reduktion
von Parathormon im Blut korreliert mit der Senkung des Serumcalciumspiegels. Die Halbwertszeit
von Cinacalcet beträgt 30–40 Stunden. Im Tierversuch gab es bisher keine Hinweise
für teratogene Effekte. Erfahrungen zur Anwendung in der Schwangerschaft beim Menschen
existieren nicht.
Raloxifen
Pharmakologie und Toxikologie.
Raloxifen (z. B. EVISTA®) ist ein Anti-estrogen, das zur Prävention und Therapie der
Osteoporose in der Post-menopause eingesetzt wird. Zur Therapie in der Schwangerschaft
gibt es keine Erfahrungen.
Empfehlung für die Praxis:
Calcitonin, Cinacalcet und Raloxifen sind in der Schwangerschaft zu meiden. Eine Therapie
im 1. Trimenon rechtfertigt weder einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch
noch zusätzliche Diagnostik (siehe Kapitel 1.15). Ggf. sollte der Calciumspiegel kontrolliert
werden.
2.18.23
Iodid
Siehe Abschnitt 2.15.5.
2.18.24
Spurenelemente
Pharmakologie und Toxikologie.
Spurenelemente, wie Chrom, Kupfer, Selen oder Zink müssen in der Schwangerschaft nicht
routinemäßig substituiert werden.
Zink wird unter anderem zur Therapie des Morbus Wilson eingesetzt. In einer prospektiven
Studie wurden 26 Schwangerschaften bei 19 Frauen ausgewertet, die während der gesamten
Schwangerschaft wegen eines Morbus Wilson mit 3 × täglich 25–50 mg Zink behandelt
wurden (normaler Tagesbedarf an Zink: 7–10 mg). Alle Schwangerschaften endeten mit
Lebendgeburten. Zwar wies ein Kind eine Herzfehlbildung auf und ein anderes eine Mikrozephalie
(Brewer 2000), ein teratogener Effekt lässt sich aus dieser kleinen Studie jedoch
nicht ableiten.
Empfehlung für die Praxis:
Die Substitution von Spurenelementen wie Chrom, Kupfer, Selen und Zink ist in der
Schwangerschaft, von nachgewiesenen Mangelzuständen oder einer tatsächlichen Indikation
(z. B. Morbus Wilson) abgesehen, nicht erforderlich. Auch eine „Entgiftungsbehandlung”
mit Selen sollte unterbleiben. Dennoch erfolgte Einnahmen dieser Spurenelemente erfordern
keine Konsequenzen.
2.18.25
Fischleberöl (Lebertran, Omega-3-Fettsäuren)
Pharmakologie und Toxikologie.
Fischleberöl ist reich an essentiellen Fettsäuren, wie z. B. Docosahexanoinsäure.
Ihm werden verschiedene pro-tektive Effekte zugeschrieben, wie z.B. hinsichtlich Dysmenorrhoe,
Schwangerschaftshypertonus, Gestationsdiabetes, intrauteriner Wachs-tumsretardierung,
postpartaler Depressionen sowie Senkung des Frühgeburtsrisikos und Förderung der kindlichen
ZNS-Entwicklung (Saldeen 2004). Systematische Untersuchungen zur Anwendung in der
Frühschwangerschaft gibt es nicht. Eine umfangreiche randomisiert-kontrollierte Studie
hat eine Reduzierung des Wiederholungsrisikos für Frühgeburten nach Einnahme von Omega-3-Fettsäuren
in der 2. Schwangerschaftshälfte nachgewiesen. Bei Zwillingsschwangerschaften hatte
die Einnahme jedoch keinen Effekt (Olsen 2000). In einer kleinen retrospektiven Untersuchung
wurde ein protektiver Effekt für eine Neurodermitis des Kindes bei Frauen mit Atopieneigung
festgestellt (Dunstan 2003).
Empfehlung für die Praxis:
Eine überzeugende Notwendigkeit zur Substitution mit Omega-3-Fettsäuren besteht bei
ausgewogener Ernährung nicht.
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2.19
Alternative Heilmittel und Phytotherapeutika
Die Verträglichkeit alternativer Heilmittel in der Schwangerschaft ist bisher nicht
systematisch untersucht. Es liegen auch keine Fallberichte über teratogene Schädigungen
bei Einhalten der empfohlenen Dosierungen vor, sie sind zumindest bei Homöopathika
auch nicht zu erwarten. Gegen Akupunktur ist ebenfalls nichts einzuwenden, wenn sie
fachkundig in der Schwangerschaft praktiziert wird.
Nicht alle pflanzlichen Präparate sind harmlos: Bei Phytotherapeutika sollten therapeutische
Dosen eingehalten und Tees nicht exzessiv genossen werden. Die Herkunft sollte deklariert
sein, da Kontaminationen mit unerwünschten pflanzlichen Bestandteilen, Schwermetallen,
wie z.B. Blei (Tait 2002) und Pestiziden sonst nicht auszuschließen sind. Nichtalkoholische
Zubereitungen sollten bevorzugt werden.
2.19.1
Homöopathika
Pharmakologie und Toxikologie.
Für die Anwendung von Homöopathika in der Schwangerschaft liegen keine für eine Risikobewertung
ausreichenden experimentellen oder epidemiologischen Daten vor. Trotz der umfangreichen
Anwendung auch in der Schwangerschaft, gibt es bisher keine Einzelfallberichte mit
Hinweisen auf teratogene Effekte.
Für die Anwendung einzelner Homöopathika werden in der Geburtshilfe folgende Indikationen
angegeben, zu denen die Wirksamkeit in Studien geprüft wurde:
▪
Caulophyllum D5 beim Vorliegen „falscher Wehen” bzw. Dystokien
▪
die Kombination aus Aceta racemosa, Arnica, Caulophyllum, Gel-semium und Pulsatilla,
jeweils in einer Potenz von D5, zur Therapie kontraktionsbedingter Schmerzen sowie
▪
die Mischung aus Pulsatilla, Seeale, Caulophyllum, Aceta racemosa und Arnica ab 2
Wochen vor Geburtstermin und während der Geburt bei erhöhtem Risiko für uterine Kontraktionsstörungen.
Nur bei der zuletzt genannten Indikation wurde in einer Studie näher auf die Entwicklung
der Neugeborenen eingegangen: die Apgar-Werte zeigten keine Unterschiede im Vergleich
zur schulmedizinischen Therapie. Weiterhin fanden sich signifikant weniger Forceps-Entbindungen
in der homöopathisch behandelten Gruppe. Bei der Häufigkeit der Kaiserschnitte waren
keine Unterschiede nachweisbar (Hochstrasser 1994).
Eine Metaanalyse untersucht Caulophyllum zur zervikalen Reifung und Weheninduktion.
Sie schließt 2 plazebokontrollierte Doppelblindstudien mit insgesamt 133 Frauen ein.
Im Vergleich zur herkömmlichen Therapie fand sich kein Unterschied. Aussagen zu den
Neugeborenen fehlen (Smith 2003).
Empfehlung für die Praxis:
Die Anwendung von Homöopathika in der Schwangerschaft ist bei Dezimalpotenzen größer
D2 akzeptabel. Bei D2 und D1 richtet sich die Entscheidung nach den Inhaltsstoffen.
2.19.2
Phytotherapeutika allgemein
Pharmakologie und Toxikologie.
Phytotherapeutika werden von Frauen in der Schwangerschaft ebenso gern angewendet
wie Homöopathika. Eine Befragung von 139 Frauen ergab, dass 96% in der Schwangerschaft
mindestens ein Naturheilmittel, meist ein Phytotherapeutikum, eingenommen hatten (Gut
2004). Allerdings sind auch hier systematische Untersuchungen zur Teratogenität und
Embryotoxizität rar. Trotz der breiten Anwendung von pflanzlichen Therapeutika auch
in der Schwangerschaft sind Hinweise oder Fallberichte zu teratogenen Effekten selten
und zumindest bei Einhaltung der empfohlenen Dosierungen auch kaum zu erwarten.
Eine retrospektive Studie zur Anwendung von Phytotherapeutika konnte beim Vergleich
mit „schulmedizinischen Therapeutika” kein erhöhtes Fehlbildungsrisiko durch pflanzliche
Substanzen nachweisen (Leung 2002). Eigene Daten umfassen 244 prospektiv dokumentierte
Schwangerschaften, davon 142 mit Anwendung im 1. Trimenon. Ein teratogenes Risiko
oder Hinweise auf vermehrte Spontanaborte lassen sich nicht beobachten.
Bei der Anwendung pflanzlicher Zubereitungen und Teedrogen sollte stets darauf geachtet
werden, dass ihre Herkunft bekannt und die Inhaltsstoffe eindeutig deklariert sind.
Vor einer Kontamination mit Pflanzenschutzmitteln oder toxischen Schwermetallen sowie
mikrobi-eller Verunreinigung nicht zertifizierter Ware wird gewarnt (Ihrig 2005).
Auf alkoholische Zubereitungen sollte zumindest bei längerfristiger Therapie verzichtet
werden. Ein Fallbericht beschreibt exzessiven Gebrauch von Phytopharmaka mit 19% Alkoholgehalt
in der Frühschwangerschaft, angeblich ohne weitere Alkoholeinnahme. Das Kind wies
typische Zeichen eines fetalen Alkoholsyndroms auf (Ernst 2002). Diese Kasuistik sollte
eher als anekdotisch betrachtet werden, vergleichbare Berichte gibt es bisher nicht.
2.19.3
Aloe vera
Pharmakologie und Toxikologie.
Aloe vera wird extern eingesetzt zur Förderung der Wundheilung oder bei Hautproblemen
und intern als Immunstimulans. Systematische Untersuchungen zur oralen Anwendung in
der Schwangerschaft fehlen bisher. Aloe soll eine stimulierende Wirkung auf die Uterusmuskulatur
haben, so dass theoretisch das Risiko für einen Spontanabort erhöht sein könnte (Ernst
2002). Die lokale Anwendung in der Schwangerschaft ist wahrscheinlich unproblematisch
(Nordeng 2004).
Empfehlung für die Praxis:
Auf die orale Anwendung von Aloe vera sollte in der Schwangerschaft verzichtet werden.
2.19.4
Bärentraubenblätter (Uvae ursi folium)
Pharmakologie und Toxikologie.
Bärentraubenblätter (z.B. Uvalysat®) werden zur Therapie von Harnwegserkrankungen
eingesetzt. Systematische Untersuchungen zur Anwendung in der Schwangerschaft fehlen.
Diskutiert werden eine Erhöhung des Uterustonus und eine damit verbundene Abortgefahr.
Diese konnte aber im Tierversuch nicht nachgewiesen werden (Shipochliev 1981). Hinweise
auf ein erhöhtes Abortoder Fehlbildungsrisiko beim Menschen liegen nicht vor.
Empfehlung für die Praxis:
Die kurzzeitige Anwendung üblicher Dosierungen von Bärentraubenblättern in der Schwangerschaft
erscheint bei kritischer Indikationsstellung tolerabel.
2.19.5
Baldrian (Valeriana officinalis)
Pharmakologie und Toxikologie.
Baldrian (z.B. Baldrian Dispert®) wird bei Unruhe und Schlafstörungen eingesetzt.
Systematische Untersuchungen zur Schwangerschaft fehlen, jedoch gibt es trotz der
breiten Anwendung bisher keine Hinweise auf terato-gene Effekte. Laut Monographie
der Komission E des BfArM besteht keine eindeutige Kontraindikation für die Anwendung
von Baldrian in der Schwangerschaft (Wichtl 2002). In 2 Fällen hatten nach Einnahme
von Baldrian in suizidaler Absicht in Schwangerschaftswoche 20 die Kinder schwere
mentale Schäden, jedoch hatte die Mutter in beiden Fällen noch zusätzliche Medikamente
eingenommen. In 2 weiteren Fällen zeigten die Kinder keine Spätschäden (Briggs 2005).
Empfehlung für die Praxis:
Die Anwendung von Baldrian in der Schwangerschaft ist bei kritischer Indikationsstellung
akzeptabel.
2.19.6
Bromelain
Pharmakologie und Toxikologie.
Bromelain (z.B. Mucozym®, trauma-nase®) besteht aus proteolytischen Enzymen der Ananas
und wird bei Schwellungszuständen nach Verletzungen und Operationen und zur Entzündungshemmung
versucht. Systematische Untersuchungen zur Schwangerschaft gibt es nicht. Aufgrund
der Zusammensetzung besteht kein ernsthafter Verdacht auf Schäden beim Ungeborenen
nach Anwendung durch die Mutter.
Empfehlung für die Praxis:
Die kurzzeitige Anwendung üblicher Dosierungen von Bromelain in der Schwangerschaft
erscheint bei kritischer Indikationsstellung tolerabel.
2.19.7
Echinacea (Echinacea angustifolia, Sonnenhut)
Pharmakologie und Toxikologie.
Echinacea (z. B. Echinacin®, Esberitox®) wird zur Stärkung der natürlichen Abwehrkräfte,
insbesondere bei Erkrankungen der oberen Atemwege eingesetzt. Es kann zu allergischen
Reaktionen führen. In einer plazebokontrollierten Studie ergab sich, dass Echinacea
bei Rhinovirus-Infektionen nicht wirksam ist (Turner 2005). Die Ergebnisse einer kanadischen
Studie zur Anwendung in der Schwangerschaft bei 206 Frauen, davon 112 im 1. Trimenon,
deuten nicht auf ein teratogenes Risiko hin (Gallo 2001).
Empfehlung für die Praxis:
Die kurzzeitige Anwendung üblicher Dosierungen von Echinacea in der Schwangerschaft
erscheint bei kritischer Indikationsstellung tolerabel.
2.19.8
Frauenwurzel (Caulophyllum thalictroides)
Pharmakologie und Toxikologie.
Frauenwurzel wird unter der Geburt zur Wehenförderung eingesetzt. Systematische Studien
zur Anwendung in der Schwangerschaft liegen nicht vor. Im Tierversuch fanden sich
Neu-ralrohrdefekte (Jurgens 2003). Beim Menschen liegen keine Hinweise über derartige
Effekte vor. Zwei Fallberichte beschreiben toxische Auswirkungen unter der Geburt.
Ein Kind wies post partum einen Myo-kardinfarkt mit Herzinsuffizienz und kardiovaskulärem
Schock auf. Die Wirkung wurde den in der Frauenwurzel enthaltenen kardiotoxi-schen
Alkaloiden wie Caulosaponin zugeschrieben, die eine Konstriktion der Koronarien bewirken
sollen. Ein anderes Kind entwickelte postpartal Krampfanfälle, war beatmungspflichtig
und zeigte Symptome einer Nierenschädigung (Ernst 2002).
Empfehlung für die Praxis:
Die Anwendung von Frauenwurzel unter der Geburt sollte sehr kritisch und nur von Gynäkologen
oder Hebammen mit Erfahrungen zu dieser Substanz durchgeführt werden. In der Schwangerschaft
sollte Frauenwurzel nicht eingesetzt werden.
2.19.9
Gingko biloba
Pharmakologie und Toxikologie.
Gingko biloba (z. B. Rökan®, Tebonin®) wird verschiedentlich zur Verbesserung der
Blutzirkulation, bei Konzentrationsstörungen, Schwindel, Tinnitus und in der Schwangerschaft
zur Verbeserung der plazentaren Durchblutung und fetalen Oxygenie-rung empfohlen.
Bisher liegen keine Hinweise für teratogene Effekte vor, systematische Untersuchungen
fehlen jedoch (Jurgens 2003).
Empfehlung für die Praxis:
Die kurzzeitige Anwendung üblicher Dosierungen von Gingko biloba in der Schwangerschaft
erscheint bei kritischer Indikationsstellung tolerabel.
2.19.10
Ginseng (Eleutherococcus sentiosus)
Pharmakologie und Toxikologie.
Ginseng (z.B. Orgaplasma® Dragees) wird bei Stresserscheinungen, Müdigkeit und zur
Stärkung des Immunsystems angewendet. Irrtümlicherweise wurde es in einem Fallbericht
mit einer fetalen Androgenisierung assoziiert. Später wurde aber festgestellt, dass
es sich um eine Fälschung handelte, und eine andere Substanz diesen Effekt verursachte
(Jurgens 2003). Systematische Untersuchungen zur Anwendung in der Schwangerschaft
liegen nicht vor.
Empfehlung für die Praxis:
Die kurzzeitige Anwendung von Ginseng erscheint zumindest nach dem 1. Trimenon akzeptabel,
falls eine Behandlungsindikation wirklich gegeben ist.
2.19.11
Glyzyrrhizin (Glycyrrhiza glabra)
Pharmakologie und Toxikologie.
Glyzyrrhizin ist der Hauptinhaltsstoff des Süßholzstrauches (Glycyrrhiza glabra) und
Bestandteil der Lakritze. Glyzyrrhizin kann über verschiedene Mechanismen den Abbau
von Cortisol hemmen und zu einem erhöhten fetalen Cortisolspiegel führen. Theoretisch
ist ein Zusammenhang mit einem geringeren Geburtsgewicht denkbar. In großen Mengen
kann Glyzyrrhizin über die Wirkung auf den Mineralstoffwechsel zu einer Erhöhung des
Blutdrucks, Ödemen, Muskelschwäche und Hypokaliämie führen.
In einer großen retrospektiven Studie wurden 1.049 Frauen zu ihrem Lakritzkonsum (starke
„skandinavische Lakritze”) in der Schwangerschaft, dem Geburtsgewicht der Kinder sowie
dem Schwangerschaftsalter bei Entbindung befragt. Bei starkem wöchentlichen Lakritzkonsum
ab 500 mg Glyzyrrhizin war zwar keine signifikante Reduzierung des Geburtsgewichtes
nachweisbar, es fand sich jedoch ein leicht erhöhtes Risiko für eine Geburt bereits
vor 38 Wochen (Strandberg 2001).
In einer retrospektiven finnischen Studie wurden 95 Frauen mit frühgeborenen Kindern
mit 107 Frauen mit Reifgeborenen hinsichtlich ihres Lakritzkonsums („skandinavische
Lakritze”) verglichen. Es wurde festgestellt, dass bei starkem Lakritzkonsum ab wöchentlich
500 mg Glyzyrrhizin ein 2–3fach erhöhtes Frühgeburtsrisiko besteht. Es wird vermutet,
dass Glyzyrrhizin einen lokalen Anstieg des Prostaglan-dinspiegels im Uterus bewirken
und dadurch vorzeitige Wehen auslösen könne (Strandberg 2002). Die Methodik der Studie
wurde jedoch wegen fehlender Adjustierung auf weitere Faktoren des Lebensstils kritisiert
(Hughes 2003).
Das Bundesministerium für Verbraucherschutz empfiehlt, den Konsum von Glyzyrrhizin
speziell in der Schwangerschaft auf eine Menge von weniger als 100 mg pro Tag zu beschränken.
Dies gilt besonders bei vorbestehendem Hypertonus, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder
Diabetes mellitus. Übliche deutsche Lakritzware enthält 34–200 mg Glyzyrrhizin pro
100 g, kennzeichnungspflichtige Starklakritze mehr als 200 mg Glyzyrrhizin. 100 mg
Glyzyrrhizin entsprechen etwa 1 g Süßholzwurzel oder ca. 50–400 g niedrig dosierter
Lakritzware. Bei apothe-kenpflichtigen Teezubereitungen mit Süßholzwurzel wird bei
Einhaltung der entsprechenden Dosierempfehlungen die Glyzyrrhizinmenge in der Regel
nicht überschritten.
Empfehlung für die Praxis:
Bei der Einnahme glyzyrrhizinhaltiger Arzneimittel, Tees oder beim Konsum von Lakritze
sollte darauf geachtet werden, dass in der Schwangerschaft eine tägliche Dosis von
100 mg nicht überschritten wird.
2.19.12
Himbeerblätter (Rubus idaeus)
Pharmakologie und Toxikologie.
Himbeerblättertee wird gelegentlich zur Therapie der morgendlichen Übelkeit in der
Schwangerschaft sowie zur Vorbereitung auf die Geburt empfohlen.
Bei einer Untersuchung von 51 Frauen fand sich kein erhöhtes Fehlbildungsrisiko (Ernst
2002). Bei Gabe von Himbeerblättertee zur Erleichterung und Verkürzung der Geburt
bei 192 Frauen waren keine Nebenwirkungen nachweisbar. Eine Verkürzung der Geburt
konnte in der ersten Phase nicht, in der zweiten Phase um 10 min registriert werden.
Weiterhin fanden sich signifikant weniger Forceps-Entbindungen als in der Kontrollgruppe
(Ernst 2002).
Empfehlung für die Praxis:
Himbeerblättertee darf in normalem Maβ auch in der Schwangerschaft konsumiert werden.
2.19.13
Ingwer (Zingiberis rhizoma)
Pharmakologie und Toxikologie.
Ingwerprodukte (z. B. Zintona®) werden häufig gegen Schwangerschaftsübelkeit und -erbrechen
eingesetzt, bevorzugt im 1. Trimenon. Bei einer Untersuchung an 187 Schwangeren mit
Ingwertherapie im 1. Trimenon war kein erhöhtes Fehlbildungsrisiko nachweisbar. Die
Wirksamkeit gegen die Übelkeit war nicht in allen Fällen zufriedenstellend (Portnoi
2003). In 4 anderen randomi-sierten plazebokontrollierten Doppelblindstudien zeigte
sich jedoch, dass sowohl die Übelkeit als auch die Häufigkeit des Erbrechens mit Ingwer
signifikant reduziert wurden (Willetts 2003, Keating 2002, Vutyavanich 2001, Fischer-Rassmusen
1990). Bis auf eine Arbeit ohne Hinweise zur Entwicklung des Neugeborenen (Keating
2002), fanden sich in den anderen 3 Studien keine Hinweise auf ein erhöhtes Abort-
oder Fehlbildungsrisiko. Eine neuere randomisiert-kontrollierte Studie ermittelte
keine Unterschiede in der Wirksamkeit und bei der Entwicklung der Neugeborenen gegenüber
Vitamin B6 (Pyridoxin). Ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko war nicht erkennbar (Smith
2004). Auch andere substanzspezifische Nebenwirkungen wurden bisher nicht beobachtet
(Betz 2005).
Da Ingwer in vitro eine Hemmung der Thromboxansynthese bewirkt, nahmen einige Autoren
an, dass er die Testosteron-Rezeptor-Bindungen beim Fetus beeinflussen und somit auf
die Geschlechtsdifferenzierung im kindlichen Hirn einwirken könnte (Backon 1991).
Dieser Effekt erscheint jedoch im üblichen Dosisbereich unwahrscheinlich. Im Tierversuch
wurden in 2 Studien keine entsprechenden Effekte beobachtet (Weidner 2001, Wilkinson
2000).
Empfehlung für die Praxis:
Die Anwendung von Ingwer bei Schwangerschaftsübelkeit und -erbrechen in üblicher Dosierung
stellt kein Problem dar.
2.19.14
Johanniskraut (Hypericum perforatum)
Pharmakologie und Toxikologie.
Johanniskraut (z.B. Esbericum®) wird bei leichten depressiven Verstimmungen, psychovegetativen
Störungen und nervöser Unruhe mit Erfolg eingesetzt (Nordeng 2004). Durch eine Induktion
von Isoenzymen von Cytochrom P 450 (CYP 450) können Interaktionen mit anderen Arzneimitteln
auftreten, z.B. eine Beeinträchtigung der Wirkung oraler Kontrazeptiva (siehe Abschnitt
2.11). Weiterhin wurden unter der Johanniskraut-Therapie Zyklusstörungen (Zwischenblutungen,
Menstruationsunregelmäßigkeiten) beobachtet (Yue 2000). Im Tierversuch fanden sich
keine Hinweise für teratogene Effekte (Jurgens 2003). Systematische Studien zur Anwendung
in der Schwangerschaft liegen nicht vor. Bisher gibt es trotz häufiger Einnahme auch
von Schwangeren keine Hinweise auf ein teratogenes Risiko und nach vorliegenden Einzelfallberichten
auch keine Hinweise auf funktionelle Auffälligkeiten bei den Kindern.
Empfehlung für die Praxis:
Die Anwendung von Johanniskraut bei depressiven Störungen in der Schwangerschaft ist
akzeptabel. Außerhalb einer Schwangerschaft muss bei gleichzeitiger Einnahme von oralen
Kontrazeptiva die kontrazeptive Wirkung durch kontinuierliche Einnahme monophasischer,
niedrig dosierter Präparate verstärkt oder ein Intrauterinpessar benutzt werden.
2.19.15
Kampfer
Pharmakologie und Toxikologie.
Kampfer ist ein häufiger Zusatz in pflanzlichen Antihypotonika (interne Anwendung)
und in externen Einreibungen. Im Tierversuch zeigten sich teratogene Wirkungen, jedoch
erst im hochtoxischen Dosisbereich (Leuschner 1997). Beim Menschen gibt es bisher
keine Hinweise darauf, dass therapeutische Dosen teratogen sind, allerdings wurde
dies nicht systematisch untersucht. Theroretisch kann Kampfer Spontanaborte auslösen.
Es ist plazentagängig und der Fetus bildet noch keine Enzyme zur Hydroxylierung und
Glucuronidie-rung von Kampfer (Rabl 1997).
Empfehlung für die Praxis:
Die Anwendung von Kampfer ist in therapeutischer Dosierung bei entsprechender Indikationsstellung
akzeptabel, jedoch sollte auf eine Anwendung im 1. Trimenon verzichtet werden. Eine
dennoch erfolgte Applikation rechtfertigt weder einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch
noch invasive Diagnostik (siehe Kapitel 1.15).
2.19.16
Mistel (Viscum album)
Pharmakologie und Toxikologie.
Mistelpräparate (z.B. Helixor®, Iscador®) werden zur Therapie von Malignomen eingesetzt.
Praktische Erfahrungen zur Schwangerschaft liegen nur in einigen Fallbeobachtungen
ohne Hinweise auf nennenswerte Schädigung des Ungeborenen vor. Bei In-vitro-Untersuchungen
an Amnionflüssigkeit konnten nach hoch dosierter Zugabe von Viscum album (Iscador®
P) keine zytogenetische Schädigung oder mutagenen Effekte nachgewiesen werden (Bussing
1995).
Als Nebenwirkung einer Misteltherapie kann es zur Fieberentwicklung kommen. Dies ist
in der Schwangerschaft aufgrund der zumindest bei hohen Temperaturen möglichen Komplikationen
primär nicht erwünscht (siehe Abschnitt 2.6.61).
Empfehlung für die Praxis:
Die Anwendung von Mistelpräparaten in der Schwangerschaft sollte nur nach kritischer
Indikationsstellung erfolgen.
2.19.17
Mönchspfeffer (Agnus castus)
Pharmakologie und Toxikologie.
Mönchspfeffer (Agnus castus; z.B. Agnucaston®, Agnolyt®) ist ein Pflanzenextrakt mit
estrogenartiger Wirkung. Es kommt bei einer Vielzahl gynäkologischer Probleme zum
Einsatz, z. B. Dysmenorrhoe, prämenstruellen Beschwerden oder Mastody-nie. Ein Fallbericht
diskutiert, dass Mönchspfeffer über eine ovarielle Hyperstimulation zu einem erhöhten
Spontanabortrisiko führen könnte (Cahill 1994). Es liegen keine Daten zur Bewertung
des terato-genen Risikos vor.
Empfehlung für die Praxis:
Für die Anwendung von Mönchspfeffer besteht in der Schwangerschaft keine Indikation.
Eine dennoch erfolgte Einnahme in der Frühschwangerschaft stellt keine Indikation
für einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch oder invasive Diagnostik dar (siehe
Kapitel 1.15).
2.19.18
Nachtkerzenöl
Pharmakologie und Toxikologie.
Nachtkerzenöl per os wurde bei drohender Übertragung und zur Verkürzung der Geburt
empfohlen. In einer Studie wurden jeweils 54 Schwangere mit und ohne Einnahme von
Nachtkerzenöl ab Woche 37 hinsichtlich der Dauer der Schwangerschaft und der Wehentätigkeit
verglichen. Insgesamt fanden sich keine Unterschiede im Schwangerschaftsverlauf. Tendenziell
fanden sich in der behandelten Gruppe sogar eine längere Geburtsdauer, eine Verzögerung
des Blasensprungs und häufiger Anzeichen für einen Geburtsstillstand mit der Notwendigkeit
zur Vakuumextraktion (Dove 1999). Zur Langzeitanwendung von Nachtkerzensamenöl (z.B.
Epogam) wegen Neurodermitis in der Schwangerschaft liegen keine Erfahrungen vor.
Empfehlung für die Praxis:
Die Anwendung von Nachtkerzenöl sollte sehr kritisch geprüft werden.
2.19.19
Rosskastanie (Aesculus hippocastanum)
Pharmakologie und Toxikologie.
Rosskastanienextrakt (Aescin-Präparate) (z.B. Aescorin®, Venostasin®) kommt als Antiphlogistikum
und Venen-therapeutikum zum Einsatz. Systematische Untersuchungen zur Anwendung in
der Schwangerschaft gibt es nicht, bisher jedoch auch keine Hinweise auf ein teratogenes
Risiko.
Empfehlung für die Praxis:
Die Anwendung von Rosskastanienextrakt sollte auch im 2. und 3. Trimenon sehr kritisch
geprüft werden.
2.19.20
Salbei (Salvia officinalis)
Pharmakologie und Toxikologie.
Vor der Anwendung von Salbei als reinem ätherischem Öl oder alkoholischen Extrakten
wird von der Komis-sion E des BfArM gewarnt. Die gelegentliche Anwendung als Gewürz
oder in Form von Salbeitee ist wahrscheinlich unproblematisch. Systematische Untersuchungen
zur Anwendung von Salbei in der Schwangerschaft liegen nicht vor.
Empfehlung für die Praxis:
Salbei sollte nicht als reines ätherisches Öl oder in alkoholischen Zubereitungen
in der Schwangerschaft genommen werden. Die gelegentliche Anwendung als Gewürz oder
Tee ist zulässig.
2.19.21
Zimt
Pharmakologie und Toxikologie.
Zimt in der Schwangerschaft wurde aufgrund einer Studie kontrovers diskutiert, in
der nach täglicher Einnahme von 1–6 g Zimt über 40 Tage ein Absinken des Nüchternserumglukosespiegels
sowie vorübergehend der Triglyceride, des LDL-Cho-lesterins und des Gesamtcholesterins
festgestellt wurde (Khan 2003). Diesen Effekt könnte man bei der Therapie eines Diabetes
mellitus nutzen. Problematisiert wird allerdings auch eine mögliche fetale Hypo-glykämie
bei häufigem Zimtkonsum in der Schwangerschaft.
Empfehlung für die Praxis:
Die gelegentliche Anwendung von Zimt in der Schwangerschaft stellt bei sonst ausgewogener
Ernährung kein Problem dar.
2.19.22
Pflanzliche Carminativa
Pharmakologie und Toxikologie.
Pflanzliche Carminativa, wie Anis, Kümmel oder Pfefferminze sowie ihre entsprechenden
Öle, sind in der Schwangerschaft nicht systematisch untersucht. Hinweise auf terato-gene
oder embryotoxische Wirkungen liegen bisher nicht vor.
Empfehlung für die Praxis:
Pflanzliche Carminativa dürfen in der Schwangerschaft angewendet werden.
2.19.23
Andere Phytopharmaka und Kombinationspräparate
Pharmakologie und Toxikologie.
Gelomyrtol® ist ein Gemisch ätherischer Öle in Kapselform, das bei der Therapie der
akuten oder chronischen Bronchitis oder Sinusitis Anwendung findet. Systematische
Studien zur Anwendung in der Schwangerschaft liegen nicht vor, allerdings auch keine
Fallberichte mit Hinweisen auf Teratogenität.
Phytodolor® wird aus Blättern und Rinde der Pappel (Polulus tre-mula), dem Kraut der
Goldrute (Solidago virgaurea) und der Rinde der Esche (Fraxinus excelsior) im Verhältnis
3:1:1 gewonnen. Seine anti-phlogistische Wirkung wird bei der Therapie leichter bis
mäßiger rheumatischer Beschwerden genutzt. Die Wirksamkeit wurde in randomi-sierten
Doppelblindstudien nachgewiesen. In umfassenden toxikologischen Untersuchungen ergab
sich kein Hinweis auf ein toxisches, mutagenes oder teratogenes Potenzial, auch nicht
bei Langzeittherapie (Chrubasik 2002).
Sinupret® ist ein Gemisch aus Enzianwurzel, Schlüsselblumenwurzel, Gartensauerampferkraut,
Holunderblüten und Eisenkraut, das zur Behandlung der akuten und chronischen Sinusitis
oder Bronchitis eingesetzt wird. In Zusammenarbeit mit dem Geburtsregister Mainz wurden
in einer Untersuchung von 762 Schwangerschaften mit Sinu-pret-Exposition keine Hinweise
auf ein teratogenes oder embryotoxisches Risiko gefunden (Ismail 2003). Die Studie
enthält allerdings keine Angaben zum Therapiezeitpunkt.
Zu anderen Phytopharmaka, wie z.B. Efeublättertrockenextrakt (z.B. Prospan®) und Pelargoniumwurzel
(Umckaloabo®), gibt es keine ausreichenden Erfahrungen in der Schwangerschaft.
Empfehlung für die Praxis:
Die Indikation für o.g. Phytopharmaka sollte kritisch geprüft werden. Auf alkoholische
Zubereitungen sollte verzichtet werden. Eine Behandlung in der Frühschwangerschaft
erfordert keine zusätzliche Diagnostik (siehe Kapitel 1.15).
2.19.24
Pyrrolizidinalkaloide
Pharmakologie und Toxikologie.
Pyrrolizidinalkaloide sind bei Langzeitanwendung lebertoxisch. Pflanzen, die Pyrrolizidinalkaloide
enthalten, sind z.B. Borretsch (Borago officinale), verschiedene Beinwellarten (Symphytum
officinale), Kamille (Matricaria chamomilla), Huflattich (Tussilago farfara), verschiedene
Kreuzkrautarten (z.B. Senecio vulga-ris) oder Pestwurz (Petasites hybridus).
Publiziert wurden 2 Fälle, in denen eine längere Einnahme von pyr-rolizidinalkaloidhaltigen
Zubereitungen in der Schwangerschaft zu einer Leberschädigung mit venöser Verschlusskrankheit
(Veno occlu-sive disease) und zum Tod des Kindes führte. Im ersten Fall trank die
Mutter während der gesamten Schwangerschaft einen Pflanzentee, bei dem später festgestellt
wurde, dass er Pyrrolizidinalkaloide enthielt (Ernst 2003). Zunächst war der Huflattich
im Tee angeschuldigt worden, schließlich stellte sich heraus, dass die Ursache bei
einer Verunreinigung mit Pestwurz lag. Im zweiten Fall hatte die Schwangere zum täglichen
Kochen eine türkische Gewürzmischung verwendet, die diverse Pyrrolizidinalkaloide
enthielt (Rasenack 2003). Eine südafrikanische Veröffentlichung soll über 20 Kinder
mit Veno occlusive disease nach mütterlicher Einnahme pyrrolizidinalkaloidhaltiger
Phytotherapeutika und hoher Mortalitätsrate beobachtet haben. Bei überlebenden Kindern
entwickelte sich eine Leberzirrhose mit portaler Hypertension (Ernst 2003).
Empfehlung für die Praxis:
Pflanzentees und anderen Zubereitungen mit ungeklärter Herkunft, bei denen Pyrrolizidinalkaloide
enthalten sein könnten, sollten in der Schwangerschaft strikt gemieden werden.
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Diagnostika
2.20.1
Röntgenuntersuchungen
Röntgenstrahlen gehören zu den ionisierenden Strahlen. Die Dosis wird in rad oder
in Gray (Gy) angegeben. 1 Gray = 100 rad = 100.000 mrad. In der Schwangerschaft ist
vor allem die Uterusdosis bzw. die des Embryos relevant. Die im Zielorgan, dem Embryo,
tatsächlich ermittelte Dosis wird in rem oder Sievert (Sv) angegeben. 1 Sievert =
100 rem = 100.000 mrem. Geht man vereinfachend davon aus, dass die emittierte Dosis
der Embryonaldosis entspricht, dann ist 1 Sv = 1 Gy.
Dosisbereiche üblicher Röntgenuntersuchungen.
Die Fruchtdosis üblicher Röntgenuntersuchungen (einschließlich des Unterbauchs) liegt
meist deutlich unterhalb 50 mSv Bei einer einzelnen Abdomen-, Beckenoder LWS-Aufnahme
ohne Abschirmung ist die Gonadendosis häufig sogar niedriger als 2 mSv Diese Größenordnung
gilt für Röntgenaufnahmen mit heute empfohlenem Filmmaterial und für digitale Aufzeichnung
mit korrekt eingestellten Geräten. Bei mehreren Aufnahmen des Uterus im direkten Strahlengang
muss die Gesamt-Uterusdosis berechnet werden. Dafür benötigt man u. a. die Röhrenspannung
in kV (Kilovolt), die Dicke der Aluminiumfilter in mm, den Filter-Haut-Abstand in
cm und die Strahlenrichtung. Längere Durchleuchtungszeiten bei Darmuntersuchungen
oder Darstellung ableitender Harnwege können durchaus zu einer Uterusbelastung von
20 mSv führen. Die Uterusdosis bei Durchleuchtungsuntersuchungen ist stark von der
Gerätetechnik und der Untersuchungstechnik abhängig (DGMP-Bericht 2002). Tabelle 2.2
geht vom ungünstigsten Fall aus und gibt die Höchstwerte pro Minute an, wenn der Uterus
im direkten Strahlengang liegt. Die Werte variieren je nach Konstitution der Patientin
(Durchmesser in cm) und nach Durchleuchtungsrichtung.
Tab. 2.2
Höchstwerte der Äquivalentdosisleistung für den Uterus in mSv/min bei Röntgendurch
leuchtung mit Bildverstärker-Fernsehkette (nach DGMP-Bericht 2002).
Projektion
a.p.
a.p.
a.p.
p.a.
p.a.
p.a.
lateral
Konstitution
dünn, 17 cm
normal, 22 cm
dick, 26 cm
dünn, 17 cm
normal, 22 cm
dick, 26 cm
normal, 36 cm
Äquivalentdosisleistung
16
24
40
8
12
20
32
a. p. = anterior-posterior, p.a. = posterior-anterior
Die Uterusstrahlendosis bei Computertomographie (CT-Röntgen)- Untersuchungen einschließlich
der neueren Spiral-CTs liegt häufig über 20 mSv, jedoch meist unter 50 mSv, wenn sich
der Uterus im Strahlengang befand. Dies schließt zwei Untersuchungsgänge unter Einbeziehung
des Unterbauchs einschließlich Übersichtsaufnahme (Scout) ein. Zur Dosisberechnung
gehören u.a. die Röhrenspannung in kV, die Anzahl der Rotationen, die oberste und
unterste Schicht mit Angabe des korrespondierenden Wirbelkörpers oder in cm oberhalb
des Rumpfendes, die mAS (Milliamperesekunden) pro Rotation oder als Summenangabe für
die gesamte Untersuchung, die Schichtdicke, der Vorschub und der gerätetypische so
genannte Kerma-Wert, der die Dosis auf der Rotationsachse in freier Luft angibt und
mit CTDILuft bezeichnet wird.
Die Streustrahlung bei Untersuchung anderer Körperregionen wie Oberbauch, Thorax,
Extremitäten oder Zahnröntgen ist zu vernachlässigen, weil sie weit unter 1 mSv liegt.
Auswirkungen von Röntgenstrahlung.
Röntgenstrahlen können in Abhängigkeit von der Dosis und vom Entwicklungsstadium des
Embryos Fruchttod, Fehlbildungen verschiedener Organsysteme, vor allem der Augen,
allgemeine Wachstumsretardierung, Mikrozephalie und mentale Retardierung hervorrufen.
Dies ist sowohl tierexperimentell als auch empirisch beim Menschen belegt (Brent 1999
A). In den ersten 5 Tagen nach Konzeption (also noch während der „Alles-oder-Nichts-Phase”)
wird die niedrigste Letaldosis mit 10 rad (100 mGy) angegeben. Während der eigentlichen
Embryogenese wird dieser Wert mit 25–50 rad, später mit über 100 rad (1 Gy) beziffert
(Brent 1999 A). Schwere ZNS-Fehlbildungen während der frühen Embryogenese (18–36 Tage
nach Konzeption) sollen erst ab 20 rad (200 mGy) zu erwarten sein. Mit bleibender
Wachstumsretardierung rechnet man bei 25–50 rad. Mikrozephalie und mentale Retardierung
wurden besonders nach Dosen oberhalb 20 rad zwischen Woche 10 und 17 beobachtet.
Die meisten Untersuchungen kommen zu dem Schluss, dass unterhalb einer Strahlendosis
von 50 mGy, entsprechend 5 rad, mit keinem nennenswerten Anstieg des Fehlbildungsrisikos
beim Menschen zu rechnen ist (Brent 1999 A, Sternberg 1973). Eine kürzlich veröffentlichte
Studie beobachtet ein geringeres Geburtsgewicht im Zusammenhang mit Zahnröntgen in
der Schwangerschaft und interpretiert dies als Folge einer Funktionsstörung der Schilddrüse,
die beim Zahnröntgen ebenfalls getroffen werde (Hujoel 2004). Andere Autoren widersprechen
dieser Hypothese und halten eher die zugrunde liegende Zahnerkrankung für ursächlich
(Lockhart 2004).
Weitaus schwieriger als die Beurteilung des teratogenen Strahlenrisikos ist die Frage
nach mutagenen und krebsauslösenden Effekten zu beantworten. Für mutagene Effekte
gibt es keine Schwellendosis, unterhalb derer wie bei der Teratogenese kein Effekt
zu erwarten ist. Punktmutationen ereignen sich bekanntermaßen auch spontan. Die zur
Verdopplung der Punktmutationsrate führende Strahlendosis wird mit 100–200 rad (1–2
Gy) angegeben (Brent 1999 A, Neel 1999). Einerseits bedeutet eine Verdopplung der
Mutationsrate eines bestimmten Gens noch keine Häufigkeitsverdopplung einer daran
gekoppelten Erkrankung. Andererseits sollten die völlig unzureichenden Kenntnisse
zu den Auswirkungen auf spätere Generationen zu großer Zurückhaltung bei der Definition
unbedenklicher Expositionsgrenzwerte für die Gesamtbevölkerung führen (Brent 1999
A).
Bei den Eltern von etwa 500 an Neuroblastom erkrankten Kindern wurden Röntgenanwendungen
vor der Schwangerschaft nicht häufiger durchgeführt als bei einer gesunden Kontrollgruppe
(Patton 2004). In einer Studie an Zwillingsschwangerschaften ermittelten Harvey und
Mitarbeiter (1985) bei einer Fetaldosis von 0,01 Sv einen Anstieg des Leukämierisikos
um den Faktor 2,4. Lengfelder (1990) zieht bereits ein erhöhtes Leukämierisiko in
Erwägung, wenn die zusätzliche pränatale Strahlenexposition des Embryos im Bereich
der natürlichen Hintergrundbelastung von etwa 0,001 Sv liegt. Dagegen nehmen andere
Autoren bei Exposition mit 0,02–0,05 Sv noch kein Risiko für den Embryo an (Boice
1999).
Wakeford und Mitarbeiter (2003) haben für Kinder unter 15 Jahren das relative und
absolute Risiko errechnet, nach intrauteriner Strahlenexposition an einem Karzinom
zu erkranken. Das absolute Risiko geben sie mit 8% pro Gray an. Ihre detaillierte
Berechnung basiert auf der weltweit größten Datensammlung zum Karzinomrisiko durch
intra-uterine Röntgenexposition, vorwiegend Pelvimetrie, dem Oxford Survey of Childhood
Cancers (OSCC). Die Autoren leiten vergleichbare Risiko-Koeffizienten aus den japanischen
Daten von Atombombenopfern ab und fassen zusammen, dass selbst für eine vergleichsweise
niedrige Fetaldosis von 10 mSv, die in den 50er Jahren bei einer Röntgenaufnahme des
Beckens erreicht wurde, bereits ein erhöhtes Risiko vorliegt. Andere Autoren halten
solche Risikoannahmen für zu hoch. Sie berufen sich ebenfalls auf die nicht einmal
1.000 Überlebende umfassende Gruppe intrauterin exponierter Hiroshimaopfer und auf
Verlaufsdaten von exponierten Kindern in Hiroshima. Diese nicht selten als Beleg für
ein vergleichsweise niedriges Krebsrisiko nach radioaktiver Exposition zitierten Untersuchungen
sind jedoch angesichts methodischer Mängel und der damaligen politischen Interessenlage
der amerikanischen Untersucher kritisch zu bewerten.
Empfehlung für die Praxis:
Bei Anwendung bildgebender diagnostischer Verfahren im Bereich des Unterbauches sollte
bei Frauen im gebärfähigen Alter primär auf Röntgenverfahren verzichtet werden, insbesondere
wenn eine Schwangerschaft nicht sicher auszuschließen ist. Die mit „Nein” beantwortete
Frage nach einer vorliegenden Schwangerschaft schließt eine solche bekanntermaßen
nicht aus! Jede Röntgenuntersuchung des Unterbauchs, von deren Ergebnis nicht unmittelbar
vital indizierte Therapiemaßnahmen abhängen, sollte sicherheitshalber nur in der ersten
Zyklushälfte durchgeführt werden. Falls Röntgenun-tersuchungen unverzichtbar sind,
darf nur mit den modernsten Geräten und unter optimalem Schutz der Fruchthöhle gearbeitet
werden. Röntgenaufnahmen außerhalb der Genitalregion und der Fruchthöhle stellen weder
eine Indikation für einen risikobegründeten Abbruch der Schwangerschaft noch für weitere
Vorsorgemaßnahmen dar (siehe Kapitel 1.15). Dies gilt auch für die üblichen Rönt-genuntersuchungen,
bei denen (versehentlich) der schwangere Uterus erfasst wird.
2.20.2
Radioaktive Isotope
Pharmakologie und Toxikologie.
In der Szintigraphie hat Technetium das Iod weitgehend ersetzt, bei der Positronen-Emissions-Tomographie
(PET) wird
18FDG (2-Fluoro-2-Deoxy-D-Glucose) i.v. appliziert.
Die Strahlendosis für den Embryo im Rahmen einer Szintigraphie ist abhängig von den
Strahlungseigenschaften des Radionuklids, der appli-zierten Aktivität (Dosis) sowie
dem Verteilungsmuster und Eliminationsverhalten des Radiopharmakons (DGMP-Bericht
2002). Sie kann nicht gemessen werden, sondern muss unter vereinfachenden Annahmen
bezüglich der Anatomie der Patientin und der Biokinetik des Radiopharmakons einschließlich
seiner Halbwertszeit berechnet werden. Dabei werden Dosiskoeffizienten für den Embryo
bzw. Fetus in den verschiedenen Stadien der Schwangerschaft verwendet (0, 3, 6, 9
Monate). In Tabelle 2.3
wird jeweils der höchste ermittelte Wert übernommen. In der Regel fallen Dosiskoeffizient
und Dosis vom Anfang zum Ende der Schwangerschaft hin ab.
Tab. 2.3
Energiedosis für den Embryo/Fetus bei ausgewählten diagnostischen und therapeutischen
nuklearmedizinischen Verfahren. Für abweichende applizierte Aktivitäten sind die Dosiswerte
entsprechend zu modifizieren (nach DGMP-Bericht 2002).
Organ bzw. Methode
Radio-nuklid
Radio-pharmakon
Dosiskoeffizient μGy/MBq
Applizierte Aktivität MBq
Energiedosis (Embryo/Fetus) mGy
Knochen
99mTc
MDP, HDP
6,1
750
4,6
Schilddrüse
131I
Iodid
72
2
0,1
Schilddrüse
99mTc
Pertechnetat
11
75
0,8
Nieren
99mTc
MAG3
18
200
3,6
Lunge
99mTc
Mikrosphären
2,8
200
0,6
Therapie Hyperthyreose
131I
Iodid
72
750
54
Therapie Struma maligna
131I
Iodid
72
4.000
288
Eine Besonderheit stellt der Iodstoffwechsel dar. Die Anreicherung von Radioiod in
der fetalen Schilddrüse beginnt etwa 90 Tage nach der Konzeption. Obwohl Untersuchungen
der Anreicherung und Retention in der Schilddrüse des menschlichen Fetus vorliegen,
ist die zugehörige Dosimetrie nach wie vor mit großen Unsicherheiten behaftet. Das
Dosismaximum für die fetale Schilddrüse wird bei Gabe von Radioiod Mitte bis Ende
des 2. Trimenons erreicht. Bei der Anwendung von
131I zur Therapie einer Hyperthyreose sind die Schilddrüsendosen bei Fetus und Mutter
dann etwa gleich groβ. Tabelle 2.4
fasst die Ergebnisse entsprechender Berechnungen zusammen. Aus Tabelle 2.3 ergibt
sich, dass diagnostische Anwendungen eine vergleichsweise geringe Fetaldosis bedingen.
Da jedoch die Dosen, die bei der Therapie der Hyperthyreose und der Struma maligna
mit 131I eingesetzt werden, 50–300 mGy betragen, ist eine solche Therapie für den
Fetus sehr riskant. Wie Tabelle 2.4 zeigt, kann 131I schon bei diagnostischer Anwendung
zu einer erheblichen fetalen Schilddrüsendosis führen. Die therapeutische Applikation
von 131I bei der Mutter führt nach dem 1. Trimenon mit hoher Wahrscheinlichkeit zu
einer Ablation der fetalen Schilddrüse. Jedoch wurden, vor allem nach versehentlicher
Anwendung in der Frühschwangerschaft, auch unauffällige Verläufe beobachtet. Das fetale
TSH, durch Nabelschnurpunktion gewonnen, kann Aufschluss über die Einwirkung der mütterlichen
131I-Therapie auch bei noch (kompensiert) euthyreoten Feten und Hinweise auf eine
postnatal erforderliche Thyroxinsupplementierung bis zur TSH-Normalisierung geben
(Welch 1997).
Tab. 2.4
Fetale Schilddrüsendosis bei einmaliger Zufuhr des Radiopharmakons zu verschiedenen
Zeitpunkten der Schwangerschaft (nach DGMP-Bericht 2002)
Methode
Radio-pharmakon
Applizierte Aktivität MBq
Fetale Schilddrü sendosis mSv; 95 Tage
Fetale Schilddrü sendosis mSv; 130 Tage
Fetale Schilddrü sendosis mSv; 250 Tage
SD-Szintigraphie
99mTc- Pertechnetat
75
0,7
1,7
0,6
SD-Szintigraphie
123I Iodid
10
29
70
27
Radioiodtest
131I Iodid
2
810
1.950
760
Therapie Hyperthyreose
131I Iodid
750
300.000
730.000
280.000
Der Radioiodtest wird heute fast ausschließlich vor einer Radioiodthe-rapie angewendet.
Insgesamt ist die übliche nuklearmedizinische Diagnostik mit Werten von meist weniger
als 10 mGy für den Embryo oder Fetus verbunden (DGMP-Bericht 2002, Adelstein 1999).
Eine in den Jahren vor der Schwangerschaft erfolgte therapeutische (ablative) Anwendung
von 131Iod bei Hyperthyreose oder Schilddrüsenkarzinom hat laut mehrerer Studien mit
einigen 100 ausgewerteten Schwangerschaften keine ungünstigen Auswirkungen auf die
vor- und nachgeburtliche Entwicklung des Kindes (Bal 2005, Chow 2004, Read 2004, Schlumberger
1996). Von zahlreichen Kindern dieser Studien liegen Berichte zu ihrer Entwicklung
bis ins Erwachsenenalter vor, ohne dass Hinweise auf Spätfolgen wie Karzinomentstehung
oder genetische Defekte daraus erkennbar werden. Schlumberger und Mitarbeiter (1996)
beobachten jedoch eine erhöhte Abortrate, wenn die Behandlung innerhalb eines Jahres
vor der Schwangerschaft stattfand. Die Autoren diskutieren sowohl die Exposition der
Gonaden als auch eine ungenügende Schilddrüsenhormoneinstellung nach der nuklear-medizinischen
Therapie als Ursachen. Read und Mitarbeiter (2004) haben keine Fehlbildung bei 36
Schwangerschaften beobachtet, bei denen der Vater eine ablative Behandlung mit 131Iod
in der Vorgeschichte angab.
Empfehlung für die Praxis:
Die diagnostische und therapeutische Anwendung von Radioisotopen während der Schwangerschaft
ist kontraindiziert. Eine dennoch erfolgte diagnostische Exposition rechtfertigt jedoch
weder einen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch noch invasive Diagnostik (siehe
Kapitel 1.15). Bei Anwendung von 131Iod in therapeutischer Dosierung bei Hyperthyreose
oder Schilddrüsenkarzinom ist über diagnostische und therapeutische Konsequenzen individuell
zu entscheiden. Ein Beratungszentrum für Medikamente in der Schwangerschaft sollte
zu Rate gezogen werden (siehe Adressen in Kapitel 1.15).
2.20.3
Ultraschall
Seit rund 30 Jahren wird Ultraschall in allen Phasen der Schwangerschaft angewendet.
Zahlreiche tierexperimentelle (Übersicht in Jensh 1999) und epidemiologische Untersuchungen
(Übersicht in Ziskin 1999) haben die Auswirkungen auf den Fetus analysiert. Negative
Effekte könnten in erster Linie durch lokale Hyperthermie ausgelöst werden. Obwohl
Auffälligkeiten wie die Zunahme fetaler Bewegungsaktivität, vermindertes Geburtsgewicht,
verzögerte Sprachentwicklung und vermehrte Linkshändigkeit als Folge von Ultraschalluntersuchungen
von einzelnen Untersuchern erörtert wurden (Newnham 1993, Visser 1993), ließen sich
diese Auswirkungen nicht bestätigen. Nachfolgeuntersuchungen an etwa 1.500 Kindern
im Alter von 1–8 Jahren, deren Mütter 5-mal per Ultraschall zwischen Woche 18 und
38 untersucht worden waren, ergaben hinsichtlich Gewichtszunahme und anderer Entwicklungsparameter
keine Auffälligkeiten im Vergleich zu einer Kontrollgruppe mit nur einer Ultraschalluntersuchung
(Newnham 2004). Gepulste Doppleruntersuchungen, Flowmessungen und Untersuchungen im
1. Trimenon erfordern eine höhere Energiedosis und können bei längerer Fokussierung
eines Bereichs theoretisch eher zur Überwärmung embryonalen Gewebes und zu Entwicklungsschäden
führen. Daher wird weiterhin empfohlen, Ultraschall nur medizinisch indiziert anzuwenden
(Bly 2005).
Empfehlung für die Praxis:
Ultraschalluntersuchungen im medizinisch notwendigen Umfang sind in der Schwangerschaft
akzeptabel. Video- und Einzelbilddarstellungen fürs Familienalbum gehören nicht dazu.
2.20.4
Magnetresonanztomographie (MRT)
Bei der MRT werden Magnetfelder erzeugt, die sich nicht von anderen elektrischen Anwendungen
einschließlich Radiowellen unterscheiden. Die Magnetfeldstärke wird für die Patienten
mit 1,5 bis 2 Tesla [T] und für das Untersuchungspersonal mit 5–100 mT angegeben.
Die MRT wird seit rund 20 Jahren auch in der Schwangerschaft angewendet. Mittels MRT
wurde z.B. die Plazenta lokalisiert, fetale Diagnostik betrieben und geprüft, ob die
Beckenmaße eine vaginale Entbindung zulassen (De Wilde 2005). Die überwiegend im 2.
und 3. Trimenon gemachten Erfahrungen haben bislang keine negativen Auswirkungen der
dabei erzeugten elektromagnetischen Felder und des Gerätelärms auf den Fetus erbracht
(Kok 2004, Brent 1999 B, Übersicht in Robert 1999, Brent 1993). Dies betrifft auch
Nachuntersuchungen von Kindern im Alter von 3 bzw. 8–9 Jahren einschließlich Hör-
und Sehtests (Kok 2004, Baker 1994). Untersuchungen an MRT-Personal ergaben keinen
Anhalt für ein reproduktionstoxisches Risiko (Evans 1993).
Empfehlung für die Praxis:
In Abwägung potenzieller Risiken zwischen Rönt-gen-CT und MRT ist der MRT in allen
Phasen der Schwangerschaft der Vorzug zu geben.
2.20.5
Bariumsulfat-Kontrastmittel
Zur röntgenologischen Darstellung des Magen-Darm-Traktes wird Bariumsulfat eingesetzt.
Diese Verbindung ist unlöslich und wird im Darm nicht resorbiert. Es ist daher in
der Schwangerschaft nicht mit einer Schädigung des Ungeborenen durch dieses Kontrastmittel
zu rechnen.
2.20.6
Iodhaltige Kontrastmittel
Pharmakologie und Toxikologie.
Zu den iodhaltigen Kontrastmitteln zählen Iobitridol (Xenetix®), Iodamid, Iodixanol
(Accupaque™, Visipaque®), Iohexol (z. B. Omnipaque®), Iomeprol (Imeron®), Iopamidol
(z. B. Uni-lux®, Solutrast®), Iopansäure, Iopentol (Imagopaque®), Iopodate (Biloptin®),
Iopromid (Ultravist®), Iotalaminsäure (Conray®), Iotrolan (Isovist®), Iotroxinsäure
(Biliscopin®), Ioversol (Optiray), Ioxaglin-säure (Hexabrix®), Ioxitalaminsäure (Telebrix®),
Lysinamidotrizoat (z.B. in Peritrast®), Megluminamidotrizoat und Natriumamidotrizoat
(kombiniert z. B. in Urografin®, Urovison®), Metrizamid und Metrizoat.
Bei den iodhaltigen Kontrastmitteln sind nieren- und gallengängige Präparate zu unterscheiden.
Gallenkontrastmittel sind lipophil. Das erleichtert ihre Ausscheidung über die Leber,
bedingt jedoch auch eine gute Plazentagängigkeit. Mehr als 80 % der lebergängigen
Kontrastmittel werden rasch über die Galle in den Darm ausgeschieden.
Zur Nieren- und Harnwegsdarstellung sowie zur Angiographie werden intravenös applizierbare
hydrophile und vorwiegend nichtionische iodhaltige Kontrastmittel verwendet, die nur
in geringem Umfang an Plasmaeiweiße gebunden sind und schnell über die Niere ausgeschieden
werden. Der Anteil an freiem Iod im Kontrastmittel liegt unter 1 Promille der Kontrastmittelmenge
und kann im Verlauf der Lagerung zunehmen. Nach Applikation ist im Organismus eine
weitere enzymati-sche Freisetzung durch Deiodasen möglich. Freies Iodid kann die fetale
Schilddrüse erreichen und dort gespeichert werden. Eine Iodüberla-dung kann ab Schwangerschaftswoche
12, wenn die fetale Schilddrüse ihre endokrine Funktion aufnimmt, eine vorübergehende
Hypothy-reose verursachen (Übersicht in Webb 2005).
Empfehlung für die Praxis:
Die Anwendung iodhaltiger Kontrastmittel ist spätestens ab Schwangerschaftswoche 12
auf vitale diagnostische Indikationen zu beschränken.
2.20.7
Ultraschall- und Magnetresonanz-Kontrastmittel
Pharmakologie und Toxikologie.
Als Kontrastmittel wird bei der Ultraschalldiagnostik D-Galaktose (Echovist-200®,
Echovist-300®) eingesetzt, von dem kein pränatal toxisches Risiko zu erwarten ist.
Gadopentetsäure (Magnevist®), Gadobensäure (MultiHance®), Ga-dodiamid (Omniscan®),
Gadoteridol (ProHance®), Gadotersäure (Dotarem®) und Gadoxetsäure (Primovist®) sind
ionische, paramagnetische Kontrastmittel, die bei der Magnetresonanzdarstellung (MRT)
benutzt werden. Soweit untersucht, ergaben Tierversuche keine Hinweise auf teratogene
Eigenschaften dieser Kontrastmittel. Auch die bisher vorliegenden Fallberichte zur
Anwendung von Gadoliniumverb indungen beim Menschen (Webb 2005, Marcos 1997), vorwiegend
nach dem 1. Trimenon, ergaben keine Hinweise auf Fetotoxizität.
Ferristen (Abdoscan®) ist aus theoretischen Erwägungen als unbedenklich zu betrachten.
Zum manganhaltigen Mangafodipir (Teslascan®) ist aufgrund unzureichender Erfahrungen
keine Risikoabschätzung möglich.
Empfehlung für die Praxis:
Die genannten Kontrastmittel dürfen bei gegebener Indikation zur Diagnostik eingesetzt
werden. Mangafodipir sollte aufgrund unzureichender Risikoabschätzung möglichst nicht
angewendet werden.
2.20.8
Stabile Isotope
Pharmakologie und Toxikologie.
Für verschiedene Elemente konnten „stabile Isotope” entwickelt werden, die nicht radioaktiv
strahlen und die sich im Atomgewicht vom ursprünglichen Element unterscheiden. Chemische
Verbindungen, z. B. Arzneimittel, lassen sich nach Einbau stabiler Isotope mit analytischen
Methoden, wie z.B. der Massenspektrome-trie, nachweisen. Weder im Tierexperiment (Spielmann
1986) noch beim Menschen wurden bislang embryotoxische Effekte beobachtet.
Empfehlung für die Praxis:
Aus reproduktionstoxikologischer Sicht bestehen keine Bedenken gegen die Anwendung
diagnostischer Verfahren mit stabilen Isotopen.
2.20.9
Farbstoffe
Pharmakologie und Toxikologie.
Speziell entwickelte Farbstoffe wurden zur Funktionsdiagnostik des Herz-Kreislauf-Systems,
der Leber und der Niere eingesetzt. Es handelt sich z.B. um Bromsulphthalein, Evans-Blau,
Indigokarmin, Kongorot, Methylenblau, Phenolrot, Tri-carbocyanin und Trypaflavin.
Methylenblau wird einerseits zur Therapie der Methämoglobinämie eingesetzt und diente
andererseits bei Zwillingsschwangerschaften zur Differenzierung bei der Amniozentese
sowie präpartal zur Lokalisierung eines Lecks der Fruchtblase. Als fetotoxische Wirkungen
wurden Ileum- bzw. Jejunalatresien beschrieben. Diese sind wahrscheinlich Folge einer
Perfusionsstörung im Dünndarm, die entweder hämolyse-bedingt ist oder mit der Vasoaktivität
des Methylenblau zu erklären ist. Nach Anwendung am Ende der Schwangerschaft zeigten
sich bei den Neugeborenen gehäuft Hämolyse mit neonataler Hyperbilirubinämie, Hautverfärbungen
sowie Atemnotsyndrome (Gauthier 2000, Übersicht in Cragan 1999).
Vor allem Indigokarmin, aber auch Evans-Blau sind in zahlreichen Fällen mit guter
Verträglichkeit zur Markierung bei Amniozentese verwendet worden. Indigokarmin ist
dem Serotonin ähnlich, daher ist eine indirekt vasoaktive Wirkung nicht auszuschließen.
Dennoch sind keine dem Methylenblau vergleichbaren Effekte bei über 150 dokumentierten
Schwangerschaften beobachtet worden (Cragan 1993). Über die Wirkung der anderen Stoffe
in der Schwangerschaft liegen keine ausreichenden Erfahrungen vor.
Empfehlung für die Praxis:
Bei Schwangeren sollte außer bei vitaler Indikation auf den Einsatz diagnostischer
Farbstoffe verzichtet werden. Die Anwendung von Methylenblau zur Markierung bei der
Amniozentese ist kontraindiziert. Eine versehentliche Applikation rechtfertigt dennoch
weder den risikobegründeten Abbruch der Schwangerschaft noch invasive Diagnostik (siehe
Kapitel 1.15).
2.20.10
Andere Diagnostika
Fluorescein (z.B. Pancreolauryl-Test® N) wird als Diagnostikum am Auge, oral und intravenös
(Angiographie) angewendet. Eine Fallsammlung mit über 100 Schwangeren, die mit Fluorescein
angiographiert worden waren, erbrachte keine eindeutigen Hinweise auf fetale Unverträglichkeiten
(Halperin 1990). Tierexperimente zeigten ebenfalls keine teratogenen Effekte. Die
Substanz wurde nach Applikation am Auge in der Amnionflüssigkeit einer Schwangeren
nachgewiesen.
Auch zur Retina-Angiographie und zur Messung des hepatischen Blutflusses mit Indocyaningrün
(mit Natriumiodid in ICG-Pulsion®) liegen keine Hinweise auf Unverträglichkeit für
das Ungeborene vor. Indocyaningrün konnte nicht im Nabelvenenblut nachgewiesen werden
(Fineman 2001). Der Natriumiodidanteil von 5% der Trockenmasse kann bei üblicher Dosierung
zu einer Iodiddosis von 700 μg/Tag führen, die bei der üblicherweise kurzfristigen
bzw. einmaligen Anwendung keine fetale Schilddrüsensuppression bewirken sollte.
Hauttests wie Tuberkulintest (z.B. Tuberculin GT®), Multitest (z.B. Multitest Immignost®)
oder Allergietests sind als unbedenklich zu betrachten.
Gleiches gilt für Enzymtests z.B. mit Secretin (Secrelux®).
Empfehlung für die Praxis:
Die genannten Diagnostika dürfen in der Schwangerschaft verwendet werden. Dies gilt
auch für Fluorescein, wenn dies dringend erforderlich ist.
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2.21
Genussmittel und Drogen
2.21.1
Alkohol
Erst vor etwa 35 Jahren wurde ein schon seit Jahrhunderten bekannter Zusammenhang
zwischen Alkohol in der Schwangerschaft und kindlicher Schädigung „wieder entdeckt”,
ein Zusammenhang, der schon in der Bibel erwähnt und während der großen Gin-Epidemie
1720–1750 in England vom englischen Maler W. Hoggarth 1740 in seinem berühmten Bild
„Gin-Lane” festgehalten wurde.
Im Gegensatz zu illegalen Drogen und zu Nikotin sind Alkohol und seine Abbauprodukte
ein sicher Fehlbildungen erzeugendes, teratoge-nes Gift. Alkoholismus in der Schwangerschaft
verursacht einen spezifischen Komplex angeborener organischer und funktioneller Entwicklungsstörungen.
Dieser Zusammenhang wurde von den beiden Amerikanern Jones und Smith in Seattle 1973
erstmals wissenschaftlich belegt und als fetales Alkoholsyndrom (FAS) bezeichnet.
Rasch wurde das Syndrom bei Kindern chronisch alkoholabhängiger Frauen weltweit diagnostiziert
und es gilt heute als eine der führenden Ursachen für eine angeborene psychomentale
Retardierung.
Pharmakologie und Toxikologie.
Alkohol wird rasch über die Mund- und Magenschleimhaut und vor allem im oberen Duodenum
zu 70–80% aufgenommen. Er erreicht 30–60 Minuten nach Aufnahme seine höchste Serumkonzentration.
Alkohol löst sich in allen Körperflüssigkeiten und verteilt sich in den verschiedenen
Organen nach ihrem jeweiligen Wassergehalt. Er passiert ungehindert die Plazenta und
erreicht im Gehirn infolge der hohen Permeabilität der Blut-Liquor-Schranke für Ethanol
gleiche Konzentrationen wie im Blut.
Ethanol hemmt die Ausschüttung der Hormone Oxytozin und Vaso-pressin aus dem Hypophysenhinterlappen.
Bei gesteigerter Wehentätigkeit führt Ethanol in hoher Dosis (> 2‰) sowohl nach intravenöser
als auch nach oraler Gabe bei zwei Drittel der Schwangeren zur Wehenhemmung.
Die pränatale Schädigung durch chronischen Alkoholkonsum beruht auf der direkten teratogenen
Wirkung von Ethanol und seines Abbauproduktes Acetaldehyd auf den Fetus. Das FAS und
seine Varianten treten nur bei chronischer mütterlicher Alkoholkrankheit auf, wobei
eine Korrelation zwischen FAS-Risiko und Fortschreiten der mütterlichen Alkohol-Krankheit
besteht (Majewski 1978). Der eigentliche Schädigungsmechanismus ist auch heute trotz
intensiver klinischer und tierexperimenteller Forschung noch nicht bekannt.
Die in einigen Tierversuchen beobachteten entwicklungstoxischen Auswirkungen paternaler
Alkoholexposition ließen sich beim Men-schenbisher nicht belegen (Passar 1998). Beeinträchtigungen
der männlichen Fertilität durch den Alkoholabusus sind allerdings erwiesen.
„Sozialer” Alkoholkonsum und „binge-drinking”.
Mögliche neurologische Folgen für das Kind durch regelmäßigen Konsum von 2–3 Drinks
pro Tag während der Schwangerschaft lassen sich nur schwer dokumentieren. Eine Metaanalyse
bei 24.000 Schwangerschaften zum Risiko von Fehlbildungen erbrachte bei Frauen mit
2–14 Drinks pro Woche kein erhöhtes Fehlbildungrisiko (Polygenis 1998). In der multizentrischen
EUROMAC-Studie („European Maternal alcohol consumption study”; EUROMAC 1992) wurden
bei ca. 6.000 Frauen der Alkoholkonsum während der Schwangerschaft ermittelt und die
neugeborenen Kinder kinderärztlich untersucht. Es fand sich bei durchschnittlich 120
g Alkoholkonsum pro Woche – das entspricht etwa einem Glas Wein pro Tag – im Vergleich
zu den abstinenten Schwangeren ein signifikanter Unterschied in der Körperlänge. Weitere
Auffälligkeiten im Verhalten und bei den kognitiven Leistungen konnten jedoch mit
Hilfe der „Bailey Scales” nicht festgestellt werden. Andere Untersuchungen berichten
über bleibende kognitive Störungen und Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen,
wenn ihre nicht alkoholkranken Mütter während der Schwangerschaft regelmäßig geringe
Mengen an Alkohol (bis zu 7 Drinks pro Woche) konsumierten (Jacobson 1999). Streissguth
fand bleibende psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten in einer großen
prospektiven Kohortenstudie, in der sie die Kinder von 500 moderat trinkenden Frauen
und 500 abstinenten Frauen verglich und bis zum 14. Lebensjahr untersuchte. Auch nach
14 Jahren waren bei den Jugendlichen Auffälligkeiten wie antisoziales Verhalten, Schulprobleme
und Lernstörungen auf die pränatale Alkoholexposition zurückzuführen (Day 2002, Streissguth
et al., 1991, Streissguth et al., 1994, Olson 1997).
Das so genannte „binge-drinking” oder das „Saturday-night drin-king”, also das gelegentliche
heftige Trinken ist in der Schwangerschaft sicher gefährlicher für das Kind als das
regelmäßige soziale Trinken geringer Mengen. So wiesen Bailey und Mitarbeiter (2004)
nach, dass bei Alkohol trinkenden Schwangeren nicht nur die absolute Menge, sondern
auch das Trinkmuster für die Schädigung des ungeborenen Kindes ausschlaggebend ist.
In einer kontrollierten prospektiven Studie fand Nulman (2004) dosiskorrelierte Verhaltensstörungen
noch im Vorschulalter bei sonst kognitiv nicht beeinträchtigten Kindern, deren Mütter
während der Schwangerschaft „binge-drinking” praktizierten.
Fetal Alcohol Spectrum Disorder (FASD).
Unter dem Begriff Fetal Alcohol Spectrum Disorder (FASD) werden heute vor allem in
den USA alle Formen der kindlichen Schädigung durch den chronischen Alkoholabusus
während der Schwangerschaft zusammengefasst: Das klassische fetale Alkoholsyndrom
(FAS) als schwerste Ausprägung, die fetalen Alkohol-Effekte (FAE) ohne die typische
kraniofaziale Dysmorphie, die durch Alkohol bedingten funktionellen entwicklungsneurologischen
Störungen (Alcohol Related Neurodevelopmental Disorders,
ARND) und die als Alcohol Related Birth Defects (ARBD) bezeichneten Fehlbildungen.
Das fetale Schädigungsmuster hängt von der zeitlichen Intensität des mütterlichen
Alkoholkonsums in der Schwangerschaft ab. So führt ein intensiver Alkoholmissbrauch
in der Frühschwangerschaft eher zu den typischen kraniofazialen Dysmorphien und Organschädigungen,
während heftiges Trinken in der späteren fetalen Phase der Schwangerschaft zu einer
ausgeprägten neuronalen Schädigung des rasch wachsenden Gehirns mit der Folge psychomentaler
und kognitiver Störungen sowie ausgeprägter Veränderungen des Verhaltens (FAE) führt.
Schwere Alkoholikerinnen trinken in der Regel während der gesamten Schwangerschaft.
Die Häufigkeit des Auftretens eines klassischen fetalen Alkohol-Syn-droms bei einer
alkoholkranken Schwangeren liegt bei 10–30% (Abel 1999, Majewski 1978), die Inzidenz
eines FAS bei 1:1000 Geburten (Abel 1995). Diese Zahlen sind Schätzwerte und hängen
stark vom sozialen Umfeld des jeweils untersuchten Kollektivs ab. Die Diagnose FAS
wird bei Geburt selten und die Diagnose FAE in der Neugeborenzeit praktisch nie gestellt
(Little 1990). Die Häufigkeit der weniger ausgeprägten FAE-Kinder ist sicher deutlich
höher und liegt etwa bei 4–5:1000 Geburten (Schöneck 1992), dazu gibt es bisher keine
größeren Studien.
Das klinische Bild des fetalen Alkoholsyndroms (FAS).
Das Bild eines voll ausgeprägten FAS ist gekennzeichnet durch eine prä- und postnatale
Dystrophie, Mikrozephalie, mentale Retardierung und Minderwuchs. Dazu gehören: eine
typische kraniofaziale Dysmorphie mit schmalen Lidspalten (Blepharophimose), schmalem
Lippenrot, kurzem breiten Nasenrücken, langem unmodelliertem Philtrum und geringgradig
dys-morphen Ohren sowie verschiedene fakultative Organschädigungen, insbesondere Herzfehler,
Nierenfehlbildungen und Gaumenspalte sowie kleinere Hautveränderungen. Die Diagnose
kann prima vista gestellt werden.
Kinder mit FAE weisen nur geringe dysmorphe Störungen auf, außerdem können ein Mikrozephalus,
Minderwuchs, eine diskrete mentale Retardierung, Aufmerksamkeitsstörungen (ADHS) und
oft ausgeprägte psychische Verhaltensauffälligkeiten beobachtet werden. Die Diagnose
gelingt nur bei bekanntem mütterlichem Alkoholabusus.
Langzeituntersuchungen von Kindern mit FAS zeigen eine unerwartete Persistenz des
klinischen Bildes. So bildet sich zwar die kraniofa-ziale Dysmorphie langsam zurück,
aber Mikrozephalie, Minderwuchs, Aufmerksamkeitsstörungen und kognitive Defizite bleiben.
Die Schulleistungen verschlechterten sich trotz erheblicher Förderung der Kinder durch
ihre Pflegeeltern in einer 10-Jahres-„Follow-up”-Studie ebenso wie ihre soziale Integration.
Während der Pubertät verstärken sich in der Regel die Probleme der betroffenen Kinder,
so dass auch zu diesem Zeitpunkt noch an diese Diagnose zu denken ist (Streissguth
1996, Spohr et al., 1993, Spohr et al., 1994, Spohr et al., 1995, Steinhausen 1994).
Bis ins Erwachsenenalter reichen die Folgen der intrauterinen Alkoholschädigung mit
körperlichem Minderwuchs, mentalen Entwicklungproblemen und Anpassungsstörungen besonders
in der Arbeitswelt (Autti-Ramo 2005, Steinhausen et al., 1995, Streissguth et al.,
1991, Streissguth 1991). So konnten nur etwa 30 % aller in der Kindheit diagnostizierten
FAS/FAE-Patienten als Erwachsene selbstständig leben und nur 20 % einen Beruf ausüben.
Für die Prognose im Erwachsenenalter ergab die Diagnose FAE zum FAS keinen Unterschied;
die FAE-Patienten hatten die eher ungünstigere Prognose, da sie oft sehr spät diagnostiziert
wurden (Spohr 2005).
Auch aus diesem Grunde sollte man klinisch eher von einem FASD sprechen, da die Einteilung
in Patienten mit FAS oder mit FAE keine sichere Abgrenzung von schweren gegenüber
leichten klinischen Verläufen ermöglicht.
Empfehlungen für die Praxis:
Kein Alkohol während der Schwangerschaft! Da Alkohol ein erwiesenes Teratogen ist,
muss vor regelmäßigem und auch vor gelegentlichem, exzessivem Genuss gewarnt werden.
Chronischer Alkoholabusus während der Schwangerschaft führt zu einer lebenslangen
Schädigung des betroffenen Kindes. Die Alkoholkrankheit gehört zu den wenigen Situationen,
in denen ein risikobegründeter Schwangerschaftsabbruch mit der Patientin zu diskutieren
ist (siehe Kapitel 1.15).
Eine ehemals alkoholkranke Frau kann bei Abstinenz in einer erneuten Schwangerschaft
ein gesundes Kind zur Welt bringen. Eine alkoholkranke Frau kann auch durch Abstinenz
während der Schwangerschaft das ungeborene Kind weitgehend vor schwerem Schaden schützen.
Die Einnahme von alkoholhaltigen Stärkungsmitteln und alkoholischen Zubereitungen
von Medikamenten (bei Konzentrationen über 10%) ist zwar nicht mit einem Abusus vergleichbar,
sie sollte aber dennoch vermieden werden.
2.21.2
Coffein
Pharmakologie und Toxikologie.
Die Methylxanthinderivate Coffein und Theobromin besitzen eine stimulierende Wirkung
auf das Zentralnervensystem sowie auf Herz, Kreislaufund Atmung. Sie sind die pharma-kologisch
wirksamen Komponenten in einer Reihe von Getränken wie Kaffee, Tee, Kakao und Cola-Drinks.
Man rechnet mit 100 mg Coffein in einer Tasse Kaffee, 50 mg in einer Tasse Tee, in
Cola-Drinks ist es meist noch weniger. Espresso, Instantkaffee und andere Zubereitungen
können aber auch mehr als 100 mg enthalten. Coffein ist auch Bestandteil von Medikamenten,
z.B. Schmerzmitteln. Das Asthmamittel Theophyllin gehört ebenfalls zu den Methylxanthinen
(siehe Kapitel 2.3).
Diese Xanthinderivate werden als lipophile Substanzen gut aus dem Magen-Darm-Trakt
resorbiert, sie passieren die Plazenta und können bei stärkerem Coffeinkonsum eine
vermehrte Aktivität des Fetus mit Zunahme der Atembewegungen und Veränderungen seiner
Herzfrequenz einschließlich Arrhythmien hervorrufen. Nach bisheriger Erfahrung sind
jedoch keine negativen Folgen für das Neugeborene und die weitere Entwicklung im Kindesalter
zu erwarten (Castellanos 2002). Im Tierversuch führt Coffein in extrem hohen Dosen
(200 mg/kg/Tag) zu geringfügigen Entwicklungsstörungen an den Phalangen. In den USA
wurde daher 1980 mit Unterstützung der Gesundheitsbehörden, der Verbraucherverbände
und der Kaffee- und Cola-Produzenten untersucht, ob coffeinhaltige Getränke auch bei
Menschen Fehlbildungen hervorrufen können. Im Gegensatz zu den genannten Tierversuchen
nehmen Erwachsene durchschnittlich nicht mehr als 2–5 mg/kg/Tag an Coffein zu sich.
Ausführliche epidemiologische Studien in verschiedenen Ländern erbrachten keine Hinweise
auf embryotoxische Effekte unter diesen Bedingungen (Christian 2001). Eine neue prospektive
dänische Untersuchung fand eine leicht erhöhte Totgeburtenrate, wenn die Schwangere
mehr als 8 Tassen Kaffee getrunken hatte (Wisborg 2003). Zahlreiche Publikationen
befassen sich mit einer möglicherweise erhöhten Abortrate und intrauteriner Wachstumsretardierung
bei Coffeingenuss (Signorello 2004, Leviton 2002). Eine Metaanalyse unter Einbeziehung
von rund 50.000 Schwangeren ergab Hinweise auf eine leicht erhöhte Rate an Spontanaborten
und wachstumsretardierten Kindern (IUGR), wenn die Mutter mehr als 150 mg Coffein
pro Tag zu sich nahm (Fernandes 1998). Bis heute sind derartige Auswirkungen bei durchschnittlichem
Konsum nicht eindeutig allein dem Kaffee zuzuschreiben und von anderen Einflüssen
wie z.B. Rauchen und Alkohol zu trennen. In einer Untersuchung wurde nur bei männlichen
Neugeborenen eine Reduktion des Geburtsgewichts beobachtet (Vik 2003). Der insgesamt
schwache Zusammenhang zwischen Kaffeekonsum und Fehlgeburten wurde auch damit begründet,
dass Schwangerschaftsübelkeit ohnehin mit einem geringeren Fehlgeburtsrisko assoziiert
ist und gleichzeitig das Kaffeetrinken verleidet.
Barr und Mitarbeiter (1991) konnten bei den Kindern von 500 Schwangeren keinen Effekt
auf somatische Entwicklungsparameter und IQ bis zum Alter von 7,5 Jahren finden. Eine
Beeinträchtigung der weiblichen Fertilität durch regelmäßigen Genuss größerer Mengen
von Coffein wurde ebenfalls diskutiert.
Empfehlung für die Praxis:
Gegen den Konsum üblicher Coffeinmengen, also drei Tassen Kaffee normaler Stärke mit
bis zu je 100 mg Coffein oder äquivalente Mengen von Tee oder anderen coffeinhaltigen
Getränken, bestehen auch in der Schwangerschaft keine Bedenken. Wurden erheblich größere
Mengen getrunken, erfordert dies keine zusätzliche Diagnostik. Im weiteren Schwangerschaftsverlauf
sollte der Konsum jedoch reduziert werden.
2.21.3
Tabak und Rauchen
Pharmakologie und Toxikologie.
Tabakrauch ist ein Gemisch verschiedener Gase (hauptsächlich Kohlenmonoxid) und einer
tröpfchen- und partikelhaltigen Phase, deren Hauptbestandteile Wasser, Nikotin und
der so genannte Tabakteer (Gesamtheit der restlichen Bestandteile) sind. Nikotin ist
das Hauptgenussgift des Tabaks. Eine 1 g schwere Zigarette enthält etwa 10 mg Nikotin,
von denen etwa 10–15% (1-1,5 mg) im Rauch erscheinen. Nikotin wird über die Schleimhäute
der Mundhöhle, der Atemwege und des Magen-Darm-Traktes resorbiert. Im Mundraum werden
nur 25–50% aufgenommen, bei tiefem Inhalieren in der Lunge 90%. Nikotin hat eine Halbwertszeit
von 2 Stunden, 90 % des aufgenommenen Nikotins werden in der Leber zu Hydroxynikotin
und Cotinin (Halbwertszeit 20 Stunden) metaboli-siert. Nikotin passiert die Plazenta
ungehindert und lässt die fetale Herzfrequenz ansteigen. Außer dem Schwermetall Cadmium
wurden das Organochlorpestizid Hexachlorbenzol (HCB) und polychlorierte Biphenyle
(PCB) im Serum der Neugeborenen vor der ersten oralen Nahrungsaufnahme nachgewiesen
(Lackmann 2000). Statistisch signifikant waren die jeweiligen Konzentrationsunterschiede
zwischen Kindern von aktiven und passiven Raucherinnen sowie von Frauen aus Nichtraucherhaushalten.
Fehlbildungen.
Rauchen ist embryo- und fetotoxisch, birgt aber offenbar kein erhebliches Fehlbildungsrisiko.
Allerdings wird von zahlreichen Autoren ein Zusammenhang zwischen Rauchen während
der Frühschwangerschaft und Lippen- und Gaumenspalten diskutiert (Little 2004 A &
B, Zeiger 2004, Chung 2000, Romitti 1999), insbesondere bei gleichzeitigem Vorliegen
eines Transforming-Growth-Factor-ct(TGF-ct)-Polymorphismus als Beispiel für das Zusammenspiel
von genetischen und Umweltfaktoren bei der Teratogenese. In einer Metaanalyse von
24 internationalen Publikationen lieβ sich nachweisen, dass mütterliches Rauchen in
der Schwangerschaft mit einem erhöhten Risiko für nicht-syndromale orofaziale Spalten
verbunden ist, wobei der Effekt konstanter und deutlicher bei Lippenspalten mit und
ohne Gaumenbeteiligung war als bei isolierten Gaumenspalten (Deacon 2005). Das Risiko
für Kinder von Raucherinnen mit genetischer Disposition (siehe oben) wird mit maximal
1:183 angegeben gegenüber einer Prävalenz in der Gesamtbevölkerung von etwa 1:500
(Chung 2000). In anderen Untersuchungen werden leicht erhöhte Risiken für Kraniosynostose
(Honein 2000, Källén 1999), Gastroschisis (Martinez-Frias 1997), Harnwegsanomalien
(Li 1996), Herzfehlbildungen (Wasserman 1996), Extremitätendefekten (Källén 1997,
Wasserman 1996) und Klumpfuβ (Skelly 2002) erörtert, die bislang aber nicht als eindeutig
erwiesen gelten.
Schwangerschaftskomplikationen.
▪
Rauchen erhöht das Spontanabortrisiko offenbar nur gering, wenn man andere Risikofaktoren
wie Alkoholkonsum, Schwangerschaftsanamnese, Sozialstatus und chromosomalen Status
berücksichtigt.
▪
Eine Placenta praevia kommt bei Raucherinnen häufiger vor, selten wird auch eine Placentaabruptio
dem mütterlichen Rauchen zugeschrieben. Das Risiko steigt mit der Zigarettenzahl und
der Dauer des Rauchens. Die abruptiobedingte perinatale Mortalität ist unter den Kindern
von Raucherinnen 2- bis 3-mal höher als bei Nichtraucherinnen. 10 % der Gesamtzahl
dieser beiden Plazentastörungen sind durch Rauchen bedingt, der Mechanismus ist nicht
eindeutig geklärt.
▪
Rauchen verringert das Geburtsgewicht um durchschnittlich 200 g. Dieser Effekt ist
abhängig von der Zahl täglich gerauchter Zigaretten. Unter Raucherinnen ist die Rate
von Kindern mit zu geringem Geburtsgewicht (< 2.500 g) verdoppelt. Dieses Risiko ist
höher unter Erstgebärenden und älteren Raucherinnen. Bei 20% aller untergewichtigen
Kinder ist das niedrige Geburtsgewicht Folge des Rauchens. Bezieht man das Geburtsgewicht
auf die Schwangerschaftswoche und betrachtet den Anteil intrauterin wachstumsretardierter
Kinder (IUGR), ist dieser bei Raucherinnen 2,5fach erhöht. Für Erstgebärende und ältere
Frauen ist das Risiko wiederum am höchsten. 30 % aller IUGR-Kinder sind Kinder von
Raucherinnen. Frauen, die in der Frühschwangerschaft das Rauchen aufgeben, können
Kinder mit normalem Geburtsgewicht erwarten (Übersicht in Werler 1997).
▪
Frühgeburtlichkeit (< 37 Wochen) ist bei Raucherinnen im Durchschnitt auch dann noch
30% häufiger, wenn die o.g. Plazentations-störungen unberücksichtigt bleiben, dabei
ist das Ausmaβ des Zigarettenkonsums maßgeblich. Frauen, die 20 Zigaretten täglich
rauchen, haben ein doppeltes Risiko, einen Blasensprung vor der 33. Woche zu erleiden.
Etwa 5 % aller Frühgeburten sind Folge des Rauchens. Eine Untersuchung zu Auswirkungen
des Passivrauchens in der Schwangerschaft findet bei Nichtraucherinnen dann ein signifikant
erhöhtes Frühgeburtsrisiko, wenn sie mindestens 7 Stunden täglich Rauch ausgesetzt
waren (Hanke 1999). Experimentelle Untersuchungsergebnisse unterstützen die Hypothese,
dass Passivrauchen zu histologischen und grobstrukturellen fetotoxischen Schäden führen
kann (Nelson 1999 A & B).
▪
Die perinatale Mortalität (Fruchttod nach der 20. Woche und Kindstod bis 28 Tage nach
der Geburt) ist bei Raucherinnen - bedingt durch das niedrige Geburtsgewicht, durch
Frühgeburtlichkeit und Plazentationsstörungen um 30% erhöht. Wird das Geburtsgewicht
nach Schwangerschaftswochen und dem jeweiligen Durchschnittsgewicht standardisiert,
haben bei entsprechendem Geburtsgewicht Kinder von Raucherinnen ein höheres Risiko
gegenüber Kindern von Nichtraucherinnen. 10 % aller Fälle von perinataler Mortalität
sind als Folge des Rauchens anzusehen. Im Vergleich hierzu findet man bei Kindern
von Müttern, die in großer Höhe leben, also ebenfalls unter Bedingungen mit verringertem
Sauerstoffangebot, keine erhöhte perinatale Mortalität.
▪
In Gebieten mit marginalem Iodmangel, dazu zählt u.a. auch die Bundesrepublik Deutschland,
kann Rauchen beim Fetus bzw. Neugeborenen eine Schilddrüsenvergrößerung hervorrufen
(Chanoine 1991).
Erkrankungen im Kindesalter.
▪
Morbidität und Mortalität in der Kindheit sind im Zusammenhang mit Rauchen schwierig
zu beurteilen, weil fast immer sowohl eine pränatale als auch eine postnatale Exposition
besteht. Soweit bekannt, scheint Rauchen in der Schwangerschaft keine langfristigen
Auswirkungen auf das postnatale Wachstum zu haben. Eine Untersuchung an Neugeborenen,
die noch nicht direkt Rauch exponiert waren, hat gezeigt, dass Kinder von Raucherinnen
häufiger Einschränkungen respiratorischer Funktionen aufwiesen. Ein kombinierter Effekt
von prä- und postnataler Exposition auf die Entstehung von Nahrungsmittelallergien
in den ersten 3 Lebensjahren wurde von einer Untersuchergruppe beobachtet (Kulig 1999).
Eine weitere Publikation betont den prädiktiven Wert der Konzentration des Metaboliten
Cotinin im Mekonium für das Risiko frühkindlicher Atemwegsinfektionen (Nuesslein 1999).
▪
In einer prospektiven „Follow-up”-Studie konnte noch im Alter von 8 Jahren ein erhöhtes
Risiko für Übergewicht nachgewiesen werden (Chen 2005). Eine vermehrte Infektneigung,
besonders von Otitiden unter den Kleinkindern rauchender Mütter ist inzwischen allgemein
akzeptiert. Auch Koliken kommen häufiger vor (Shenassa 2004). Im Vergleich zu nicht
rauchenden Müttern führt Tabakkonsum während der Schwangerschaft zu einem 2fach höherem
Risiko, dass die Kinder an SIDS (Sudden Infants Death Syndrome) sterben (Anderson
2005, Alm 1998).
▪
Eine kanzerogene Wirkung mütterlichen Rauchens auf das Kind ist verschiedentlich untersucht
worden. Die Ergebnisse bestätigen kein hohes Risiko. Es gibt jedoch Hinweise auf einen
Zusammenhang mit kindlichen Hirntumoren, Leukämien und Lymphomen. Einige Studien beschreiben
hierzu relative Risiken von mindestens 1,5–2 (Übersicht in Sasco 1999). Andere Untersuchungen
finden keine Hinweise auf transplazentare Karzinogenese (Brondum 1999). In einer schwedischen
prospektiven Studie, die insgesamt 1,4 Millionen Geburten einschloss, wurde der Zusammenhang
von mütterlichem Rauchen in der Schwangerschaft und kindlichem Risiko für Hirntumoren
untersucht. Die Autoren fanden bei den Raucherinnen einen signifikanten Anstieg der
Häufigkeit von Hirntumoren, jedoch keinen Unterschied zwischen benignen und malignen
Tumoren. Besonders betroffen waren 2–4-jährige Kinder. Die Autoren interpretieren
eine mögliche Kausalität sehr vorsichtig (Brooks 2004).
▪
Bei Neugeborenen rauchender Mütter lassen sich Metaboliten des tabakspezifischen Kanzerogens
4-(Methylnitrosamino)-1-(3-Pyridyl)-1-Butanon (NNK) nachweisen. Die mittlere Konzentration
im Urin betrug etwa 10% des bei erwachsenen Aktivrauchern gemessenen Wertes, und es
bestand eine positive Korrelation mit der Anzahl gerauchter Zigaretten und der Nikotin-
und Cotininkonzentration im Urin. Außerdem wurden in den T-Lymphozyten der Kinder
Mutationen im HPRT-Gen beobachtet, die für kindliche Leukämien und Lym-phome charakteristisch
sind (Lackmann 1999).
Kognitive Entwicklung.
▪
Aussagen zur Wirkung des Rauchens der Mutter auf die kognitive und Verhaltensentwicklung
ihres Kindes sind nicht abschließend zu beurteilen, obwohl immer wieder Beeinträchtigungen
erörtert werden. Täglich 10 und mehr Zigaretten in der Schwangerschaft sollen zu einer
Verdopplung des Risikos führen, dass die Kinder im Alter von 8 Monaten noch nicht
„lautmalen” können (Obel 1998). Fergusson und Mitarbeiter (1998) haben in einer Langzeitstudie
über 15 Jahre bei 1.265 neuseeländischen Kindern einen Zusammenhang zwischen Rauchen
während der Schwangerschaft und kindlichen Verhaltensproblemen nachgewiesen, ein Befund,
der durch das Stillen von Raucherinnen nicht verursacht zu werden schien. Zu ähnlichen
Ergebnissen kommt Cornelius (2001), der bei pränataler Tabakexposition unter prospektiv
untersuchten Jugendlichen Defizite im verbalen Lernen, im Gedächtnis und der Augen-Hand-Koordination
fand.
▪
Eine Störung der kognitiven Entwicklung des Kindes nach mütterlichem Tabakkonsum während
der Schwangerschaft konnte Breslau (2005) an einer großen Kohorte belegen, wobei sich
der IQ von Nikotin exponierten Kindern und der Kontrollgruppe nicht generell unterschied.
Dagegen hatten Kinder mit niedrigem Geburtsgewicht einen geringeren IQ gegenüber normal
gewichtigen Kontrollen. Die kognitive Störung war demnach ausschließlich auf das nikotininduzierte
niedrigere Geburtsgewicht der Kinder zurückzuführen.
▪
In einer kürzlich publizierten Fall-Kontroll-Studie wurde eine 3fach höhere Wahrscheinlichkeit
für ein kindliches hyperkinetisches Syn-drom (HKS) festgestellt, wenn die Mutter in
der Schwangerschaft rauchte (Linnet 2005). Dieses Ergebnis wurde nicht durch andere
Faktoren beeinflusst, wie Auffälligkeiten in der Neugeborenenperi-ode, elterlichem
sozioökonomischem Status oder einer psychiatrischen Familienanamnese.
Empfehlung für die Praxis:
Da der Fetus während aller Phasen der pränata-len Entwicklung durch Rauchen gefährdet
ist, muss für die gesamte Schwangerschaft vom Rauchen abgeraten werden. Die oft geäußerte
Empfehlung, sich auf maximal 5 Zigaretten pro Tag zu beschränken, ist wissenschaftlich
nicht zu begründen und allenfalls als ein Kompromiss bei starken Raucherinnen anzusehen,
denen eine Abstinenz nicht gelingt. Auch Passivrauchen soll möglichst vermieden werden.
2.21.4
Drogen (außer Alkohol) allgemein
Zu den wichtigsten Drogen gehören Halluzinogene, wie Marihuana bzw. Haschisch, LSD,
Phencyclidin, Mescalin und Psilocybin, Stimulanzien, wie Kokain und Amphetamine und
Opiate, also Heroin, Opium, Morphium und Codein. Die Schnüffelstoffe bilden eine eigene
Gruppe.
Bei den „harten Drogen” Heroin und Kokain ist zu bedenken, dass gesundheitliche Auswirkungen
auf das Ungeborene häufig durch eine Polytoxikomanie (Alkohol und Nikotin eingeschlossen)
verstärkt werden. Im sozial vernachlässigten Umfeld können Mangelernährung, Infektionen
und Traumatisierungen zusätzlich teratogen wirken. Daher sind bei drogenabhängigen
Schwangeren Aborte, Frühgeburt, intraute-rine Wachstumsverzögerung und Fruchttod meistens
nicht einer einzelnen Substanz anzulasten. Beim Neugeborenen lassen sich Drogen nicht
nur im Urin, sondern ebenso zuverlässig im Mekonium mit radioimmunologischen Verfahren
nachweisen.
2.21.5
Amphetamine
Pharmakologie und Toxikologie.
Aufgrund ihres vasokonstriktorischen Effekts bei hoher Dosis können Amphetaminabkömmlinge,
z.B. in Speed und Ecstasy, ähnlich wie Kokain, zur Minderdurchblutung im Bereich der
fetoplazentaren Einheit oder in einzelnen, sich gerade differenzierenden Organen des
Fetus führen. Als Droge wird vorwiegend das (ZNS und Herz) stärker stimulierende Derivat
Methylamphetamin benutzt, bekannt als Speed, Ice, Crank und Crystal. Im Tierversuch
verursacht es Gaumenspalten, Exenzephalie und Augendefekte bei Mäusen, Schädelanomalien
bei Kaninchen sowie Augenfehlbildungen und Verhaltensanomalien bei Ratten. Ältere
Studien aus den 60er bis 80er Jahren mit etwa 400 Schwangeren erbrachten keine Hinweise
darauf, dass beim Menschen sporadischer Konsum von amphetaminhalti-gen Drogen bei
sonst intakten Lebensverhältnissen zur Häufung angeborener grobstruktureller Fehlbildungen
führt, obwohl einzelne Fallberichte Fehlbildungen beschreiben (Übersicht in Golub
2005). In einer englischen Fallserie mit 136 prospektiv erfassten Ecstasy exponierten
Schwangeren wurden 12 Kinder mit Entwicklungsanomalien bei insgesamt 78 Lebendgeborenen
beschrieben. Es handelt sich dabei jedoch z. T. um kleine Anomalien (z. B. Fußdeformitäten),
ein typisches Muster war nicht zu erkennen. Knapp die Hälfte der Mütter hatte zusätzlich
Alkohol oder andere Drogen in nicht näher bezeichneter Menge zu sich genommen (McElhatton
1999). In einer weiteren Untersuchung an 228 Schwangeren wurde eine doppelt so hohe
Rate kleiner Entwicklungsanomalien im Vergleich zu einer nicht exponierten Kontrollgruppe
beobachtet. Hier zeigten sich in der Neugeborenenzeit gehäuft neurologische Auffälligkeiten
einschließlich Störungen des Muskeltonus und Übererregbarkeit. Die Spontanabortrate
war nicht erhöht, aber es ereigneten sich drei Totgeburten in der exponierten Gruppe
(Felix 2000). Auch in dieser Untersuchung wurden neben Rauchen und Alkohol z. T. noch
andere Drogen genommen. Niedrigeres Geburtsgewicht und Entzugserscheinungen wurden
auch von weiteren Untersuchern beschrieben (Smith 2003).
Unter 65 bis zum 14. Lebensjahr nachuntersuchten Kindern wurden signifikant häufiger
Lernschwierigkeiten in der Schule beobachtet. Allerdings betrieb ein Großteil der
Mütter während der Schwangerschaft nicht nur Amphetaminabusus, sondern konsumierte
zusätzlich Opiate und Alkohol, rauchte mehr als 10 Zigaretten täglich und befand sich
in einer problematischen psychosozialen Lage. Nur 22% der Kinder lebten mit 14 Jahren
noch bei ihren Müttern (Cernerud 1996).
Empfehlung für die Praxis:
Schwangere sollen Amphetamine unter allen Umständen meiden. Eine dennoch erfolgte
Exposition rechtfertigt keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel
1.15). Nach ausgeprägtem Konsum im 1. Trimenon sollte die normale Entwicklung des
Fetus per Ultraschallfeindiagnostik bestätigt werden.
2.21.6
Cannabis
Pharmakologie und Toxikologie.
Marihuana, die Blätter der Cannabis-pflanze (indischer Hanf) mit dem harzartigen Extrakt
Haschisch gehört außer Alkohol, Nikotin und Ecstasy zu den häufig in der Schwangerschaft
konsumierten Drogen. Beim Rauchen sollen im Vergleich zu Tabak eine 5fach höhere Kohlenmonoxidkonzentration
und ein 3fach höherer Teergehalt im Blut erreicht werden. Delta-9-Tetrahy-drocannabinol
(THC), der wichtigste von mehreren 100 Wirkstoffen des Marihuanas, passiert die Plazenta
und kann zur Abnahme der kindlichen Herzfrequenz führen. Die Fehlbildungsrate ist
nach Genuss von Marihuana in der Schwangerschaft nicht höher; aber ein regelmäßiger
Konsum erhöht möglicherweise die perinatale Sterblichkeit. Eine Metaanalyse ergab
keine schlüssigen Hinweise auf eine Erniedrigung des Geburtsgewichts, zumindest bei
moderatem, nur gelegentlichem Cannabisgenuss (English 1997). Wie bei anderen Drogen
sind embryotoxische Effekte hier häufig nicht von zusätzlichen Einwirkungen wie z.B.
Zigarettenrauchen zu unterscheiden. Es gibt bisher auch keine Hinweise, dass die in
früheren tierexperimentellen Untersuchungen Marihuana zugeordneten Chromosomenbrüche
klinische Relevanz besitzen.
Neugeborene können Entzugserscheinungen mit Zittrigkeit und Unruhe zeigen. Die Daten
zur weiteren Entwicklung im Kindesalter sind uneinheitlich. Eine Langzeitstudie fand
bei Kindern, deren Mütter während der Schwangerschaft regelmäßig, d.h. mehrfach pro
Woche bis täglich Marihuana konsumiert hatten, im Alter von 4 Jahren eine signifikant
beeinträchtigte Sprach- und Gedächtnisleistung (Fried 1990) sowie einen signifikant
kleineren Kopfumfang auch bei älteren Kindern, obwohl die Geburtsmaße nicht auffällig
waren (Fried 1999). Insgesamt werden die Abweichungen der kognitiven Entwicklung dieser
Kohorte als subtil beschrieben (Fried 2001 A) und keine Auswirkungen auf das spätere
Wachstum und die Pubertätsentwicklung gesehen (Fried 2001 B). Eine andere Langzeitstudie
hat die Entwicklung von 606 Kindern, deren Mütter während der Schwangerschaft Alkohol
oder Cannabis konsumiert hatten, im Alter von 10 Jahren anhand verschiedener Tests
und der Beurteilung durch die Lehrer bewertet. Hatte die Mutter im 1. oder 2. Trimenon
täglich Marihuana geraucht, fanden sich häufiger Einschränkungen bei den kognitiven
Leistungen (Goldschmidt 2004). Auch diese Autoren bezeichnen die Ergebnisse insgesamt
als subtil und bewerten die Übertragbarkeit auf andere Cannabis exponierte Schwangere
zurückhaltend.
Empfehlung für die Praxis:
Schwangere sollen Marihuana unter allen Umständen meiden. Dennoch erfolgter Konsum
rechtfertigt keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel 1.15).
Sporadischer Genuss begründet auch keine zusätzliche Diagnostik.
2.21.7
Kokain
Pharmakologie.
Kokain (Koks, Schnee) ist das Alkaloid Benzoylekgo-ninmethylester des Coca-Strauches
(Erythroxylon coca), der hauptsächlich in den Anden wächst. Die Blätter enthalten
etwa 1 % Kokain. In Europa ist die stimulierende Droge seit Mitte des 19. Jahrhunderts
bekannt. 1884 wurde Kokain als Anästhetikum eingeführt. Es ist den Lokalanästhetika
chemisch verwandt und hat sich nur zur äußerlichen Anwendung in der Augen- und HNO-Heilkunde
durchgesetzt. Crack ist die freie Base (free base) des Kokains und kann geraucht werden.
Kokain blockiert die Wiederaufnahme von Noradrenalin und Dop-amin an der Synapse und
erhöht auf diese Weise die Katecholaminkon-zentration. Dies führt zu einem sympathikomimetischen
und zentral stimulierenden Effekt.
Bei oraler Aufnahme wird Kokain wegen seiner vasokonstriktori-schen Wirkung und der
hydrolytischen Spaltung im Magen nur langsam resorbiert. In der Leber wird es innerhalb
von 2 Stunden zum unwirksamen Hauptmetaboliten Benzoylekgonin metabolisiert. Etwa
20 % werden unverändert über die Niere ausgeschieden. Die Resorption erfolgt intranasal
innerhalb von 20 Minuten (Verzögerung durch Vasokon-striktion). Intravenöse Applikation
oder Rauchen von Crack führen innerhalb weniger Minuten zum Wirkungseintritt.
Kokain findet sich in relativ hoher Konzentration in der Amnionflüs-sigkeit und die
Konzentration fällt aufgrund der geringen Clearance nur langsam ab. Daher kann der
Fetus auch über seine bis zur Schwangerschaftswoche 24 gut durchlässige Haut aus der
Amnionflüssigkeit Kokain aufnehmen (Woods 1998).
Toxikologie.
In den USA wurde bei 4 bis 20 % aller Schwangeren ein Kokainkonsum ermittelt (Fantel
1990). Bis Anfang der 80er Jahre hielt man Kokain für eine pränatal nicht toxische
Droge. Dann wurden zahlreiche Entwicklungsstörungen dem wiederholten Kokain- oder
„ Crack-genuss” in der Schwangerschaft angelastet. Sporadischer Gebrauch in der Frühschwangerschaft
bei intakten Lebensverhältnissen und ohne weitere schädigende Faktoren wie Alkohol,
andere Drogen, Infektionen, Mangelernährung und Traumata scheint nach den bisher vorliegenden
Erfahrungen das Fehlbildungsrisiko nicht nennenswert zu erhöhen.
Erwiesene Folgen des ausgeprägten Abusus sind eine erhöhte Abortrate, Frühgeburten,
Totgeburten, intrauterine Wachstumsverzögerung und Mikrozephalie. Außerdem wurde über
zerebrale Infarkte, nekroti-sierende Enterokolitis beim Neugeborenen, Fehlbildungen
von Urogenital- und Skelettsystem sowie über intestinale Atresien und Infarkte berichtet
(Eyler 1998 A, Hoyme 1990, Schaefer 1990, Mercado 1989, Chasnoff 1988). Das weite
Spektrum der morphologischen Veränderungen kann durch eine Vasokonstriktion mit Minderdurchblutung
der Plazenta und in fetalen Organen erklärt werden. Während der gesamten Schwangerschaft
kann es infolgedessen zu (fokalen) Differenzierungsund Wachstumsstörungen kommen.
Trotz der Vielzahl publizierter Einzelschädigungen exponierter Kinder von Kokain abhängigen
Müttern lieβ sich bis heute kein typisches Kokain-Syndrom definieren, wie z.B. das
„Coke-Baby” mit charakteristischen persistierenden morphologischen und psychomentalen
Folgen (Little 1996).
Kokain und „Crack” rufen bei Schwangeren stärkere Herz-Kreislaufund neurologische
Wirkungen hervor als bei Nichtschwangeren. Es wird diskutiert, ob die Schädigung des
Embryos nach Minderperfusion eine direkte Folge des Sauerstoffmangels ist oder eher
durch hochreaktive, toxische Sauerstoffradikale nach Reperfusion des ischämischen
Gewebes verursacht wird, denn im 1. Trimenon verfügt die feto-plazentare Einheit noch
nicht über genügend schützende Antioxidan-tien.
Postnale Entwicklung.
Die akuten Symptome beim Neugeborenen sind weniger ausgeprägt als nach einem Heroinentzug:
Schlafstörungen, Tremor, Trinkschwäche, Erbrechen, schrilles Schreien, Niesen, Tachyp-noe,
weiche Stühle und Fieber. Darüber hinaus wurden in verschiedenen Studien Auffälligkeiten
in neurologischen Tests bei Neugeborenen sowie spätere Verhaltensabweichungen, Entwicklungsstörungen,
EEG-Veränderungen und vereinzelt plötzlicher Säuglingstod beobachtet (Eyler 1998 B).
Die Auffälligkeiten in der Neonatalzeit sind in der Regel nach einem Jahr nicht mehr
nachweisbar. Zwar finden sich in sorgfältigen prospek-tiven Studien diskrete physiologische
und entwicklungsneurologische Effekte, ihr Ausmaβ auf die kindliche Entwicklung ist
jedoch nicht ausreichend zu bewerten (Schiller 2005). Bandstra et al., 2002, Bandstra
et al., 2004) fanden in einer prospektiven Longitudinalstudie an 200 Kindern bis zum
7. Lebensjahr, dass auch schwere Kokain-Exposition während der Schwangerschaft nicht
eindeutig als unabhängiger Risikofaktor für die mentale und psychomotorische Entwicklung
sowie für die Entwicklung des Verhaltens der Kinder nachzuweisen war. Zu einem ähnlichen
Ergebnis kommen Beeghly und Mitarbeiter (2006) in einer Untersuchung zur Sprachentwicklung
im Alter von 6 und 9,5 Jahren. Eine Literaturanalyse der von 1994–2000 publizierten
Arbeiten ermittelt in 37 prospektiven Studien zu Kindern bis zum 6. Lebensjahr keinen
überzeugenden Beweis dafür, dass pränatale Kokainexposition mit einer entwicklungsschädigenden
Störung assoziiert ist. Viele der Symptome, die für kokainspezifisch gehalten wurden,
waren eher mit anderen pränatalen Faktoren korreliert, wie Tabak, Marihuana, Alkohol
und der Qualität der kindlichen Lebensbedingungen (Frank 2001). Richardson (1996)
und Messinger (2004) stellten fest, dass Frauen, die während der Schwangerschaft Kokain
einnahmen, eher an Stress und Ernährungsstörungen litten, öfter alleinstehend waren
und dazu neigten, zusätzlich Marihuana, Tabak, Alkohol und Tabletten zu konsumieren.
Zusammengefasst muss man davon ausgehen, dass Kokainkonsum eine Hochrisikoschwangerschaft
bedingt. Die beim Kind beobachteten mentalen und motorischen Defizite sind nicht nur
direkte Folge dieser „chemischen” Exposition sondern assoziiert mit den anderen o.g.
Risikofaktoren und dem häufig resultierenden niedrigen Geburtsgewicht.
Empfehlung für die Praxis:
Da Kokain potenziell entwicklungstoxisch ist, darf es während der gesamten Schwangerschaft
nicht konsumiert werden. Kokainkonsum rechtfertigt keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch
(siehe Kapitel 1.15). Bei wiederholter Anwendung, vor allem unter problematischen
Lebensbedingungen, sollte durch eine Ultraschallfeindiagnostik die normale Entwicklung
des Fetus überprüft werden.
2.21.8
LSD
Pharmakologie und Toxikologie.
In älteren Arbeiten wurde der Verdacht geäußert, das Halluzinogen LSD (Lysergsäurediethylamid)
könne Fehlbildungen an Augen, Gehirn und Skelett verursachen (Übersicht in Schardein
2000). Auch über Chromosomenbrüche wurde berichtet. Die im Wesentlichen in Einzelfallberichten
beschriebenen klinischen Auffälligkeiten können nicht als erwiesen angesehen werden.
Allerdings sind die vorliegenden Daten für eine differenzierte Risikobewertung unzureichend.
Empfehlung für die Praxis:
Schwangere sollen LSD unter allen Umständen meiden. Ein dennoch erfolgter Konsum rechtfertigt
keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel 1.15). Bei wiederholter
Exposition im 1. Trimenon sollte eine Ultraschallfeindiagnostik die normale Entwicklung
des Fetus bestätigen.
2.21.9
Mescalin
Pharmakologie und Toxikologie.
Mescalin ist ein Halluzinogen aus mexikanischen Kakteen. Tierexperimentelle Ergebnisse
zur Teratogenese sind widersprüchlich; zur pränatalen Toxizität beim Menschen gibt
es keine Erfahrungen. Chromosomenanomalien konnten in einer Untersuchung ausgeschlossen
werden.
Empfehlung für die Praxis:
Schwangere sollen Mescalin unter allen Umständen meiden. Ein dennoch erfolgter Konsum
rechtfertigt keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel 1.15).
Nach wiederholter Exposition im 1. Trimenon sollte eine Ultraschallfeindiagnostik
die normale Entwicklung des Fetus bestätigen.
2.21.10
Opiate
Pharmakologie und Toxikologie.
Die Abhängigkeit von Opiaten einschließlich Heroin ist auch unter Schwangeren nicht
selten. Im Gegensatz zu Alkohol und Kokain haben Heroin und andere Opiate offenbar
kein teratogenes Potenzial. Die häufig beobachtete Untergewichtigkeit der Neugeborenen
kann - zusammen mit Frühgeburt, vorzeitigem Blasensprung und der für Opiate charakteristischen
Atemdepression - zu einer erhöhten perinatalen Sterblichkeit führen. Die Begleitumstände
während der Schwangerschaft, d.h. andere Drogen einschließlich Alkohol, die Ernährungslage
der Mutter, Lebensstil, Infektionen (HIV, Hepatitis B und C) und Traumata („Beschaffungskriminalität”),
sind ebenso entscheidend für den Ausgang der Schwangerschaft wie die Höhe des Opiatkonsums.
Bei den Neugeborenen können die schweren, meist 24–72 Stunden nach Geburt auftretenden
Entzugssymptome mit Atemnotsyndrom, Hyperirritabilität, Tremor, Diarrhö, Erbrechen,
Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus und z.T. therapierefraktäre zerebrale Krampfanfälle
ohne Behandlung zum Tod führen. Bei 10 % der Kinder treten Symptome bis hin zu zerebralen
Krampfanfällen erst verzögert nach 1 bis 5 Wochen auf. Das Risiko für lebensbedrohliche
Entzugssymptome ist besonders hoch, wenn die Abhängigkeit der Mutter nicht bekannt
ist und ein zuverlässiges Monitoring sowie die rechtzeitige medikamentöse Prophylaxe
mit Opiaten (Morphin) nicht eingeleitet werden. Nach erfolgreicher Therapie der Entzugssymptome
sind bleibende Defekte offenbar nicht zu erwarten. Jedoch scheint der plötzliche Kindstod
(SIDS) bei pränatal Opiat exponierten Kindern häufiger aufzutreten als in Kontrollgruppen
nicht exponierter Kinder. Ein akuter Opiatentzug während der Schwangerschaft kann
Fruchttod und vorzeitige Wehen auslösen.
Gute Erfolge wurden mit der Umstellung der Schwangeren auf die Ersatzdrogen Methadon
bzw. Levomethadon (L-Polamidon®) (Halbwertszeit 15–60 Stunden) erzielt. Neonatale
Atemdepression und Entzugssymptome treten auch unter Methadon und anderen Ersatzdrogen
auf. Es gibt Hinweise dafür, dass die Entzugssymptomatik nach Methadon sogar schwerer
und länger verläuft als nach intrauteriner Heroin-Exposition. Am wirksamsten und verträglichsten
wird der Säugling mit einer oralen Opiatzufuhr therapiert (Arlettaz 2005, Jackson
2004, Siddappa 2003).
Obwohl es plausibel erscheint, dass die Entzugserscheinungen mit der mütterlichen
Dosis am Ende der Schwangerschaft korrelieren, konnten Berghella und Mitarbeiter (2003)
keine signifikanten Unterschiede zwischen Methadon substituierten Schwangeren mit
täglich 40, 60 oder 80 mg erkennen.
Zu den in den letzten Jahren vermehrt diskutierten alternativen Ersatzdrogen gehört
Buprenorphin (Halbwertszeit 2–4 Stunden). Nach den Erfahrungen an über 300 Schwangeren
scheint die Entzugssymptomatik im Vergleich zum Methadon milder zu verlaufen (Übersicht
bei Johnson 2003, Kayemba-Kay's 2003, Schindler 2003). Als Ursache dafür wird ein
geringerer plazentarer Transfer diskutiert (Nanovskaya 2002, Rohrmeister 2001).
Andere Therapiekonzepte bei Heroin-abhängigen Schwangeren betreffen Naltrexon-Implantate
(Hulse 2004).
Anders als bei alkoholgeschädigten Kindern ist die neurologische und kognitive Entwicklung
offenbar stärker durch das soziale Umfeld in den ersten Lebensjahren beeinflusst als
durch den Umfang der prä-natalen Opiat-Exposition. Intakte Familienverhältnisse z.B.
durch Adoption nach der Geburt erlauben offenbar eine weitgehend normale intellektuelle
Entwicklung der Kinder (Ornoy 2001, Coles 1993).
Nur Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität (ADHD) traten auch bei adoptierten Kindern
noch häufiger auf als bei unbelasteten Kontrollkindern, allerdings mit 37 % deutlich
seltener als bei den im Drogenumfeld verbliebenen Kindern (67%). Dies ergab eine Nachuntersuchung
von 5-bis 10-jährigen Kindern (Ornoy 2001).
Empfehlung für die Praxis:
Akuter Opiatentzug ist während der Schwangerschaft zu vermeiden. Bei Heroinabhängigkeit
ist eine Einstellung auf Methadon oder Buprenorphin zu empfehlen. Die Substitution
erfordert eine genaue Dosisti-trierung und sollte nur von erfahrenen Ärzten vorgenommen
werden. Die tägliche Methadon- oder Buprenorphindosis muss sich am vorangegangenen
Drogenkonsum und an der Stärke der Entzugssymptome orientieren. Zusätzlicher Drogenkonsum
kann durch Screening im Urin nachgewiesen werden. Durch umfangreiche soziale Hilfestellung
muss versucht werden, die Beschaffungskriminalität zu beenden. In aussichtslosen Fällen
ist rechtzeitig auf eine Adoption bzw. auf eine Pflegefamilie hinzuarbeiten (siehe
oben). Neugeborene müssen ggf. über mehrere Wochen beobachtet werden, damit auch verzögert
auftretende schwere Entzugserscheinungen mit Opiaten behandelt werden können.
2.21.11
Phencyclidin
Pharmakologie und Toxikologie.
Phencyclidinpiperidin (PCP, Angel Dust) ist ein Arylcyclohexylamin und gehört zu den
Halluzinogenen. Es wurde 1957 als intravenös zu verabreichendes Anästhetikum eingeführt
und wegen unerwünschter Wirkungen wieder vom Markt genommen. Bis 1979 war es noch
als Veterinärarzneimittel (Sernylan®) erhältlich, das auch in der Drogenszene verwendet
wurde. Phencyclidin ist leicht herstellbar und ein billiges Streckmittel für andere
Drogen (LSD, Mescalin, Kokain). Es wird per os eingenommen oder mit Marihuana, Tabak
und Oregano vermischt geraucht.
Phencyclidin hemmt die Wiederaufnahme von Dopamin, Noradrena-lin und Serotonin im
ZNS und blockiert postsynaptisch Acetylcholin. Abhängig von Dosis und Wirkort kann
Phencyclidin anregend oder dämpfend wirken. Bei schwerer Intoxikation stehen die sympathomi-metische
Wirkung und depressorische Effekte auf das ZNS im Vordergrund.
Nach oraler Aufnahme wird Phencyclidin rasch im Dünndarm resorbiert. Der Wirkungseintritt
erfolgt 15 Minuten nach oraler Einnahme oder 2–5 Minuten nach dem Rauchen. Die Lipophilie
begünstigt eine Anreicherung im Fettgewebe und im ZNS, daher dauert die Wirkung trotz
einer Plasmahalbwertszeit von nur 1 Stunde 4–6 Stunden.
In einzelnen Fällen wurden im Zusammenhang mit Phencyclidin-abusus Mikrozephalie,
Gesichtsasymmetrie und ein komplexes intra-und extrakraniales Fehlbildungssyndrom
beschrieben, ohne dass sich bisher eine kausale Beziehung belegen lieβ. Intrauterine
Wachstumsre-tardierung und postnatale Interaktionsdefizite sowie andere neurologische
Abweichungen wurden ebenso beobachtet wie opiattypische Entzugserscheinungen. Nachuntersuchungen
an 62 Kindern im Alter von einem Jahr erbrachten keine Auffälligkeiten gegenüber einer
Kontrollgruppe (Wachsmann 1989). Tierexperimentell wurde eine Degeneration fetaler
Kortexneurone beschrieben (Übersicht in Schardein 2000).
Empfehlung für die Praxis:
Schwangere sollen Phencyclidin unter allen Umständen meiden. Ein dennoch erfolgter
Gebrauch rechtfertigt keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel
1.15). Eine Ultraschallfeindiagnostik sollte die normale Entwicklung des Fetus bestätigen.
2.21.12
Psilocybin
Pharmakologie und Toxikologie.
Psilocybin ist ein Halluzinogen aus Pilzen („magic mushrooms”). Es gibt keine ausreichenden
Erfahrungen in der Schwangerschaft, die eine differenzierte Risikobewertung erlauben.
Auf der anderen Seite wurden bisher keine reproduzierbaren Anomalien im Zusammenhang
mit Psilocybin-Einnahme beschrieben.
Empfehlung für die Praxis:
Schwangere sollen Psilocybin unter allen Umständen meiden. Ein dennoch erfolgter Konsum
rechtfertigt keinen risikobegründeten Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel 1.15).
Nach wiederholter Exposition im 1. Trimenon sollte eine Ultraschallfeindiagnostik
die normale Entwicklung des Fetus bestätigen.
2.21.13
Schnüffelstoffe
Pharmakologie und Toxikologie.
Die allgemeinen toxischen Wirkungen höherer Dosen organischer Lösungsmittel wie Toluol,
Benzin, „Nitro-verdünner” und chlorierte Kohlenwasserstoffe am ZNS, an Leber und Nieren
sind bekannt.
Fallbeschreibungen vermitteln den Eindruck, dass nach Toluol-Schnüffeln in der Schwangerschaft
ein dem fetalen Alkoholsyndrom (Abschnitt 2.21.1) ähnlicher Komplex an Entwicklungsauffälligkeiten
auftreten kann, einschließlich Retardierung von körperlichem Wachstum, Mikrozephalie,
kraniofazialen Dysmorphien sowie Störungen der motorischen und kognitiven Fähigkeiten
(Jones 1998, Wilkins-Haug 1997, Hersh 1985). Außerdem wurden bei über der Hälfte von
35 untersuchten Schwangeren vorzeitige Wehen und Frühgeburten beobachtet (Wilkins-Haug
1997). Toluol und andere organische Lösungsmittel wurden auch hinsichtlich ihrer Auswirkungen
am Arbeitsplatz untersucht. Dort fand man z.T. Hinweise auf erhöhte Spontanabortraten
(Bukowski 2001, Taskinen 1994), die bei Toluol schnüffelnden Schwangeren so nicht
beobachtet wurden (Bukowski 2001).
Empfehlung für die Praxis:
Das Schnüffeln von Lösungsmitteln in der Schwangerschaft ist unter allen Umständen
zu meiden. Sporadischer Abusus rechtfertigt nicht zwangsläufig einen risikobegründeten
Schwangerschaftsabbruch (siehe Kapitel 1.15). In schweren Fällen ist dieser aber zu
diskutieren. Mit Ultraschallfeindiagnostik sollte die fetale Entwicklung kontrolliert
werden.
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2.22
Vergiftungen und Toxine
2.22.1
Schwangerschaftsverlauf nach Vergiftungen
Zur Einwirkung tierischer und pflanzlicher Toxine sowie Vergiftungen durch Arzneimittel
und Chemikalien und ihrer Therapie in der Schwangerschaft liegen vorwiegend Einzelfallberichte
vor (z.B. Bailey 2003, McElhatton 2001, Little 1998, Czeizel et al., 1997, Dao et
al., 1997, Tenenbein 1994). Daher ist eine differenzierte Risikobewertung schwierig.
Eine epidemiologische Studie aus Ungarn untersucht den Schwangerschaftsverlauf von
109 Frauen, die wegen akuter Vergiftungen während verschiedener Phasen der Schwangerschaft
im Krankenhaus behandelt wurden. In 70 % der Fälle handelte es sich um Suizidversuche,
meist mit Arzneimitteln (Czeizel 1988). Von den 96 lebend geborenen Kindern wiesen
7 Fehlbildungen auf, nur bei 2 Kindern schien ein kausaler Zusammenhang plausibel.
Bei der Beurteilung aller Entwicklungsparameter war der mit 6,5 % erhöhte Anteil geistig
retardierter Kinder der einzig signifikante Befund, der aber aufgrund der kleinen
Fallzahl nicht verallgemeinert werden sollte. In einer späteren, deutlich erweiterten
Untersuchung desselben Autors findet sich ebenfalls keine signifikant erhöhte Fehlbildungsrate.
Das gilt auch für die 27 Schwangeren, die zwischen Woche 5 und 10 hohe Medikamentendosen
in sui-zidaler Absicht eingenommen hatten (Czeizel 1997). In einer dänischen Publikation
zu 122 Schwangeren fand man zwar eine verdoppelte Rate an Spontanaborten aber kein
erhöhtes Fehlbildungsrisiko und keine Zunahme der Frühgeburten (Flint 2002).
2.22.2
Behandlung von Vergiftungen in der Schwangerschaft
Häufig wird die Frage gestellt, wie eine Schwangere nach Suizidversuch behandelt werden
sollte. Dabei spielen sowohl die Sorge um eine spezifische Embryotoxizität der eingenommenen
Noxe eine Rolle als auch die Unbedenklichkeit der indizierten Antidotbehandlung. Bisherige
Erfahrungen belegen, dass eine Gefährdung des Fetus primär von der Noxe und nicht
von der Antidot-Behandlung ausgeht. Dies wurde z. B. bei Methanol-Intoxikation ebenso
beobachtet wie bei Überdosen von Paracetamol und Eisenpräparaten.
Andererseits gibt es praktisch zu keinem Antidot epidemiologische Studien im 1. Trimenon,
die die Verträglichkeit der Therapie für den Embryo belegen. Die vorliegenden Fallberichte
und Fallserien geben bislang jedoch keinerlei Hinweise auf Teratogenität oder Fetotoxizität,
abgesehen vom Chelatbildner Penicillamin, der Ethanol therapie und Methylenblau (nach
Injektion in die Amnionhöhle). Zum Chelatbildner Dimercaprol (2,3-dimercaptopropanol,
synonym: British Anti-Lewisite = BAL) liegen mehrere Fallberichte zur Anwendung bei
Arsen- und Bleivergiftung vor, die keine Hinweise für ein embryotoxisches Risiko geben
(Bailey 2003). Der chemisch verwandte, in der Bundesrepublik Deutschland zugelassene
Chelatbildner 2,3-Dimer-capto-1-propansulfonsäure (DMPS; Dimaval®) ist analog zu bewerten.
Allerdings ist bei jeder länger dauernden Chelattherapie zu bedenken, dass auch essentielle
Nahrungsbestandteile, wie z.B. Zink eliminiert werden und sich daraus potenziell riskante
Mangelzustände für den Fetus ergeben können.
Umfangreichere Erfahrungen gibt es zu Antidotsubstanzen, die vor allem bei anderen
Indikationen eingesetzt werden (z. B. Atropin, Pyrid-oxin).
Bei der auch in der Schwangerschaft häufiger beschriebenen Paracet-amolvergiftung
in suizidaler Absicht besteht das Risiko der mütterlichen und fetalen Leberschädigung.
Die Therapie mit dem Antidot Ace-tylcystein (Fluimucil Antidot) richtet sich wie bei
Nichtschwangeren nach der eingenommenen Menge Paracetamol oder der Paracetamol- Konzentration
im Serum der Mutter (McElhatton 1996). Acetylcystein überwindet die Plazenta und ist
auch beim Fetus als Antidot wirksam (Horowitz 1997).
Auch bei Eisenvergiftungen in suizidaler Absicht würde das Unterlassen einer Antidottherapie
mit Deferoxamin (Desferal®) Mutter und Fetus gefährden (McElhatton 1991, Olenmark
1987).
Empfehlung für die Praxis:
Grundsätzlich muss jede Schwangere mit einer Intoxikation so behandelt werden wie
eine Nichtschwangere, d. h. alle therapeutischen Maßnahmen, die aus klinisch toxikologischer
Sicht indiziert sind, sollten Anwendung finden. Allerdings sollte die Entgiftungsbehandlung
aktuellen Richtlinien folgen. Die in den folgenden Kasuistiken beschriebenen Therapiemaßnahmen
sind nicht immer aktuell, da es sich z.T. um „historische" Berichte handelt. Aufgrund
neuer Erkenntnisse haben sich die Therapieempfehlungen bei Vergiftungen in den vergangenen
Jahren teilweise grundlegend geändert. Da es den Rahmen dieses Buches sprengen würde,
darauf einzugehen, sollten im Bedarfsfall kompetente Giftinformationszentren gefragt
oder Fachbücher (z.B. Mühlendahl 2003) konsultiert werden.
2.22.3
Chemikalien
Arsen
Mehrere Fallberichte beschreiben Arsenvergiftungen bei Schwangeren nach dem 1. Trimenon.
In den meisten Fällen waren die Neugeborenen gesund, sogar bei intoxikationsbedingten
Enzephalopathien der Mutter. Es wurden jedoch auch letale Verläufe berichtet und Frühgeburten
mit kurz darauf verstorbenem Neugeborenen (Bollinger 1992, Daya 1989, Lugo 1969, Kantor
1948).
Kohlenmonoxid (CO)
CO überwindet die Plazenta und kann im fetalen Blut zu vergleichbaren Konzentrationen
wie im mütterlichen führen. Empirische Beobachtungen, tierexperimentelle Ergebnisse
und theoretische Berechnungsmodelle zeigen, dass im Fetus mit einer mehrstündigen
Verzögerung sowohl beim Anfluten als auch beim Abbau des CO zu rechnen ist. Erst nach
etwa 14]–24 Stunden wird ein Gleichgewicht erreicht, die Eliminationshalbwertszeit
ist beim Fetus 4- bis 5-mal länger als bei der Mutter (Übersicht in Barlow und Sullivan
1982).
ZNS-Schäden beim Fetus werden insbesondere dann beschrieben, wenn die Mutter bewusstseinseingeschränkt
war bzw. eine Grad-4-oder -5-Symptomatik aufwies, auch dann, wenn sie sich rasch wieder
erholte. Zu den möglichen späteren klinischen Auffälligkeiten beim Kind zählen mentale
und motorische Entwicklungsretardierungen, aber auch schwere zerebralparetische Schädigungen.
Der reife Fetus reagiert empfindlicher auf die CO-Intoxikation als der Embryo während
der Organogenese.
Eine geringgradige akute Exposition der Mutter mit vorübergehenden, leichten Symptomen
wie Kopfschmerzen und Übelkeit (entsprechend Grad 1–2) oder die chronische CO—Exposition,
z.B. im Rahmen der beim Rauchen üblichen Belastungen (1 Packung Zigaretten/Tag oder
bis etwa 30 ppm Raum—bzw. Stadtluft aufgrund gewerblicher—oder Umwelt—Exposition),
resultiert in mütterlichen COHb-Konzentra—tionen von 2–10% und ist offenbar nicht
mit fetalen Schäden assoziiert (Koren 1991, Übersicht in Barlow 1982). Der Fetus einer
Raucherin toleriert eine zusätzliche CO-Exposition keineswegs besser, weil er bereits
daran gewöhnt ist, denn seine Kompensationsfähigkeit ist möglicherweise schon ausgeschöpft.
Seit über 70 Jahren (Maresch 1929) gibt es Berichte über CO-Vergif-tungen in der Schwangerschaft,
die sowohl unauffällige Verläufe, als auch Fruchttod und ZNS-Defekte beschreiben (Aubard
2000, Kopelman 1998, eigene Beobachtungen).
Abgesehen von den ZNS-Schäden sind teratogene, also fehlbildungs-auslösende Wirkungen
des CO unwahrscheinlich.
Bedenken zur fetalen Verträglichkeit der Therapie der CO-Vergiftung mit der hyperbaren
Oxygenierung wegen möglicher Retinaschädigung oder vorzeitigem Verschluss des Ductus
arteriosus wurden geäußert, aber nicht bestätigt (Silverman 1997). Auf jeden Fall
ist eine unterbehandelte schwere CO-Intoxikation das größere fetotoxische Risiko.
Empfehlung für die Praxis:
Aufgrund der stark verzögerten Kinetik des CO im fetalen Organismus und dem daraus
resultierenden erhöhten Risiko hypoxischer ZNS-Schädigung beim Kind muss die Indikation
zur hyperbaren Oxygenierung bei Schwangeren mit CO-bedingten Bewusstseinseinschränkungen
großzügig gestellt werden. Die Therapie sollte länger durchgeführt werden, als es
Symptome und CO-Konzentrationsverlauf bei der Mutter nahe legen. Jede Schwangere mit
Bewusstseinseinschränkung durch CO, mit einer über 20 % liegenden COHb-Konzentration
oder mit Abweichungen der fetalen Herzfrequenz (Dezele-rationen, Tachykardie, silente
Herzfrequenz) muss so rasch wie möglich hyperbar behandelt werden und bis zum Beginn
der Therapie 100% Sauerstoff erhalten. Da CO den Fetus stark verzögert erreicht und
nur sehr langsam wieder abgebaut wird, ist auch ein um viele Stunden verzögerter Behandlungsbeginn
bei bereits einsetzender Spontanbesserung mütterlicher Symptome noch sinnvoll und
indiziert!
Methanol
Eine Methanol-Vergiftung in der Schwangerschaft kann den Fetus bei länger bestehender
Azidose sekundär schädigen. Obwohl Methanol plazentagängig ist, scheint der Fetus
zunächst durch seine langsamere Verstoffwechselung des Methanols zu dessen toxischen
Metaboliten wie Formaldehyd relativ geschützt zu sein. Die klassische Therapie mit
Ethanol i.v. exponiert natürlich auch den Fetus mit Alkohol und ist aufgrund der nicht
auszuschließenden neurologischen Folgen, die vom „Binge-Drinking" und von der Tokolyse
mit Alkohol bekannt sind, nicht als völlig unbedenklich zu bewerten. Daher wird neuerdings
auch Fomepizol als alternatives Antidot vorgeschlagen (Velez 2003). Auf jeden Fall
darf weder bei Methanol noch bei Ethylenglykol eine (Alko-hol-)Therapie aus falscher
Rücksicht auf den Embryo unterbleiben (Tenenbein 1997). Ein Fallbericht mit Methanol-Intoxikation
in der Spätschwangerschaft beschreibt ein gesundes Neugeborenes nach Behandlung der
Mutter mit Ethanol, Hämodialyse und Alkalisierung (Hantson 1997). In einem weiteren
Fall verstarben die Mutter und das per Sectio in Woche 30 entbundene Kind einige Tage
nach der Geburt. Bei der azidotischen Mutter (pH 7,17) wurde nach 36 Stunden eine
Alkohol-Therapie begonnen und erst am 3. Tag mit Fomepizol behandelt. Im Blut des
azidotischen Neugeborenen (pH 6,9) fanden sich mit 61,6 mg/dl Methanol ähnliche Konzentrationen
wie bei der Mutter (Belson 2004).
Organophosphate
Einige Fallberichte schildern akzidentelle und suizidale Überdosierungen mit unterschiedlichem
Ausgang. Eine Mutter in Schwangerschaftswoche 19 berichtete, zwei Stunden nach Aufnahme
von Chlorpyrifos in suizidaler Absicht keine Kindsbewegungen mehr gespürt zu haben.
Nach anfänglicher Magenspülung wurde erst 10 Stunden später eine Intensivtherapie
begonnen. Inzwischen war der Fetus verstorben. Außer niedrigen mütterlichen Pseudocholinesterase-Spiegeln
fanden sich hohe Konzentrationen an Chlorpyrifos im fetalen Blut. Einige weitere Fälle
einer Organophosphat-Intoxikation bei Schwangeren endeten mit der Geburt gesunder
Kinder. In diesen Fällen erfolgte eine rasche Therapie, u.a. mit Atropin und Pralidoxim
(Kamha 2005, Sebe 2005A). Eines dieser Kinder entwickelte sich bis zum Alter von 4
Jahren unauffällig.
Paraquat
In Berichten über 9 Schwangere, die in suizidaler Absicht größere Mengen des Herbizids
Paraquat eingenommen hatten, wurde geschildert, dass kein Fetus und nur zwei Mütter
die Intoxikation überlebten. Die Paraquat-Konzentrationen waren im Fetus höher als
im mütterlichen Serum (Talbot 1987). Ein weiterer Fallbericht beschreibt die Einnahme
von 80]–100 ml Paraquat in suizidaler Absicht in Schwangerschaftswoche 6. Die Mutter
wurde erfolgreich u.a. mit Hämodialyse behandelt. Die Schwangerschaft schien sich
unbeeinträchtigt weiter zu entwickeln, wurde aber in Woche 9 abgebrochen. Im embryonalen
Gewebe fanden sich 0,25 μg/g und in der Amnionflüssigkeit 0,05 μg/ml Paraquat. Die
mütterlichen Serumwerte sollen zu diesem Zeitpunkt deutlich darunter gelegen haben
(initial waren es 4,8 μg/ml). Die Autoren diskutieren einen größeren Schutz des Embryos
gegenüber Paraquat im Vergleich zum reifen Fetus. Sie weisen darauf hin, dass insbesondere
bei Intoxikationen in der späteren Schwangerschaft der dann ohnehin stärker gefährdete
Fetus ein für die Mutter riskantes Reservoir für rückflutendes Paraquat darstelle
und unter diesem Aspekt ein Schwangerschaftsabbruch erörtert werden müsse (Tsatsakis
1996). Eine Ausnahme ist der Bericht über die Geburt eines reifen, gesunden und sich
bis zum Alter von 5 Jahren normal entwickelten Mädchens, dessen Mutter in Schwangerschaftswoche
27 eine Überdosis Paraquat zu sich nahm und anschließend mit Kohle-Hämoperfusion,
Hochdosis-Cyclo-phosphamid und Methylprednisolon behandelt wurde (Jenq 2005).
Thallium
Über rund 20 Fälle von Thalliumingestion in suizidaler Absicht oder zur Provokation
eines Aborts wird berichtet, sowie kürzlich über einen Fall mit chronischer Intoxikation
durch ein thalliumhaltiges Rodentizid am Arbeitsplatz. Die meisten Kinder überlebten
die mütterliche Vergiftung bei adäquater Therapie der Mutter. Außer Alopezie scheinen
Frühgeburt und intrauterine Wachstumsretardierung, nicht aber Fehlbildungen mögliche
Folgen einer pränatalen Exposition - auch im 1. Trime-non - zu sein (Hoffmann 2000).
Wasserintoxikation
Vereinzelt gibt es Berichte zur Wasserintoxikation unter der Geburt, z. B. den Fall
eines 6 Stunden alten Neugeborenen, das durch Krämpfe und eine Hyponatriämie mit 121
mmol/l auffiel (Mutter: 126 mmol/l). In diesem Fall hatte die Mutter wenige Stunden
vor der Geburt 3 Liter Wasser getrunken. Die weitere Entwicklung des Kindes war unauffällig
(West 2004).
2.22.4
Arzneimittel
Acetylsalicylsäure
Zur Überdosis mit Acetylsalicylsäure (ASS) in der Schwangerschaft gibt es nur wenige
Verlaufsdokumentationen. Ein Fallbericht zur Einnahme von 16 g ASS in Woche 38 beschreibt
bei der Mutter nach stationärer Aufnahme einen Salicylat-Spiegel von 31,7 mg/dl. Wegen
fetaler Hypoxie mit Bradykardie bis 60/min und späten Dezelerationen wurde eine Entbindung
per Kaiserschnitt vorgenommen. Die direkt davor ermittelte ASS-Konzentration bei der
Mutter betrug nur noch 14 mg/dl. Beim Neugeborenen waren es jedoch 35,2 mg/dl. Der
Nabelarterien-pH betrug 7,49, pCO2 27 mmHg und Bikarbonat 18 mmol/l, die weitere Entwicklung
des Kindes bis zur Entlassung war unauffällig (Anonymus 2001).
Das teratologische Beratungszentrum Newcastle in Großbritannien hat 101 Schwangerschaften
nachverfolgt. In 26 Fällen hatte die Mutter ausschließlich ASS genommen, in 75 Fällen
Kombinationspräparate oder zusätzlich andere Medikamente. Nur ein Kind wies eine Fehlbildung
(Fußdeformität) auf, 82 Neugeborene waren gesund (McElhatton 2001). Die in manchen
Fällen bei der Mutter gemessenen ASS-Spiegel lagen über denen, die im Tierversuch
bereits teratogene Schäden induzieren. Entwickelte die Mutter keine schweren toxischen
Symptome, so traten weder fetale Blutungen noch Spontanaborte oder intrauteriner Fruchttod
auf. Diese Befunde stehen im Gegensatz zu der in anderen Studien beobachteten Zunahme
der Spontanabortrate nach therapeutischer Anwendung von nichtsteroidalen Antiphlogistika
(NSAID) wie ASS, Ibuprofen etc. (Li 2003, Nielsen 2001). Palatnick (1998) postulierte,
dass aufgrund höherer Sensibilität gegenüber ASS der Fetus gefährdeter sei als die
Mutter.
Empfehlung für die Praxis:
Generell muss die Mutter bei entsprechend hohen ASS-Spiegeln wie eine Nichtschwangere
behandelt werden. Ein Schwangerschaftsabbruch aus Furcht vor einer Schädigung der
Frucht ist i.A. nicht gerechtfertigt.
Antidepressiva
Trizyklische Antidepressiva, wie z.B. Amitriptylin und Dothiepin, können in Überdosis
schwere toxische Symptome einschließlich Herzrhythmusstörungen und Krampfanfälle verursachen
und hierüber auch den Fetus gefährden. In einer Fallserie des teratologischen Beratungszentrums
Newcastle in Großbritannien mit 18 Schwangeren, die zwischen 150 und 1.000 mg Amitriptylin
eingenommen hatten, kam es in 16 Fällen zur Geburt eines gesunden Kindes, ein intrauteriner
Frucht-tod - wurde registriert und eine Schwangerschaft abgebrochen (McElhatton 2001).
Von den gesunden Neugeborenen hatten 6 Mütter die Überdosis im 1. Trimenon eingenommen,
8 im 2. (davon hatten 3 mittlere bis schwere Vergiftungssymptome) und 2 im 3. Der
intrauterine Fruchttod ereignete sich kurz nach einer Mischintoxikation mit schwerer
Symptomatik in Woche 24.
Von 21 Schwangeren (ebenfalls Newcastle) mit Dothiepin-Überdosis nahmen 10 die Medikamente
im 1. Trimenon, 8 im 2. und 3 im 3. ein. Zwei Mütter entwickelten schwere Vergiftungssymptome,
eine hatte Krampfanfälle. Achtzehn gesunde Neugeborene wurden registriert, ein Neugeborenes
wies ein systolisches Herzgeräusch auf (Exposition in Woche 23, zusätzlich Alkoholproblematik),
jeweils eine Schwangerschaft endete mit Spontanabort und Abbruch. Zu den abortierten
Feten lagen keine Untersuchungsbefunde vor.
Im Zusammenhang mit dem Serotoninwiederaufnahme-Hemmstoff Fluoxetin wurden ebenfalls
21 Schwangerschaften mit Überdosis nachverfolgt. In 16 Fällen erfolgte die Einnahme
im 1. Trimenon. Unter diesen waren 13 Neugeborene unauffällig, 3 Kinder zeigten Auffälligkeiten:
1 kavernöses Hämangiom, 1 Hautanhängsel am Ohr plus Nävus an der Wange, 1 schwere
ZNS-Fehlbildung. Da alle drei Mütter eine Mischintoxikation aufwiesen, ist ein kausaler
Bezug zu Fluoxetin nicht ohne weiteres herzustellen (McElhatton 2001). Inzwischen
liegen im Zentrum in Newcastle Informationen zu 160 Schwangeren mit Überdosierungen
von Antidepressiva vor, die weiterhin keine Hinweise auf spezifische Effekte erkennen
lassen (McElhatton, pers. Mitteilung 2003).
Empfehlung für die Praxis:
Da bei schwerer mütterlicher Symptomatik mit Krampfanfällen und Bewusstlosigkeit ein
erhöhtes Risiko für Schwangerschaftskomplikationen besteht, muss die Mutter wie außerhalb
der Schwangerschaft behandelt werden. Ein Schwangerschaftsabbruch aus Furcht vor einer
Schädigung der Frucht ist nicht generell gerechtfertigt.
Bromide
Eine neonatale Bromid-Intoxikation mit Hypotonie und späterer normaler Entwicklung
nach Einnahme einer hohen Dosis durch die Mutter am Ende der Schwangerschaft belegt
die Anreicherung dieser Substanz im Fetus (Pleasure 1975).
Carbamazepin
Eine Carbamazepin-Intoxikation in Schwangerschaftswoche 33 in sui-zidaler Absicht
führte zum Koma der Patientin und wurde mit Kohle und Plasmapherese behandelt. Hinweise
auf eine Beeinträchtigung des Fetus zeigten sich nach der Geburt nicht, Apgar und
Nabelarterien-pH waren normal (Saygan-Karamursel 2005).
Colchicin
In Schwangerschaftswoche 34 nahm eine Frau 8 mg/kg Colchicin ein. Das Kind wurde 10
Stunden später per Sectio geboren, war gesund und wies nur einen sehr niedrigen Colchicinspiegel
im Serum auf (< 5 ng/ml). Trotz intensivmedizinischer Maßnahmen verstarb die Mutter
(Blache 1982).
Diazepam
Fallsammlungen zu Diazepam-Intoxikationen haben bisher kein spezifisches entwicklungstoxisches
Risiko erkennen lassen (Cerqueira 1988). Ein Fallbericht beschreibt eine Schwangere
in Woche 33, die ca. 100 mg eines Benzodiazepins, wahrscheinlich Diazepam eingenommen
hatte. In ihrem Serum fanden sich 175 μg/l des Benzodiazepins, im Urin 303 μg/l. In
der Kinetokardiotokographie etwa 8 Stunden nach Ingestion sah man erwartungsgemäß
Phasen silenter bis eingeschränkt undulatorischer Oszillation der fetalen Herzfrequenz.
Darüber hinaus fanden sich unmittelbar nach Klinikaufnahme Dezelerationen, die nicht
mit Uteruskontraktionen einhergingen, sondern mit Phasen gesteigerter Kindsbewegungen.
Die Basalfrequenz war dabei nicht besonders auffällig. Nach etwa 6 Stunden hatte sich
dies, als Normalisierung gedeutet, wieder umgekehrt, d.h. es folgten Akzelerationen
auf die Kindsbewegungen. Dieses von der Lage der Schwangeren unabhängige Phänomen
wurde als passagere Hypoxämie infolge der Intoxikation gedeutet (Heinrich 1996).
Digitalis
Ein Fallbericht beschreibt eine Digitalis-Intoxikation mit 8,9 mg Digi-toxin im 7.
Schwangerschaftsmonat. Nach Spontangeburt in Woche 30 verstarb das Kind am 3. Lebenstag.
Beidseits fanden sich hämorrhagi-sche Infarkte der Nieren und degenerative neuronale
Veränderungen im ZNS, die als hypoxische Folge der anhaltenden Bradykardie gewertet
wurden (Sherman 1960).
Eisenpräparate
Es gibt mehrere Publikationen zur Eisen-Überdosierung in der Schwangerschaft (Tran
et al., 2000, Tran et al., 1998, McElhatton et al., 1998, McElhatton et al., 2001,
Lacoste1992
, Dugdale 1967). In einer Fallserie wurden 85 Schwangere mit Überdosis nachverfolgt.
Sechs waren im 1. Trimenon exponiert, 37 im 2. und 41 im 3. Insgesamt gab es 73 Neugeborene
ohne Fehlbildungen, 5 davon waren Frühgeborene, eines hatte einen angeborenen Genitalherpes
und ein anderes - nach mütterlicher Eisen-Intoxikation in Schwangerschaftswoche 36/37
- einen ausgeprägten Neugebore-nenikterus. Fünf Kinder wiesen unterschiedliche Fehlbildungen
auf, alle waren im 2. oder 3. Trimenon exponiert. Zwei Spontanaborte in Woche 22 und
29 wurden beobachtet, einer nach unmittelbar vorangehender Vergiftung, ein anderer
nach einem Abdominaltrauma. Fünf Schwangerschaften wurden abgebrochen. Serumeisenspiegel
wurden in 51 Fällen ermittelt, davon lagen 21 im mittleren toxischen Bereich (60]–89
mol/l) und 8 im hochtoxischen (>90 mol/l) (McElhatton 1998).
Eine Chelattherapie mit intravenös verabreichtem Deferoxamin ist indiziert, wenn der
Serumeisenspiegel über 55 mol/l liegt, oder wenn eine Überdosis anzunehmen ist und
die Schwangere krampft, bewusst-los oder im Schock ist. In diesen Fällen ist keine
Serumeisenbestimmung abzuwarten.
In der o.g. Fallserie erhielten 41 Frauen Deferoxamin und 20 eine andere Entgiftungsbehandlung
(Ipecac 10, Magenspülung 6, Aktivkohle 3, Bikarbonat 1). Alle Mütter überlebten. Es
wurden keine toxischen Effekte durch Deferoxamin beobachtet. Ähnliche Ergebnisse wurden
von anderen Autoren beschrieben (Khoury 1995, Turk 1993).
Empfehlung für die Praxis:
Ein erhebliches Risiko ist für den Fetus nicht gegeben, wenn die Mutter wie eine Nichtschwangere
nach einer Eisenintoxikation adäquat behandelt wird. Allerdings sind aufgrund der
geringen Fallzahlen zum 1. Trimenon keine abschließenden Aussagen zur Teratogenität
zu machen. Ein Schwangerschaftsabbruch aus Furcht vor einer Schädigung der Frucht
ist nicht gerechtfertigt.
Haloperidol
Nach einer Überdosis von 300 mg Haloperidol in Schwangerschaftswoche 34 wurden für
einige Tage verminderte Kindsbewegungen im Ultraschall beobachtet. Das in Woche 39
geborene Kind entwickelte sich bis zum 18. Lebensmonat normal (Hansen 1997).
Ibuprofen
Zur Überdosierung von Ibuprofen in der Schwangerschaft gibt es nur wenige Verlaufsdokumentationen.
In einer Fallserie mit 60 Schwangerschaften fanden sich ein Kind mit einer nicht teratogen
verursachten Fehlbildung des weichen Gaumens (Überdosis in Woche 27), 4 Spontanaborte
und 16 Schwangerschaftsabbrüche (McElhatton 2001). Inzwischen liegen bei McElhatton
Informationen zu 100 Schwangeren mit einer Überdosis Ibuprofen vor. Von 73 Lebendgeborenen
wiesen drei Kinder kardiale Anomalien auf. Dies sind zwar mehr als erwartet, die Fallzahl
ist aber zu gering, um daraus einen Beleg für eine kausale Assoziation abzuleiten
(McElhatton, pers. Mitteilung 2003). Die von anderen Autoren (Li 2003) nach therapeutischer
Anwendung von NSAID beobachtete erhöhte Spontanabortrate wird in dieser Fallserie
nicht bestätigt.
Empfehlung für die Praxis:
Schwangere mit Überdosierung von Ibuprofen müssen ebenso wie Nichtschwangere behandelt
werden. Ein Schwangerschaftsabbruch aus Furcht vor einer Schädigung der Frucht ist
nicht gerechtfertigt.
Paracetamol
Beim Erwachsenen wird Paracetamol zu einem aktiven Metaboliten verstoffwechselt, der
in hohen Konzentrationen hepatotoxisch wirkt und nur begrenzt durch Konjugation mit
Glutathion entgiftet werden kann. Diese Konjugationsleistung scheint der Fetus mit
fortschreitender Schwangerschaft besser zu bewältigen. Die Metabolisierung des Paracetamols
erfolgt in der fetalen Leber 10-mal langsamer als in der des Erwachsenen. Hierdurch
bildet der Fetus weniger toxische Metabolite und ist dadurch relativ geschützt.
Vom teratologischen Beratungszentrum Newcastle in Großbritannien wurden 450 Schwangere
mit Paracetamol-Überdosis erfasst und nachverfolgt (McElhatton 2001), davon 40 mit
Kombinationspräparaten, die zusätzlich Dextropropoxyphen enthielten. In 140 Fällen
erfolgte die Einnahme im 1. Trimenon.
Insgesamt 11 Kinder wiesen verschiedenartige Fehlbildungen auf, die nicht für eine
Kausalbeziehung zwischen Einnahme und Auffälligkeit sprachen, zumal die Exposition
jenseits des 1. Trimenons lag. Die Spontanabortrate war mit 8–10% nicht erhöht. Keines
der Neugeborenen oder der untersuchten abortierten Feten wies Zeichen einer Leber-
oder Nierenschädigung auf. Dies trifft auch auf ein Kind zu, dessen Mutter in Schwangerschaftswoche
32/33 zweimal so hohe Paracetamoldosen eingenommen hatte, dass eine Lebertransplantation
erwogen wurde (Rosevaer 1989).
Soweit Daten zu Acetylcystein als Antidot vorliegen, deuten diese nicht auf eine spezifische
entwicklungstoxische Eigenschaft hin.
Empfehlung für die Praxis:
Wie auch außerhalb einer Schwangerschaft muss in Abhängigkeit von der Serumkonzentration
des Paracetamols unverzüglich mit einer Antidottherapie begonnen werden, und zwar
im Interesse von Mutter und Fetus. Ein Aufschieben dieser Therapie hat in einzelnen
Fällen zum Absterben des Fetus bzw. zum Tod der Mutter geführt. Andererseits gibt
es keine Hinweise auf Fetotoxizität, wenn toxische Symptome bei der Mutter ausbleiben
oder toxische Serumspiegel nicht erreicht werden. Daher ist in den weitaus meisten
Fällen einer Paracetamol-Überdosis ein Schwangerschaftsabbruch aus Furcht vor einer
Schädigung der Frucht nicht gerechtfertigt.
Podophyllotoxin
Podophyllotoxin, in hoher Dosis äußerlich aufgetragen, hat bei einzelnen Schwangeren
zu psychiatrischer Symptomatik geführt, zu einem mütterlichen Todesfall, einem intrauterinen
Fruchttod (Stoudemire 1981, Slater 1978, Montaldi 1974, Chamberlaine 1972, Ward 1954)
und einer Fehlbildung mit Beteiligung von Extremitäten, Herz und Ohr nach Exposition
zwischen Schwangerschaftswoche 5 und 9 (Karol 1980).
2.22.5
Tierische Gifte
Über etwa 90 Fälle von Schlangenbissen bei Schwangeren wird in der Literatur berichtet,
nur in einem Teil davon wird der Verlauf detailliert beschrieben (Sebe 2005B, Langley
2004, Nasu 2004, Dao 1997, Pantanowitz 1996). Außerdem gibt es einige wenige Kasuistiken
zu Spinnenbissen (Pantanowitz 1996). Genaueres zur Wirksamkeit der verschiedenen speziesabhängigen
Neurotoxine, Zytotoxine und Hämatotoxine auf den Fetus ist nicht bekannt. Berichtet
wird z. B. über vier Frauen in Sri Lanka, von denen in Schwangerschaftswoche 32 bis
34 je zwei von Kobras und Vipern gebissen wurden (James 1985). Drei der Frauen zeigten
keine Vergiftungssymptome, sie bemerkten jedoch übereinstimmend eine starke Abnahme
der Kindsbewegungen. Auch die fetale Herzfrequenz sank. Nach Gabe spezifischer Antiseren
normalisierten sich Kindsbewegungen und Herzfrequenz innerhalb von 24 Stunden. Diese
drei Mütter brachten termingerecht gesunde Kinder zur Welt. Die vierte Schwangere
bemerkte ebenfalls innerhalb der ersten 24 Stunden eine Verlangsamung der Kindsbewegungen,
sie wurde jedoch erst mit Antiserum behandelt, nachdem sich ein schweres Vergiftungsbild
mit Hämolyse und Nierenversagen entwickelt hatte. Kurz darauf kam es zu einer Totgeburt.
Die von den Schwangeren übereinstimmend beobachtete Verminderung der Kindsbewegungen
zeigt, dass Schlangengift den Fetus anscheinend schon bei niedrigen Dosen erreicht,
selbst wenn bei der Mutter keine Vergiftungssymptome zu beobachten sind. In einer
anderen Fallserie mit vier Schwangeren in Burkina Faso kam es bei zweien zu einem
intrauterinen Fruchttod. Eine dieser beiden Mütter starb selbst infolge einer schweren
Gerinnungsstörung und Anämie (Dao 1997). Bei einer ebenfalls deutlich symptomatischen
Mutter mit starker Beinschwellung, Okulomotoriusparese und Rhab-domyolyse nach Vipernbiss
in Woche 10 kam es trotz Intensivtherapie zum Fruchttod (Nasu 2004).
Nur in einem Fall wird über Fehlbildungen eines Kindes berichtet, nachdem die Mutter
im 3. Monat von einer Viper gebissen wurde. Das Kind hatte einen Hydrozephalus und
zahlreiche andere Anomalien und starb kurz nach der Geburt (Pantanowitz 1996). Ein
teratogenes Potenzial beim Menschen lässt sich aus dieser Kasuistik nicht ableiten.
Zum intrauterinen Fruchttod bzw. Spontanabort kommt es in etwa der Hälfte der über
60 publizierten Verläufe. Der Anteil ist bei den mit Anti-serum Behandelten sogar
etwas höher. Dies kann jedoch durch den zu unterstellenden schwereren Krankheitsverlauf
verursacht sein. Auch Frühgeburt und Plazentaablösung mit oder ohne Koagulopathie
können Folge von Schlangenbissen sein.
Zwei Kasuistiken zu Spinnenbissen (Schwarze Witwe) in der Schwangerschaft berichten
über gesunde Neugeborene. Die Mütter waren mit Antiserum und symptomatisch behandelt
worden (Übersicht in Pantanowitz 1996). Antiseren stehen bislang nicht im Verdacht,
entwicklungstoxisch zu wirken. Sie können jedoch im Falle einer mütterlichen Anaphylaxie
mittelbar auch den Fetus gefährden.
Ein Fallbericht über ein Kind mit multiplen Fehlbildungen, dessen Mutter im 3. Schwangerschaftsmonat
von einer Biene gestochen wurde (Schneegans 1961), hat anekdotischen Charakter und
belegt selbstverständlich keinen Kausalzusammenhang.
Empfehlung für die Praxis:
Die Behandlung mit Antiseren nach Schlangenoder Giftspinnenbissen darf nicht wegen
der Schwangerschaft unterbleiben. Sie kann auch bei Fehlen von Vergiftungssymptomen
der Mutter indiziert sein, wenn Unregelmäßigkeiten der fetalen Herzaktion oder eine
Abnahme der Kindsbewegungen beobachtet werden.
2.22.6
Pilze
Nach Pilzvergiftung mit dem hochgiftigen Knollenblätterpilz (Amanita phalloides) erlitt
eine Patientin im ersten Schwangerschaftsdrittel einen Abort (Kaufmann 1978). Das
zyklische Oktapeptidtoxin Alpha-Ama-nitin hemmt die Proteinsynthese und kann über
die Plazenta hinweg die fetale Leber schädigen. In einem weiteren Fall brachte eine
Patientin nach Vergiftung im 8. Monat und erfolgreicher Behandlung mit Plas- mapherese
ein gesundes Kind zur Welt (Belliadro 1983). Im Blut der zuletzt genannten Patientin
ließ sich Alpha-Amanitin nachweisen, in der Amnionflüssigkeit gelang der Nachweis
jedoch nicht. In weiteren Publikationen zu über 20 Knollenblätterpilz-Vergiftungen
in der Schwangerschaft ergab sich bei adäquater Therapie der Mutter kein Anhalt für
entwicklungstoxische Wirkungen (Schleufe 2003, Timar 1997). Ein gegenüber einer Kontrollgruppe
niedrigeres durchschnittliches Geburtsgewicht wurde beobachtet (Timar 1997). Die Fallzahl
ist allerdings zu gering, um dies eindeutig als intoxikationsbedingte intra-uterine
Wachstumsretardierung zu interpretieren.
2.22.7
Andere pflanzliche Gifte
Obwohl eine große Zahl pflanzlicher Giftstoffe im Tierexperiment in einzelnen Spezies
teratogen wirkt, wie z. B. Aflatoxine und Cytochala-sin B und D, gibt es bisher keine
sicheren Anhaltspunkte dafür, dass diese Giftstoffe auch beim Menschen Fehlbildungen
hervorrufen (Übersicht in Schardein 2000). In einer Untersuchung fand sich jedoch
ein Zusammenhang zwischen erniedrigtem Geburtsgewicht und dem Nachweis von Aflatoxin
im mütterlichen Blut (de Vries 1989).
Pflanzliche Heilmittel werden auch in der Schwangerschaft häufig eingenommen. Ein
Bericht über ein Kind mit Androgenisierungs-erscheinungen nach mütterlicher Ginseng
therapie (Koren 1990) lässt erahnen, dass ggf. auch pflanzliche Gesundheitsprodukte
kritisch beobachtet werden müssen. Dafür spricht auch eine Publikation über Leberschäden
bei einem Neugeborenen, dessen Mutter große Mengen Pflanzentees zu sich genommen hatte,
die Pyrrolizidinalkaloide enthielten (Roulet 1988). Huflattich (z.B. in Bronchialtees)
gehört zu den Pflanzen mit derartigen Alkaloiden. „Verunreinigungen" von Pflanzentees
mit pyrrolizidinhaltigem Pestwurz werden ebenfalls diskutiert, stellen aber sicherlich
nur bei exzessivem anhaltenden Konsum ein Problem dar (siehe auch Kapitel 2.19).
Wie langwierig die Klärung hypothetischer Assoziationen zwischen Fehlbildungen und
Giften in Nahrung oder Heilmitteln pflanzlicher Herkunft sein kann, wird an dem von
Renwick (1972) vermuteten Zusammenhang zwischen Neuralrohrdefekten (Exenzephalie,
Spina bifida) und dem Verzehr von bräunlich verfärbten Kartoffeln deutlich. Es dauerte
fast ein Jahrzehnt, bis zweifelsfrei gezeigt werden konnte, dass die genannten Fehlbildungen
nicht Folge des Verzehrs von (verdorbenen) Kartoffeln waren (Übersicht in Schardein
2000).
2.22.8
Bakterielle Endotoxine
Zu bakteriellen Toxinen, wie sie bei Lebensmittelvergiftungen z.B. durch Staphylokokken,
E. coli und Salmonellen vorkommen, noch zu anderen bakteriellen Toxinen (z.B. Diphtherie)
gibt es Berichte über spezielle embryotoxische Auswirkungen nach Erkrankung der Mutter
in der Schwangerschaft (Übersicht in Schardein 2000). Über 4 Mütter mit Botulismus
im 2. oder 3. Trimenon wird berichtet (Polo 1996, Robin 1996, St Clair 1975). Keines
der Kinder wies Schäden durch diese für die Mutter lebensbedrohliche Erkrankung auf.
In einem Fall (Polo 1996) wird ausdrücklich erwähnt, dass die einzigen Bewegungen
bei der zeitweise völlig gelähmten Mutter die des Fetus waren. Offenbar überwindet
das Botulinum-Toxin die Plazenta nicht.
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2.23
Industriechemikalien und Umweltbelastungen
Zur Umwelt gehören die belebte und unbelebte Umgebung des Menschen. Umwelteinflüsse
auf die Schwangere umfassen Fremdstoffe in der Atemluft, in der Nahrung und auf der
Haut, im häuslichen Umfeld oder am Arbeitsplatz. Zu den Umwelteinflüssen gehören ferner
physikalische Einwirkungen, wie ionisierende Strahlung, elektromagnetische Felder,
Lärm, Ernährungs-, Freizeit- und Arbeitsgewohnheiten. Da die Wohnung formal betrachtet
in Deutschland zur Umwelt gehört, werden Belastungen durch Schadstoffe in Raumluft
durch die Umweltgesetzgebung geregelt.
2.23.1
Schadstoffe im Umfeld der Schwangeren
Für Schadstoffe in der Umwelt und chemische Substanzen am Arbeitsplatz sind Auswirkungen
auf die vorgeburtliche Entwicklung viel schlechter untersucht als für Arzneimittel.
Eine Unterscheidung zwischen Umwelt- und Arbeitsplatzschadstoffen ist nicht sinnvoll,
da viele Umweltschadstoffe aus industriellen Prozessen freigesetzt werden. Bei der
Risikobewertung von Umweltchemikalien kann deshalb zunächst auf die Informationen
über gesundheitliche Risiken von Industriechemikalien zurückgegriffen werden. Diese
sind nach dem Arbeitsschutzgesetz vorgeschrieben und werden im so genannten „Sicherheitsdatenblatt"
zusammengefasst. Toxikologische Informationen beruhen überwiegend auf Ergebnissen
von Tierexperimenten, nur in einigen Fällen liegen zusätzlich Ergebnisse von retrospektiven,
epidemiologischen Studien vor, bei denen meistens aussagefähige Daten zum Ausmaß der
Exposition fehlen (Übersicht in Schardein 2000, Spielmann 1986, Barlow 1982). Da nach
der gesetzlichen Regelung für Industriechemikalien nur bei einem begründeten Verdacht
reproduktionstoxikologische Tierexperimente durchgeführt werden müssen, fehlen nach
Schätzungen des Bundesinstitutes für Risikobewertung (BfR) diese Daten bei 80 % der
ca. 30.000 Industriechemikalien, die in der EU in einer Menge von jährlich mehr als
1 Tonne produziert werden (Höfer 2004).
Grundsätzlich ist es beruhigend, dass mit den verfügbaren epidemiologischen Methoden
kein erhöhtes Fehlbildungsrisikos bei der in Mitteleuropa durchschnittlich vorkommenden
Exposition mit Chemikalien am Arbeitsplatz und in der Umwelt feststellbar ist. Kritischer
zu sehen sind allerdings Industriegebiete, in denen beispielsweise Schwermetalle,
persistierende Organochlorverbindungen oder organische Lösungsmittel verarbeitet werden
mit potenziellen Auswirkungen auf die Fertilität, die Abortrate sowie die Entwicklung
der Hirnleistung und des Immunsystems, Symptome, die teilweise erst im Kindes- oder
Erwachsenenalter nachweisbar sind. In Einzelfällen wurde bei Vergiftungen der Mutter
mit solchen Stoffen auch das ungeborene Kind schwer geschädigt. Deshalb sind der sorglose
Umgang mit Schadstoffen und die unkritische Weiterbeschäftigung einer Schwangeren
an potentiell belasteten Arbeitsplätzen weder aus medizinischer noch aus arbeitsrechtlicher
Sicht akzeptabel.
In Deutschland werden die Maximalen Arbeitsplatzkonzentrationen (MAK-Werte) für Industriechemikalien
von der MAK-Werte-Kommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geregelt (DFG
2005). Seit 1986 gibt die MAK-Werte-Kommission auch Empfehlungen für den Umgang mit
Industriechemikalien in der Schwangerschaft am Arbeitsplatz, die kontinuierlich überarbeitet
werden, und die wir auch als Grundlage der Bewertung ansehen. In diesem Kapitel werden
einleitend die wichtigsten Schadstoffe mit ihren Wirkungen in der Gravidität vorgestellt
und anschließend werden die MAK-Werte in der Schwangerschaft, soweit sie vergeben
wurden, diskutiert.
2.23.2
Quecksilber (siehe auch Abschnitt 4.18.2)
Im Gegensatz zu den in der Bundesrepublik Deutschland durchschnittlich gemessenen
Konzentrationen von < 1 μg/l Quecksilber (Hg) im Blut, finden sich in Schweden und
Japan aufgrund häufigeren Verzehrs belasteter Meerestiere höhere Durchschnittswerte,
bei den Inuit (Eskimos) wurden sogar über 16 μg/l Hg im mütterlichen Blut und über
35 μg/l im Nabelschnurblut gemessen (Bjerregard und Hansen 2000).
Anorganisches Hg kann die Plazenta kaum überwinden, reichert sich aber in ihr an.
Hingegen gelangt organisches Hg fast ungehindert durch die Plazenta. Hg findet sich
vorwiegend in Gehirn, Leber und Niere. Die Höhe der Hg-Konzentration in den Organen
des Fetus und Neugeborenen korreliert mit der Zahl der Amalgam-Füllungen der Mutter
(Schiele 1999). Eine neuere Untersuchung zum Hg-Gehalt im Haar von Neugeborenen und
ihren Müttern findet zwar erhöhte Konzentrationen bei Amalgam-Füllungen, jedoch keine
Unterschiede zwischen Frauen mit alten Füllungen und Frauen, die während der Schwangerschaft
neue Amalgam-Füllungen erhielten (Lindow 2003).
Hg-Vergiftungen in der Schwangerschaft.
Schwere vorgeburtliche Schädigungen durch organisches Hg wurden in den 50er Jahren
in Minamata, Japan beobachtet. Stark Hg-haltige Industrieabwässer führten nach Methylierung
des Hg durch Bakterien zur Anreicherung in Fischen. Mütter, die vor und besonders
während der Schwangerschaft hochgradig belastete Fische verzehrt hatten, bemerkten
meist nur leichte Parä-sthesien. Nach überwiegend normalem Schwangerschaftsverlauf
waren die Kinder bei der Geburt unauffällig, aber im Alter von etwa sechs Monaten
entwickelten sie Zeichen einer beginnenden, z.T. letal verlaufenden Zerebralparese.
Neben diesen Symptomen der fetotoxischen Hirnschädigung, die in leichten Fällen nur
durch mäßig ausgeprägte mentale Retardierung auffiel, kamen bei manchen Kindern noch
Herz-, Skelett-, Augen- und Ohrfehlbildungen hinzu (Überblick bei Schardein 2000).
Die Hg-Konzentration im Blut der Minamata-Kinder lag bei über 1.000 μg/l.
Berufliche Exposition.
Zahnärztliches Personal hat beruflich Kontakt mit Hg, daher wurden Störungen der Fruchtbarkeit
vermutet. Eine kleine Studie mit Messung der individuellen Hg-Belastung fand eine
signifikante Zunahme der Abortrate (Sikorski 1987), andere Untersuchungen konnten
diesen Effekt nicht bestätigen. Eine Häufung von Fehlbildungen, mentaler Retardierung
und anderen Funktionsstörungen ließ sich in keiner dieser Arbeiten nachweisen (Schardein
2000).
Mentale Entwicklung nach „normaler" Exposition.
Untersuchungen an 182 Schwangeren auf den Färöer Inseln zeigten, dass der Verzehr
von Seefischen und stark belastetem Fleisch und Fett von Meeressäugern bei Säuglingen
zu einer konzentrationsabhängigen Verschlechterung neurologischer Testergebnisse führte
(Steuerwald 2000). Auch über kognitive Defizite bei 7-jährigen Kindern wurde im Zusammenhang
mit mütterlichem Verzehr belasteter Fische berichtet (Grandjean 1997). Eine Untersuchung
an 740 „normal exponierten" Mutter-Kind-Paaren auf den Seychellen erbrachte hingegen
keine mit der Methylquecksilber-Exposition korrelierenden Entwicklungsdefizite bis
zum Alter von 9 Jahren (Myers 2003). Das Bundesinstitut für Risikoabschätzung (BfR,
früher BGA) und die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA (European
Food Safety Authority) empfehlen, während Schwangerschaft und Stillzeit den Verzehr
von Fischen einzuschränken, die mehr als 1 mg Hg/kg enthalten können (EFSA 2004, BgVV
1999). Zu diesen Fischen gehören u.a. Haifische, echter Aal, Stör, Rotbarsch, Steinbeißer,
Schwertfisch, Barsch, Heilbutt, Hecht, Rochen, Seeteufel und Thunfisch.
Empfehlung für die Praxis:
Hg, insbesondere organisches Hg, ist der amstärksten entwicklungstoxisch wirksame
Umweltschadstoff. Die heutige Hg-Belastung in Deutschland durch Fischverzehr, Amalgam-Plomben
und berufliche Exposition verursacht jedoch keine Vergiftung des Fetus. Schwangere
sollten folgende Empfehlungen beachten:
▪
Arbeitshygienische Vorgaben bei gewerblichem Kontakt auch schon vor Eintreten einer
Schwangerschaft strikt einhalten.
▪
Quecksilber anreichernde Fische (siehe oben) nicht (regelmäßig) verzehren.
▪
Ein Ersatz von Amalgam-Plomben ist während der Schwangerschaft nur bei Beschwerden
indiziert.
▪
Eine so genannte „Amalgam-Entgiftung" mit Chelatbildnern (siehe Kapitel 2.22) ist
in der Schwangerschaft zu unterlassen, weil Amalgam-Plomben keine Quecksilber-Vergiftung
verursachen. Außerdem ist der häufig empfohlene Chelatbildner DMPS beim Fetus nicht
wirksam, weil die besonders problematischen ZNS-Depots nicht erreicht werden.
2.23.3
Blei (siehe auch Abschnitt 4.18.3)
Während einer Schwangerschaft kann die Blei konzentration im Blut der Mutter ansteigen,
weil im Knochen gespeichertes Blei mobilisiert wird und die enterale Bleiresorption
zunimmt. Etwa ab Woche 12 kann Blei die Plazenta passieren und über die Blut-Hirn-Schranke
auch das fetale Gehirn erreichen. Die in der Nabelschnur gemessenen Bleiwerte korrelieren
mit denen bei der Mutter und liegen etwas unter diesen. Fallberichte zeigen, dass
die Benutzung von Geschirr mit bleihaltigen Glasuren, die Ingestion von Farbresten
und Abortversuche mit bleihaltigen Substanzen zu Konzentrationen von 80 μg/dl im Blut
der Mutter und des Neugeborenen führen können. Wir beobachteten Fälle mit mütterlicher
Bleivergiftung und entsprechenden Bleikonzentrationen beim Neugeborenen nach regelmäßiger
Nutzung von bleiglasierten Tassen, nach ayurvedischer Behandlung mit Bleizusätzen,
die angeblich die therapeutische Wirksamkeit verbessern sollten, infolge von Jagdunfällen
mit Bleischrot und durch regelmäßiges Trainieren beim Sportschießen.
Blei und anorganische Bleiverbindungen sind in der aktuellen deutschen „MAK- und BAT-Werte-Liste
2005" in Gruppe B eingestuft, d.h. nach den vorliegenden Erkenntnissen ist bei Exposition
Schwangerer eine Fruchtschädigung auch bei Einhaltung des MAK-Wertes und des BAT-Wertes
(Biologischer Arbeitsplatztoleranzwert für Frauen unter 45 Jahre: 10 μg/dl Blut) nicht
auszuschließen. Die organischen Verbindungen Bleitetraethyl und Bleitetramethyl werden
in der deutschen MAK-Liste in Gruppe D eingestuft, d.h. eine genaue Bewertung ist
anhand der zurzeit vorliegenden Daten nicht möglich (DFG 2005).
Schwangerschaftskomplikationen.
Fehl-, Früh- und Totgeburten durch Blei sind im 19. Jahrhundert beschrieben worden.
Die damaligen arbeitshygienischen Bedingungen sind nicht mit unserem heutigen Standard
zu vergleichen. Man schätzt, dass noch zu Beginn dieses Jahrhunderts bei schwangeren
Frauen nach gewerblicher Exposition Bleiwerte im Blut von deutlich über 80 μg/dl erreicht
wurden. Bleioxyd wurde auch als Abortivum eingenommen. Mehrere Autoren haben im Bereich
von 10 und 30 μg/dl bei der Mutter einen Zusammenhang mit Abortneigung, vorzeitigem
Blasensprung, Frühgeburtlichkeit und intra-uteriner Wachstumsverzögerung untersucht.
Die Ergebnisse sind wider- sprüchlich. In einer Studie aus Indien war das Geburtsgewicht
in diesem Bereich konzentationsabhängig um bis zu 40% reduziert (Kaul 2002). Nach
heutiger Erkenntnis verursacht Blei keine Fehlbildungen im eigentlichen Sinn.
Mentale Entwicklung.
Bei Kindern mit hohen Bleikonzentrationen im Blut treten zerebrale Krampfanfälle und
andere Störungen der ZNS-Funktion auf sowie Anämie, Splenomegalie und radiologisch
sichtbare Knochenveränderungen. In einem Fall wurde trotz mütterlicher Anämie und
kolikartiger Symptomatik bei einer Bleikonzentration von 240 μg/dl mit nachfolgender
Chelattherapie im 8. Schwangerschaftsmonat ein gesundes Kind am Termin entbunden,
das auch im Alter von 4 Jahren neurologisch unauffällig entwickelt war. Uns ist eine
akute Bleivergiftung bekannt, die durch saures Brunnenwasser (pH 5,5) begünstigt wurde.
Der (voll gestillte) Säugling entwickelte im Alter von drei Monaten eine schwere Zerebralparese.
Im Leitungswasser wurden 4.000 μg/l Blei gemessen, in der Muttermilch 80μg/l. Zu welchen
Anteilen die pränatale Exposition oder die Exposition über die Muttermilch zu dieser
Bleiintoxikation geführt haben, war nicht zu entscheiden.
Da der Fetus im Vergleich zum Erwachsenen wenig Blei im Knochen binden kann, die Blut-Hirn-Schranke
durchlässiger und die Neuroge-nese leicht störbar ist, sind pränatale ZNS-Funktionsstörungen
von besonderem Interesse. Mehrere Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass sich
bereits im niedrigen Konzentrationsbereich (um bzw. unter 10 μg/dl im Nabelschnurblut)
signifikante Korrelationen mit der mentalen bzw. kognitiven Entwicklung im Säuglings-
und Kleinkindalter ergeben (Emory 2003). Ein um 10 μg/dl höherer Wert soll zu einem
um 2]–8 Punkte schlechteren Ergebnis im Bayley-Test führen (Überblick bei Wong 1992).
In einer mit Blei belasteten Region Jugoslawiens wurden feinmotorische Entwicklungseinschränkungen
bei 283 Kindern im Alter von 4½ Jahren festgestellt, die mit den postnatal ermittelten
Bleikonzentrationen im Blut korrelierten (Wasserman 2000). Die Exposition mit Blei
nach der Geburt soll den Ergebnissen der so genannten Port-Pirie-Studie zufolge für
Einschränkungen der Intelligenzentwicklung entscheidender sein als eine Exposition
während der Schwangerschaft (Baghurst 1992, Tong 1996).
Empfehlung für die Praxis:
Da es für Blei keinen sicheren Grenzwert gibt, unter dem negative Auswirkungen auf
die mentale Entwicklung von Kindern ausgeschlossen werden können, ist jede Exposition
am Arbeitsplatz und in der Umwelt/im Alltag zu meiden. Dies betrifft z. B. Geschirr
mit bleihaltigen Glasuren und obskure (pflanzliche) Heilmittel. Andererseits sind
nach heutigem Wissen Bleileitungen im Haus bei Anschluss an das öffentliche Wassernetz
kein Grund für ernsthafte Sorge, da bei üblichem pH-Wert des Wassers eine besorgniserregende
Kontamination des Fetus über die Mutter nicht beobachtet wurde. Allerdings sollte
Säuglingsnahrung nicht mit Leitungswasser hergestellt werden, das nicht deutlich unter
den heute empfohlenen Grenzwerten für Blei liegt.
2.23.4
Persistierende halogenierte Kohlenwasserstoffe (siehe auch Kapitel 4.18)
Die bekanntesten Vertreter dieser Gruppe sind die Pflanzenschutzmittel (Pestizide)
DDT (Dichlordiphenyltrichlorethan), Dieldrin,
α-, β-oder γ
-Hexachlorcyclohexan (HCH, Lindan), Hexachlorbenzol (HCB), sowie die als synthetische
Öle verwendeten polychlorierten Biphenyle (PCB) und die als „Abfallprodukte" entstehenden
polychlorierten Dibenzodioxine und -furane. Die biologische Halbwertszeit dieser halogenierten
Kohlenwasserstoffe ist sehr lang, sie beträgt bei Dioxinen etwa 7 Jahre.
Vergiftungen.
Auf PCBs ist die 1968 in Japan beobachtete angeborene Yusho-Krankheit zurückzuführen
mit Cola-artiger Haut- und Schleimhautverfärbung, Zahnfleischhyperplasie, Konjunktivitis
und intrauteri-ner Wachstumsretardierung. Auch Totgeburten wurden beobachtet. Bei
manchen Kindern blieben akneartige Hautveränderungen und Nagelverfärbungen bestehen.
Die betroffenen Mütter hatten Speiseöl verwendet, das mit etwa 1.000 ppm PCB und 5
ppm polychlorierten Furanen kontaminiert war. Unter ähnlichen Umständen kam es 1979
in Taiwan zu vergleichbaren Schäden bei Neugeborenen. Nachuntersuchungen ergaben unabhängig
vom körperlichen Befund einen erhöhten Anteil mental entwicklungsgestörter Kinder.
Wegen der langen Speicherung der PCBs im Körper brachten Mütter auch noch mehrere
Jahre nach der akuten Vergiftung geschädigte Kinder zur Welt.
Das im Vietnamkrieg eingesetzte Entlaubungsmittel Agent orange war mit Dioxinen verunreinigt
und verursachte bei der vietnamesischen Zivilbevölkerung einen Anstieg der Fehlbildungsrate
und anderer Schwangerschaftskomplikationen, wie z.B. Blasenmolen (Sterling 1986).
Mit wesentlich größerem Forschungsaufwand wurde dem Verdacht nachgegangen, dass amerikanische
Vietnamkriegsveteranen unter Fruchtbarkeitsstörungen durch das Hantieren mit Agent
orange litten. Ein Beweis hierfür konnte nicht erbracht werden.
In Seveso (Italien) wurden 1976 bei einem Unfall in einer Chemiefabrik Dioxine, u.a.
das später als „Sevesogift" bezeichnete TCDD (2,3,7,8-Tetrachlor-p-dibenzodioxin)
freigesetzt. Mehrere Untersuchungen an den damals geborenen Kindern kamen zu widersprüchlichen
Ergebnissen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass viele Schwangerschaften aus Angst
vor Fehlbildungen abgebrochen wurden. Eine tera- togene Wirkung der Dioxine beim Menschen
ließ sich deshalb nicht sicher ausschließen. Ungeklärt blieb auch das Risiko erhöhter
Abort-, Früh- und Totgeburtenraten sowie die langfristige Auswirkung auf die Entwicklung
der Kinder. Dioxine wurden früher in der MAK-Werte-Liste nicht aufgeführt, weil sie
keine Arbeitsstoffe sind. Inzwischen wurde TCDD jedoch als nicht genotoxischer, krebserzeugender
Stoff (Gruppe 4) eingestuft und überraschenderweise gleichzeitig in die Schwangerschaftsgruppe
C (kein Risiko bei Einhaltung des MAK-Wertes und des BAT-Wertes; DFG 2005).
„Normale" Umweltbelastung.
Eine Studie in Michigan (USA) ermittelte einen Zusammenhang zwischen dem Konsum von
PCB-kontaminier-tem Fisch aus den Großen Seen und einer Verminderung von Geburtsgewicht
und Kopfumfang. Dagegen konnte eine Untersuchung an 197 Kindern in der Ukraine keinen
Einfluss persistierender Organochlor-verbindungen auf das Geburtsgewicht feststellen
(Gladen 2003). Bei den Inuit (Eskimos) fand man eine Verringerung der Körperlänge
bei Neugeborenen in Abhängigkeit von der Kontamination mit persistie-renden Organochlorverbindungenbei
den Müttern (Dewailly 1993). Im Blut von 182 Schwangeren auf den Färöer-Inseln wurden
signifikant erhöhte Konzentrationen von PCBs und ihrer Metaboliten festgestellt (Fängstöm
2002). Polychlorierte Dioxine/Furane und PCBs haben estrogenartige Eigenschaften.
Ein Einfluss dieser Umweltbelastung auf das zahlenmäßige Verhältnis von Mädchen zu
Jungen zugunsten von Mädchengeburten wurde diskutiert, ließ sich bisher jedoch nicht
bestätigen (Rogan 1999; siehe auch Abschnitt 2.15.14 zu Estrogenen und Kapitel 1.12
zur Exposition des Vaters).
Neurologische Auffälligkeiten bei „normaler" Belastung.
Bei 141 Neugeborenen von Müttern, die mit PCBs belastete Fische aus dem Ontariosee
(USA) verzehrt hatten, korrelierten Abweichungen in Verhaltenstests und bei autonomen
Reflexen mit einer erhöhten PCB-Konzentration (> 133ng/g Fett) im Nabelschnurblut
(Stewart 2000). Eine Kontamination der verzehrten Fische mit anderen organischen Umweltschadstoffen
führte hingegen nicht zur Beeinträchtigung der Reaktionen beim Neugeborenen. Auch
andere Publikationen beschreiben Abweichungen beim Muskeltonus, beim visuellen Erkennen
und bei verschiedenen psycho-motorischen Eigenschaften bei Neugeborenen und älteren
Kindern, deren Mütter in der Schwangerschaft vermehrt mit PCBs exponiert waren (Übersicht
in Jacobson 1997). Es wird diskutiert, dass PCBs und Dioxine durch die Beeinträchtigung
der fetalen Schilddrüsenfunktion die ZNS-Reifung stören und zu Entwicklungsauffälligkeiten
führen (Koopman-Esseboom 1994). Insgesamt vermitteln diese Studien den Eindruck, dass
die vorgeburtliche Exposition mit PCBs die Entwicklung des Kindes stärker beeinflusst
als jene über die Muttermilch (Patandin 1999).
Jacobsen und Jacobson (1996) beschrieben psychomentale Auswirkungen nach perinataler
PCB-Exposition und das Fortbestehen intel- lektueller Defizite bis zum Alter von 11
Jahren nach leicht erhöhten PCB-Konzentration während der Schwangerschaft, die von
anderen Autoren nicht bestätigt wurden (Stewart 2003, Lackmann 2002, Middaugh 1997).
Bei Kindern, deren Mütter während der Schwangerschaft mit poly-bromierten Biphenylen
(PBBs) kontaminiertes Fleisch gegessen hatten, wurde in Michigan (USA) eine neuro-psychologische
Entwicklungsverzögerung festgestellt, die im Alter von 4]–6 Jahren nicht mehr nachzuweisen
war. Das Flammschutzmittel PBB war mit Tierfutter verwechselt worden.
Empfehlung für die Praxis:
Die vorliegenden Erfahrungen sind unzureichend für eine differenzierte Risikobeurteilung.
Es wird vermutet, dass persistierende halogenierte Kohlenwasserstoffe in höherer Dosis
Aborte, Früh- und Totgeburten und in sehr hoher Dosis auch Fehlbildungen verursachen
können. Die heute bei uns übliche Umweltbelastung mit diesen Stoffen führt offenbar
nicht zu Störungen des Schwangerschaftsverlaufes oder einem erhöhten Fehlbildungsrisiko.
Mögliche psychomotorische Auswirkungen bei mäßig erhöhter Exposition in der Schwangerschaft
sowie der geringe Sicherheitsabstand zum tierexperimentell ermittelten NOAEL bei polychlorierten
Dioxinen und Furanen erfordern weiterhin energische Präventivmaßnahmen.
2.23.5
Organische Lösungsmittel
Unter organischen Lösungsmitteln versteht man zahlreiche - auch chlorierte - Kohlenwasserstoffe,
die leicht flüchtig und lipophil sind. Dazu gehören Aceton, Benzol, Ethylether, n-Hexan,
Methyl-Ethyl-Keton, Tetrachlorethen (PER), Toluol, Trichlorethen (TRI), Xylol. Lösungsmittel
werden Farben und Klebstoffen zugesetzt, zur chemischen Reinigung benutzt und in großen
Mengen bei verschiedenen industriellen Prozessen (Entfettung, Lederverarbeitung, Nahrungsmittelherstellung
etc.) eingesetzt. Organische Lösungsmittel können durch Inhalation und über die Haut
aufgenommen werden. Ihre biologische Halbwertszeit kann - wie bei Tetrachlorethen
- mehr als 120 Stunden betragen.
Besonderheiten in der Schwangerschaft.
Für die meisten Lösungsmittel wurde ein plazentarer Übergang experimentell nachgewiesen.
Zur pränatalen Exposition beim Menschen gibt es einige Falldarstellungen geschädigter
Kinder und retrospektive Arbeiten, bei denen die Auswirkungen von Gemischen verschiedener
Lösungsmittel am Arbeitsplatz untersucht wurden (Überblick bei Schardein 2000).
Mehrere Berichte beschreiben Kinder, deren Mütter während der Schwangerschaft Lösungsmittel
schnüffelten. Intrauterine Wachstums- retardierung, Mikrozephalie, dem fetalen Alkoholsyndrom
ähnelnde kraniofaziale Dysmorphien, ZNS-Funktionsstörungen und auch Fälle von partieller
Schädel/Hirnagenesie wurden in diesem Zusammenhang beobachtet. In den meisten Fällen
handelte es sich um einen Abusus mit Toluol (Übersicht in Jones 1998, Wilkins-Haug
1997).
Eine Häufung von ZNS-Fehlbildungen wurde auch bei Kindern von Müttern beschrieben,
die beruflich mit Lösungsmitteln exponiert waren. Außerdem wurde über ein leicht erhöhtes
Risiko für kardiovaskuläre Anomalien und Inguinalhernien nach beruflicher Exposition
der Mutter mit Kohlendisulfid berichtet und über ein erhöhtes Risiko für Gaumenspalten,
kardiovaskuläre, intestinale und multiple Fehlbildungen bei nicht spezifiziertem gewerblichem
Lösungsmittelkontakt (Laumont 1996). Andere Entwicklungsstörungen sowie Früh- und
Fehlgeburten wurden ebenfalls im Zusammenhang mit gewerblicher Exposition publiziert.
Mehrere Untersuchungen beschäftigen sich mit der Tätigkeit in chemischen Reinigungen
(z.B. Doyle 1997, Zielhuis 1989). Die Ergebnisse sind widersprüchlich, z.B. scheint
die Abortrate bei Frauen, die mit chlorierten Lösungsmitteln arbeiten, erhöht zu sein
(McMartin 1998, Kyyrönen 1989). Eine erhöhte Fehlbildungsrate oder ein typisches Fehlbildungsmuster
ließen sich bisher jedoch nicht belegen (McMartin 1998). In Kalifornien wurden wiederholt
Auswirkungen einer Trinkwasserkontamination mit Trichlorethen auf die vorgeburtliche
Entwicklung untersucht. Entgegen anfänglichen Verdachtsmeldungen gab es keinen signifikanten
Anstieg pränataler Entwicklungsstörungen.
Einschränkungen in der Sprachentwicklung im Zusammenhang mit beruflicher Lösungsmittelexposition
der Mutter beschreibt eine Studie mit 33 Kindern im Alter von 3 bis 7 Jahren (Siambani
2000).
Eine Metaanalyse von Studien aus den Jahren 1996–2003, bei der 380.000 Schwangerschaften
erfasst wurden, ergab Hinweise darauf, dass Kinder von Vätern mit beruflichem Kontakt
zu organischen Lösungsmitteln ein gering erhöhtes Risiko für Neuralrohrdefekte haben,
auch wurden tendenziell mehr Fehlgeburten beobachtet (Logman 2005).
Empfehlung für die Praxis:
Die Daten zur pränatalen Toxizität von organischen Lösungsmitteln lassen keine abschließende
Beurteilung zu. Bei konsequenter Einhaltung arbeitshygienischer Vorgaben sowie bei
gelegentlichen Arbeiten mit Lösungsmitteln im Haushalt (Reinigung, Renovierung) ist
mit einem messbaren Anstieg des Fehlbildungsrisikos nicht zu rechnen. Weil Schwangerschaftskomplikationen
und geringe Funktionsdefizite unzureichend oder gar nicht untersucht sind oder zu
widersprüchlichen Ergebnissen führten, sollen Schwangere nicht mit organischen Lösemitteln
arbeiten, wenn wiederholt mit „quantitativem" Kontakt gerechnet werden muss. Im gewerblichen
Bereich sollte eine individuelle Expositionsabschätzung veranlasst werden.
2.23.6
Weitere Schadstoffe
In Polen wurde bei 117 Müttern mit Kontakt zu unterschiedlichen Pflanzenschutzmitteln
(Pestiziden) lediglich eine geringfügige Verkürzung der Schwangerschaftsdauer festgestellt,
jedoch weder eine Veränderung des Geburtsgewichts noch eine Zunahme von Fehlbildungen
(Dabrowski 2003).
Mehrere Untersuchungen haben sich mit der Auswirkung von Trinkwasserchlorierung beschäftigt,
die zur Kontamination des Wassers mit Trihalomethanen (Chloroform, Bromoform u.a.)
führen kann. Als mögliche Folge wurden sowohl eine erhöhte Fehlbildungsrate, speziell
Neuralrohrdefekte, ein verringertes Geburtsgewicht, verringerte Körperlänge und Kopfumfang
sowie Frühgeburtlichkeit und höhere Abortraten diskutiert. In diesen retrospektiven
Studien fehlen meistens Informationen über die tatsächliche Exposition der Schwangeren
und im Vergleich zu nicht exponierten Kontrollgruppen waren die relativen Risiken
nur gering erhöht (Källén 2000, Nieuwenhuijsen 2000).
Umweltbelastungen mit Arsen- und Bor- Verbindungen sowie mit Phthalaten, bei denen
estrogenartige Nebenwirkungen vermutet werden, haben zur Reproduktionstoxizität beim
Menschen keine klinisch relevanten Ergebnisse erbracht (Storgaard 2006, Moore 2000,
DeSesso 1998, Fail 1998).
Ein tendenziell verringertes Geburtsgewicht wurde mit zunehmender Kohlenmonoxid-Konzentration
als Indikator für Luftverschmutzung festgestellt. Eine retrospektive Studie hat die
Geburtsdaten von über 125.000 Kindern im Raum Los Angeles und Messdaten von Monitorstationen
in Wohnortnähe ausgewertet (Ritz 1999). Obwohl der beobachtete Trend biologisch plausibel
erscheint, wurden in dieser Studie weitere relevante Faktoren wie (Passiv-)Rauchen
unzureichend dokumentiert.
Acrylamid ist weit verbreitet in industriellen Prozessen. Generell kann es in hohen
Dosen neurotoxisch wirken. Acrylamid findet sich im Zigarettenrauch und lässt sich
im Blut von Rauchern in erhöhtem Maße nachweisen. Außerdem wird es in verschiedenen
Nahrungsprodukten wie z.B. Kartoffelchips und Pommes frites gefunden. Studien zu Auswirkungen
acrylamidhaltiger Nahrung in der Schwangerschaft beim Menschen gibt es bislang nicht.
Es gibt auch keine Fallberichte, die Schädigungen Neugeborener beschreiben. In Tierversuchen
bzw. Zellkulturexperimenten hat sich Acrylamid als mutagen, karzinogen und neurotoxisch
erwiesen.
Widersprüchlich sind die Ergebnisse von Studien, die den Einfluss von chemischem Giftmüll
auf den Schwangerschaftsverlauf untersuchen. Eine Studie aus Kalifornien berichtet
darüber, dass Neuralrohrdefekte und Herzanomalien häufiger bei Kindern von Frauen
auftraten, die in der Nähe von Giftmülldeponien wohnten, und dass mit der Ent- fernung
der Wohnung von der Mülldeponie die Wahrscheinlichkeit abnahm, ein fehlgebildetes
Kind zur Welt zu bringen (Croen 1997). In der europäischen EUROHAZCON-Studie war das
Risiko bei Frauen, ein fehlgebildetes Kind zur Welt zu bringen, erhöht, wenn sie im
Umkreis von 3 km zu einer Giftmülldeponie wohnten. Außerdem gab es Hinweise auf vermehrtes
Auftreten chromosomaler Störungen (Vrijheid 2002, Dolk 1998). Umfang und Art der individuellen
Exposition lassen sich aus diesen Studien jedoch nicht ablesen.
2.23.7
Maximale Arbeitsplatzkonzentrationen (MAK-Werte) von Industriechemikalien
1986 wurde die Rubrik „Schwangerschaft" in die Liste „Maximale Arbeitsplatzkonzentrationen
und Biologische Arbeitsstofftoleranz-werte" (MAK-Werte-Liste, Deutsche Forschungsgemeinschaft,
jährliche Aktualisierung) für chemische Arbeitsstoffe bzw. Industriechemikalien aufgenommen.
Mit Zustimmung des Bundesarbeitsministers von der DFG herausgegeben hat die Liste
nicht nur arbeitsrechtliche Konsequenzen für betroffene Frauen und für die Berufsgenossenschaften,
sondern sie ist bis heute die einzige „amtliche" Grundlage für die ärztliche Beratung
von Schwangeren, die am Arbeitsplatz oder auch außerhalb ihrer Arbeit mit Industrie-
und Umweltchemikalien in Kontakt kommen. In Tabelle 2.5
sind die Stoffe aufgelistet, die die MAK-Werte-Kommission hinsichtlich ihrer fruchtschädigenden
Eigenschaften verschiedenen Risikogruppen zugeordnet hat.
Tab. 2.5
MAK-Werte und Schwangerschaft. Einstufung der chemischen bzw. gesundheitsschädlichen
Arbeitsstoffe anhand der MAK-Werte-Liste 2005 (Deutsche Forschungsgemeinschaft 2005)
Gruppe A
Ein Risiko der Fruchtschädigung ist sicher nachgewiesen. Bei Exposition Schwangerer
kann auch bei Einhaltung des MAK-Wertes und des BAT-Wertes eine Schädigung der Leibesfrucht
auftreten.
(Methylquecksilber wird seit MAK-Werte Liste 2000 nicht mehr in Gruppe A sondern in
die Gruppe krebserzeugender Substanzen eingestuft).
Gruppe B
Nach dem vorliegenden Informationsmaterial muss ein Risiko der Fruchtschädigung
als wahrscheinlich unterstellt werden. Bei Exposition Schwangerer kann eine solche
Schädigung auch bei Einhaltung des MAK-Wertes und des BAT-Wertes nicht ausgeschlossen
werden. (Blei und anorganische Bleiverbindungen (einatembare Fraktion) außer Bleiarsenat
und Bleichromat sind ab 2004 als krebserzeugende Arbeitsstoffe ohne MAK-Wert klassifiziert
sowie als keimzellmutagene Stoffe der Kategorie 3A (siehe dort). Bei Frauen unter
45 Jahren gilt ein BAT-Wert von 100 [μg/l Blut.)
2-Brom-2-chlor-1,1,1-trifluorethan
Chlorierte Biphenyle (Chlorgehalt 42%, Chlorgehalt 54%)
Chlormethan
Diethylenglykoldimethylether
N,N-Dimethyllformamid
2-Ethoxyethanol
2-Ethoxyethylacetat
Kohlenmonoxid
Methoxyessigsäure
2-Methoxyethanol
2-Methoxyethylacetat
2-Methoxypropanol-1
2-Methoxypropylacetat-1
Schwefelkohlenstoff
Gruppe C
Ein Risiko der Fruchtschädigung braucht bei Einhaltung des MAK-Wertes und des BAT-Wertes
nicht befürchtet zu werden.
Acetonitril
2-Butoxyethylacetat
Acrylsäure
1-Butylacetat
Ameisensäure
iso-Butylacetat
2-Aminoethanol
Butyldiglykol
Amitrol
Butylhydroxytoluol
Ammoniak
ɛ-Caprolactam (Dampf und Staub)
iso-Amylalkohol
Chlor
Baumwollstaub
Chlorameisensäurebutylester
Bisphenol A
Chlorameisensäuremethylester
Bromtrifluormethan
Chlorbenzol
1-Butanol
2-Chlorethanol
so-Butanol
2-Chlor-1,1,2-trifluor-ethyldifluormethylether
2-Butanon
Chloroform
1-Butanthiol
Chlorwasserstoff
2-Butoxyethanol
Cyanamid
Cyanide (als CN berechnet)
1-Methoxypropylacetat-2
Cyanwasserstoff
Methylacetat
Cyclohexylamin
2-Methylbutylacetat (Isomer vom Pentylacetat)
Cyfluthrin
Methyl-tert-butylether
Diazinon
Methylformiat
1,2-Dichlorbenzol
Methylmethacrylat
Dichlordifluormethan
4-Methylpentan-2-on
1,1-Dichlorethen
N-Methyl-2-pyrrolidon (Dampf)
2,4-Dichlorphenoxyessigsäure (einschließlich Salze und Ester)
Monochlordifluormethan
Natriumcyanid
Dichlorvos
Natriumpyrithion
Diethylenglykol
2-n-Octyl-2,3-dihydroisothiazol-3-on
Di-(2-ethyl-hexyl)phthalat
1-Pentylacetat (Isomer vom Pentylacetat)
N,N-Dimethylacetamid
Perfluoroctansäure und ihre anorganischen Salze
Diphosphorpentaoxid
Endrin
2-Phenoxyethanol
Ethanol
Phosgen
Ethylacetat
Phophorpentachlorid
Ethylenglykol
Phosphorsäure
Ethylformiat
Phosphorylchlorid
2-Ethylhexanol
Polyacrylsäure (neutralisiert, vernetzt)
Fluoride (als Fluorid berechnet)
Polyethylenglykole
Fluorwasserstoff
2-Propanol
Formaldehyd
iso-Propylacetat
Glutardialdehyd
iso-Propylbenzol
Graphit (alveolengängige und einatembare Fraktion)
2-(Propyloxy)ethanol
2-(Propyloxy)ethylacetat
Hexan
Schwefeldioxid
2-lsopropoxyethanol
Schwefelsäure
Kaliumcyanid
Selen
Kieselsäuren, amorphe
Selenwasserstoff
a) kolloidale amorphe Kieselsäure einschl. pyrogener Kieselsäure und im Nassverfahren
hergestellter Kieselsäure (Fällungskieselsäure, Kieselgel) und ungebrannter Kieselgur
Styrol
b) Kieselglas, Kieselgut, Kieselrauch, gebrannter Kieselgur
Sulfotep
2,3,7,8-Tetrachlordibenzo-p-dioxin (TCDD)
1,1,1,2-Tetrafluorethan
Tetrahydrofuran
Titandioxid
Toluol
D-Limonen
Tri-n-butylphosphat
Lindan
Tri-n-butylzinnverbindungen
Maleinsäureanhydrid
1,1,1-Trichlorethan
Mangan und seine anorganischen Verbindungen
Trichlorfluormethan
Mercaptobenzothiazol
2,4,5-Trichlorphenoxyessigsäure
Methacrylsäure
Trimethylbenzol (alle Isomere)
Methanol
3,5,5-Trimethyl-2-cyclohexen-1-on
1-Methoxypropanol-2
Wasserstoffperoxid
Gruppe D
Eine Einstufung in eine der Gruppen A–C ist noch nicht möglich, weil die vorliegenden
Daten wohl einen Trend erkennen lassen, aber für eine abschließende Bewertung nicht
ausreichen.
Acetaldehyd
Kupfer und seine anorganischen Verbindungen
2-Aminopropan
Malathion
Anilin
Methoxychlor
Bleitetraethyl
Methylisocyanat
Bleitetramethyl
Natriumdiethyldithiocarbamat
tert-Butanol
Pa rathio n
tert-Butylacetat
Pentan (alle Isomere)
n-Butylacrylat
– n-Pentan
Chloressigsäuremethylester
– iso-Pentan
5-Chlor-2-methyl-2,3-dihydrothiazol-3-on und 2-Methyl-2,3-dihydroisothiazol-3-on (Gemisch)
– tert-Pentan
p-Phenylendiamin
2-Phenylpropen
1,1-Dichlorethan
Phosphortrichlorid
2-Diethylaminoethanol
m-Phthalsäure
Diethylether
p-Phthalsäure
Diisopropylether
n-Propylacetat
Dimethoxymethan
Tetrachlormethan
Dimethylether
Tetrahydrothiophen
1,4-Dioxan
Tetraphosphor
Diphenylether (Dampf)
Thiram
Distickstoffmonoxid
Trichlorbenzol (Isomere außer: 1,2,4-trichlorbenzol)
Disulfiram
Ethylacrylat
Trimethylamin
Ethylbenzol
Xylol (alle Isomere)
Ethylformiat
Zinnverbindungen, organische (als Sn berechnet)
Hexachlorbenzol
Gruppe II c
Stoffe mit MAK-Werten, die auf Gefährdung in der Schwangerschaft überprüft sind, aber
keiner Gruppe zugeordnet werden kö nnen.
Aceton
p-tert-Butylbenzoesäure
Aminobutane (alle Isomere)
p-tert-Butylphenol
– 1-Aminobutan
1-Chlor-1,1 -difluorethan
– 2-Aminobutan
Chlordioxid
– iso-Butylamin
Chlortrifluormethan
– 1,1 -Dimethylethylamin
Cyanacrylsäuremethylester
Bromwasserstoff
Cyclohexan
Butan (beide Isomere)
Cyclohexanol
- n-Butan
1,2-Dichlor-1,1,2,2-tetrafluorethan
– iso-Butan
Dicyclopentadien
Diethylamin
4-Methylpentan-2-ol
Dimethylamin
Morpholin
N, N-Dimethylanilin
Natriumazid
N, N-Dimethylethylamin
4-(2-Nitrobutyl)-morpholin und 4,4-(2-Ethyl 2-nitro-1,3-propandiyl)bis-morpholin (Gemisch)
N, N-Dimethylisoproylam in
Diphenylmethan-4,4’-diisocyanat
Nitroethan
Dipropylenglykolmonomethylether (Isomerengemisch)
1-Nitropropan
Octan (alle Isomere außer Trimethylpentan-Isomere)
Eisenpentacarbonyl
Essigsäureanhydrid
Oxalsäuredinitri
Essigsäureisopropenylester
Pentylacetat (einige Isomere)
Ethanthiol
-1,1-Dimethylpropylacetat
Ethylamin
-1-Methylbutylacetat
n-Heptan
-3-Methylbutylacetat
Heptan-3-on
-3-Pentylacetat
Hexamethylendiisocyanat
Phosphorwasserstoff
Hexan (alle Isomere außer n-Hexan)
Propan
-2-Methylpentan
Propargylalkohol
-3-Methylpentan
Salpetersäure
-2,2-Dimethylbutan
Schwefelhexafluorid
-2,3-Dimethylbutan
Schwefelwasserstoff
Hexylenglykol
Silber
4-Hydroxy-4-methyl-pentan-2-on
Silbersalze (als Ag berechnet)
Isophorondiisocyanat
1,1,2,2-Tetrachlor-1,2-difluorethan
Methanthiol
1,1,2,2-Tetrachlorethan
Methylacrylat
Tetraethylsilicat
Methylamin
1,1,2-Trichlor-1,2,2-trifluorethan
N-Methylanilin
Triethylamin
Methylcyclohexan
2,4,6-Trinitrotoluol (und Isomere in technischen Gemischen)
5-Methylheptan-3-on
5-Methylhexan-2-on
Zirkonium und seine unlöslichen Verbindungen
Gruppe Krebserzeugende Stoffe ohne MAK-Wert und krebsverdächtige Stoffe.
Diese Stoffe sind im Kapitel III der MAK-Werte-Liste als „Krebserzeugende Arbeitsstoffe”
aufgeführt. Nach dem Mutterschutzgesetz und nach der Gefahrstoffverordnung ist in
der Schwangerschaft die Exposition mit dieser Stoffgruppe zu vermeiden. Es werden
dabei 6 Stoffgruppen bezüglich ihres krebserzeugenden Potenzials unterschieden. Einzelheiten
sind der MAK-Werte-Liste zu entnehmen.
Im Jahr 2000 wurden in dieser Liste zum ersten Mal auch Keim-zellmutagene berücksichtigt.
Dabei geht es um Genmutationen in männlichen und weiblichen Keimzellen, die von chemischen
Stoffen hervorgerufen und an die Nachkommen vererbt werden können.
Relevanz der MAK-Werte für Schwangere.
Generell sind MAK-Werte die höchstzulässigen Konzentrationen von Arbeitsstoffen als
Gas, Dampf oder Schwebestoff in der Luft am Arbeitsplatz, die bei 8-stündiger täglicher
Exposition und einer wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden die Gesundheit der Beschäftigten
nicht beeinträchtigen. Für krebserzeugende und mutagene Arbeitsstoffe lassen sich
unbedenkliche Schwellendosen nicht definieren, daher werden keine MAK-Werte festgesetzt.
Für Schwangere gibt es keine eigenen MAK-Werte, stattdessen wird für einzelne chemische
Stoffe angegeben, ob bei Einhaltung des MAK-Wertes ein fruchtschädigendes Risiko besteht
oder nicht. Der Begriff „fruchtschädigend" wird dabei sehr weit definiert und umfasst
jeden Effekt eines Stoffes, der ein Abweichen von der Normalentwicklung hervorruft
und „prä- oder postnatal zum Tod oder zu permanenten morphologischen oder funktionellen
Schädigungen der Leibesfrucht führt."
Die bewerteten Substanzen werden in vier Kategorien (A—D) eingestuft. Mit krebserzeugenden
Stoffen muss in der Schwangerschaft jeglicher Kontakt gemieden werden.
Wie weiter oben angesprochen, gibt es nur für wenige Arbeits- bzw. Schadstoffe ausreichende
Erfahrungen beim Menschen, die eine differenzierte Risikobewertung ermöglichen. Die
Anzahl der in Tabelle 2.5 wiedergegebenen Stoffe ist, gemessen an der Gesamtzahl der
weltweit produzierten Arbeits- und Schadstoffe sehr klein und die humantoxikologischen
Daten sind in den meisten Fällen unzureichend. Das muss besonderes bei den Substanzen
der Gruppe C berücksichtigt werden, bei denen bei Einhaltung des MAK-Wertes ein fruchtschädigendes
Risiko ausgeschlossen wird. Die Orientierung am so genannten No Observed Adverse Effect
Level (NOAEL), der in Tierversuchen ermittelt wird, ist in den meisten Fällen für
die beim Menschen übliche komplexe Expositionssituation nicht ausreichend, insbesondere
weil NOAEL-Werte nur in Ausnahmefällen reproduktionstoxikologisch fundiert sind.
Stoffe, die bei Einhaltung des MAK-Wertes als nicht fruchtschädigend klassifiziert
werden (Schwangerschaftsgruppe C)
Die Einstufung von 114 in der Schwangerschaft unbedenklichen Stoffen in die Gruppe
C (Tabelle 2.5) ist bemerkenswert, denn Experten in anderen Ländern haben sich bisher
gescheut, aufgrund von Tierexperimenten und den meist unvollständigen epidemiologischen
Daten ein Risiko für die Schwangerschaft auszuschließen.
Bei genauer Analyse dieser Gruppe überrascht, dass im Jahr 2005 auch Stoffe mit krebserzeugenden
Eigenschaften in Gruppe C eingestuft wurden, für die ein nicht genotoxischer Wirkungsmechanismus
angenommen wird. Dazu gehören u.a. Formaldehyd und das „Seveso-gift" Dioxin bzw. TCDD.
Weitere Probleme bei der Einstufung in Gruppe C werden dadurch belegt, dass von den
25 Stoffen, die vor 20 Jahren in die Gruppe C eingestuft waren, mehr als 10 inzwischen
anderen Gruppen zugeordnet wurden, und zwar in die Gruppe der krebserzeugenden bzw.
krebsverdächtigen Arbeitsstoffe, wie z.B. 1,2-Dichlorethan, Malathion und Parathion.
Auch Toluol wird der Gruppe C zugeordnet, obwohl es embryotoxisch wirkt, wenn es von
abhängigen Frauen missbräuchlich in Konzentrationen inhaliert wird („sniffing"), die
den MAK-Wert in manchen Fällen nur um das 5fache überschritten haben (Wilkins-Haug
1997). Es ist daher problematisch, diesem Stoff aufgrund der beim Menschen sporadisch
erhobenen Daten eine Unbedenklichkeit bei Einhalten des MAK-Wertes zu attestieren.
Stoffe, die bei Einhaltung des MAK-Wertes als fruchtschädigend klassifiziert werden
(Schwangerschaftsgruppe A)
Organische Quecksilber-Verbindungen (Methylquecksilber) waren die einzige Stoffgruppe,
die ursprünglich in Schwangerschaftsgruppe A der MAK-Werte-Liste eingestuft wurde.
Inzwischen werden sie den krebserzeugenden Stoffen zugeordnet (siehe oben).
Stoffe, für die bei Einhaltung des MAK-Wertes ein Risiko der Fruchtschädigung als
wahrscheinlich angenommen wird (Schwangerschaftsgruppe B)
Es mag überraschen oder beruhigend wirken, dass bis heute nur 14 Industriechemikalien
in Schwangerschaftsgruppe B eingestuft wurden (Tabelle 2.5). Diese Stoffe werden auch
bei Einhaltung der üblichen Arbeitsschutzbedingungen als potenziell fruchtschädigend
angesehen. Ein Risiko ist auch bei Exposition außerhalb des Arbeitsplatzes gegeben,
wenn überdurchschnittliche Mengen über die Nahrung aufgenommen werden. Zu dieser Gruppe
gehören u.a. polychlorierte Biphenyle (PCB), deren toxische Wirkung in der Schwangerschaft
weiter oben beschrieben wird.
Krebserzeugende und krebsverdächtige Stoffe
Schwangere dürfen nach Ansicht der MAK-Werte-Kommission nicht mit krebserzeugenden
Stoffen in Berührung kommen. Eine Ausnahme bilden seit 2005 die nicht genotoxisch
wirkenden Karzinogene, für die eine Schwellendosis angenommen wird. Sie werden Schwangerschaftsgruppe
C zugeordnet, für die „ein Risiko der Fruchtschädigung bei Einhaltung des MAK-Wertes
und des BAT-Wertes nicht befürchtet werden muss." (DFG 2005). Zu diesen Stoffen mit
nicht genotoxischen, krebserzeugenden Eigenschaften gehören u.a. das Dioxin TCCD und
Formaldehyd.
Insbesondere die Erfahrungen mit dem Hormonpräparat Diethyl-stilbestrol, das nach
vorgeburtlicher Exposition bei den Töchtern nach der Pubertät u.a. zu Scheidenkarzinomen
führte, hat die Aufmerksam- keit auf das Risiko einer „transplazentaren Karzinogenese"
gelenkt. Mit mehr als 200 Stoffen ist die Gruppe der krebserzeugenden und krebsverdächtigen
Arbeitsstoffe die umfangreichste Risikogruppe im Abschnitt MAK-Werte. Zu den Chemikalien,
die beim Menschen nicht nur fruchtschädigende, sondern möglicherweise auch krebserzeugende
oder tumorfördernde Wirkungen haben, gehören u.a. organisches Quecksilber und die
organischen Lösungsmittel Trichlorethen (TRI) und Tetrachlorethen (PER). Allerdings
sind beim Menschen in der Schwangerschaft vermittelte karzinogene Effekte wie beim
Diethylstilb-estrol bisher bei keiner anderen Substanz nachgewiesen worden.
Keimzellmutagene
Die Auswirkungen von Keimzellmutationen umfassen sowohl genetisch bedingte Variationen
ohne Krankheitswert als auch Fruchtbarkeitsstörungen, Fruchttod, Fehlbildungen und
Erbkrankheiten. Aufgrund der Zufälligkeit der Verteilung von Mutationsereignissen
im Erbgut (Genom) ist nicht zu erwarten, dass ein mutagener Stoff eine substanzspezifische
Fehlbildung hervorruft. Deshalb ist der Nachweis zwischen einer Exposition und dem
Auftreten von Erbkrankheiten beim Menschen kaum zu erbringen. In dieser Situation
kann man Keimzell-mutagene bisher nur aufgrund erhöhter Mutationsraten bei den Nachkommen
exponierter Versuchstiere erkennen. Die von der MAK-WerteKommission benannten Substanzen
sind in Anlehnung an krebserzeugende Stoffe in fünf Kategorien eingeteilt (Tabelle
2.6
). Obwohl bisher der Nachweis fehlt, dass durch Keimzellmutagene beim Menschen genauso
wie bei Versuchstieren die nachfolgenden Generationen geschädigt werden können, sollten
Schwangere und Frauen im gebärfähigen Alter jeden Kontakt mit solchen Stoffen vermeiden.
Tab. 2.6
Keimzellmutagene
Die Keimzellmutagene werden in weitgehender Analogie zu den Kategorien für krebserzeugende
Arbeitsstoffe in folgende Kategorien eingeteilt:
Kategorie 1
Keimzellmutagene, deren Wirkung anhand einer erhö hten Mutationsrate unter den Nachkommen
exponierter Personen nachgewiesen wurde.
Bisher wurde noch kein chemischer Stoff dieser Kategorie zugeordnet.
Kategorie 2
Keimzellmutagene, deren Wirkung anhand einer erhö hten Mutationsrate unter den Nachkommen
exponierter Sä ugetiere nachgewiesen wurde.
Acrylamid
Ethylenimin
Benzo[a]pyren
Ethylenoxid
1,3-Butadien
N-(2-Hydroxyethyl)-3-methyl-2-chinoxalin-carb-oxamid-1,4-dioxid
1-n-Butoxy-2,3-epoxypropan
1,2-Dibrom-3-chlorpropan
N-Methyl-bis(2-chlorethyl)amin
Diepoxybutan
Trimethylphosphat
Diethylsulfat
Vanadium
Kategorie 3A
Stoffe, für die eine Schä digung des genetischen Materials der Keimzellen beim Menschen
oder im Tierversuch nachgewiesen wurde, oder für die gezeigt wurde, dass sie mutagene
Eigenschaften in somatischen Zellen von Säugetieren in vivo hervorrufen, und dass
sie in aktiver Form die Keimzellen erreichen.
Antimon
Cadmium und seine anorganischen Verbindungen (einatembare Fraktion)
Arsen und anorganische Arsenverbindungen
– Arsenmetall
Carbendazin
– Arsentrioxid
4-Chlor-o-toluidin
– Arsenige Säure und ihre Salze
Cobalt und Cobaltverbindungen
– Arsenpentoxid
1,4-Dichlor-2-buten
– Arsensäure und ihre Salze
1,4-Dihydroxybenzol
Benomyl
Ethylcarbamat
Benzol
Hartmetall, wolframcarbid- und cobalthaltig (einatembare Fraktion)
Blei und anorganische Bleiverbindungen (einatembare Fraktion) außer Bleiarsenat und
Bleichromat
Kategorie 3B
Stoffe, für die aufgrund ihrer genotoxischen Wirkungen in somatischen Zellen von Sä
ugetieren in vivo ein Verdacht auf eine mutagene Wirkung in Keimzellen abgeleitet
werden kann. In Ausnahmefällen Stoffe, für die keine In-vivo-Daten vorliegen, die
aber in vitro eindeutig mutagen sind und die eine strukturelle Ähnlichkeit zu In-vivo-Mutagenen
haben.
o-Aminoazotoluol
Naphthalin
1,4-Benzochinon
2-Nitrotoluol
1-Chlor-2,3-epoxypropan
Ochratoxin A
1,4-Dichlorbenzol
Propylenimin
Ethidiumbromid
Trichlorethen
Kategorie 4
Die Kategorie 4 für krebserzeugende Arbeitsstoffe berücksichtigt nicht genotoxische
Wirkungsmechanismen. Da einer Keimzellmutation per definitionem eine genotoxische
Wirkung zugrunde liegt, entfällt (derzeit) eine solche Kategorie 4 für Keimzellmutagene.
Kategorie 5
Keimzellmutagene, deren Wirkungsstä rke als so gering erachtet wird, dass unter Einhaltung
des MAK-Wertes kein nennenswerter Beitrag zum genetischen Risiko für den Menschen
zu erwarten ist.
Ethanol
Formaldehyd
2.23.8
Umweltbedingte Strahlenexposition
Nach der Explosion des russischen Atomreaktors in Tschernobyl 1986 hat eine große
Zahl von Schwangeren in Europa ungewollt radioaktive Isotope in unbekannter Menge
aufgenommen. Sperling und Mitarbeiter (1994) haben in West-Berlin im Frühjahr 1987,
also 9 Monate nach dem Unglück, signifikant häufiger als in der Zeit vorher und danach
Neugeborene mit einer Trisomie 21 beobachtet. Andere Autoren stellten jedoch in diesem
Fall einen kausalen Zusammenhang infrage (Boice 1994). Eine dosisabhängige Zunahme
von Spontanaborten nach Tschernobyl wurde in einer finnischen Studie beschrieben.
Die Autoren interpretierten einen ursächlichen Zusammenhang zurückhaltend (Auvinen
2001). In der Umgebung von Tschernobyl wurde über eine erhöhte Fehlbildungsrate und
eine Zunahme von Schilddrüsenkrebs bei pränatal exponierten Kindern berichtet (Boice
1994, Baverstock 1986).
Einen Hinweis darauf, dass radioaktive Nuklide bereits präkonzeptionell durch paternal-mutagene
Wirkung, d.h. nach Strahlenexposition der Väter, das Malignomrisiko von Kindern erhöhen
können, ergaben Studien an Vätern mit einem Arbeitsplatz in der Kernbrennstoffaufbereitungsanlage
Sellafield in England (Gardner 1987). Eine umfangreiche Analyse von ca. 250.000 Geburten
in der Umgebung von Sellafield in der Zeit von 1950]–1989 zeigte auch eine erhöhte
Rate von Totgeburten bei solchen Vätern (Parker 1999). Eine andere Untersuchung an
über 11.000 in der britischen Atomindustrie beschäftigten Männern und knapp 2.000
beschäftigten Frauen ergab nur für die präkonzeptionell exponierten Frauen ein erhöhtes
Fehlgeburtsrisiko, Totgeburten waren jedoch nicht häufiger, auch nicht die Fehlbildungen
(Doyle 2000).
Empfehlung für die Praxis:
Die übliche Exposition mit ionisierender Strahlung in der Umwelt erfordert keine Konsequenzen
während der Schwangerschaft. Dies betrifft auch die Höhenstrahlung bei Flugreisen
und die regional unterschiedliche Radon- und andere Hintergrundstrahlung. Nahrungsmittel,
von denen eine Anreicherung radioaktiver Nuklide bekannt ist, sollten selbstverständlich
gemieden werden.
2.23.9
Elektromagnetische Felder
Mögliche Auswirkungen elektromagnetischer Felder auf die Schwangerschaft wurden wiederholt
diskutiert. Methodische Schwierigkeiten mit der Definition von Exposition und potenziellen
Effekten erschweren jedoch Schlussfolgerungen aus den bisher vorliegenden, meist unbedenklichen
Ergebnissen. Elektromagnetische Felder wurden beispielsweise im Zusammenhang mit elektrisch
beheizten Wasserbetten, elektrischen Heizdecken und anderen Geräten untersucht. Sowohl
eine leicht erhöhte Abortrate als auch Harnwegsanomalien wurden in einzelnen Untersuchungen
beobachtet, allerdings ist die Einwirkung anderer Begleitfaktoren nicht auszuschließen
(Übersicht in Robert 1999). Speziell mit dem Gebrauch von Heizdecken beschäftigt sich
eine Studie an 530 Schwangeren (Shaw 1999). Entwicklungstoxische Effekte wurden nicht
nachgewiesen. Auch bei einer Wohnung in der Nähe von Hochspannungsleitungen konnten
bisher keine Störungen des Schwangerschaftsverlaufs nachgewiesen werden (Blaasaas
2004, Robert 1999).
Zu den Auswirkungen von Mobiltelefonnutzung und den digitalen Mobiltelefonsendern
in Wohnraumnähe gibt es bisher keine aussagefähigen Studien (Celik 2004).
Bei den 12 bisher in der Literatur erfassten Schwangeren, die vom Blitzschlag getroffen
wurden, überlebten alle Mütter und die Hälfte der Kinder ohne jeden Schaden, während
die anderen sechs Kinder in utero bzw. kurz nach der Geburt starben. Anatomische Entwicklungsstörungen
wurden nicht beobachtet (Vatter 1998). Der Tod der Feten wird anscheinend durch Herzstillstand
(Asystolie) und der im Vergleich zum Erwachsenen begrenzten Fähigkeit zur Ausbildung
eines stabilen Kammerersatzrhythmus verursacht.
Auch andere Stromschlag ereignisse können, wenn der Stromfluss über die Uterusregion
erfolgt, kardiale Störungen des Fetus bis zum Fruchttod verursachen. Darüber hinaus
wurde eine vorübergehende Reduktion der fetalen Spontanmotorik beobachtet. In den
meisten Fällen ist jedoch eine unbeeinträchtigte Entwicklung des Kindes zu erwarten
(Einarson 1997).
Empfehlung für die Praxis:
Zu den Auswirkungen von Mobiltelefonnutzung und den digitalen Mobiltelefonsendern
in Wohnraumnähe gibt es bisher keine aussagefähigen Studien zu potenziellen Auswirkungen
auf eine Schwangerschaft. Nach einem Stromschlag während der Schwangerschaft sollte
das fetale Befinden per Ultraschall kontrolliert werden. Andere regelmäßige Applikationen
von erheblichen elektromagnetischen Feldern sollten vermieden werden. Nach einer Exposition
sind jedoch keine weiteren Maßnahmen erforderlich.
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