Mitte März wurden Schulen und Kitas, Spielplätze und Sportstätten geschlossen. Viele
pädiatrische Gesellschaften und Verbände warnen seitdem vor den weitreichenden Folgen
der massiven Einschränkungen. Die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen sollten
endlich mehr in den Fokus politischer Entscheidungen gestellt werden.
Am 21. September trafen sich zum zweiten Mal in diesem Jahr Kanzlerin Angela Merkel
und die Kultusminister aller Bundesländer zum sogenannten Schulgipfel, um über "Maßnahmen
zur Stärkung des Schulsystems in der Corona-Pandemie zu beraten" [1]. Denn anders
als noch im März sind Bund und Länder sich nun einig, eine erneute flächendeckende
Schließung der Schulen vermeiden zu wollen. Ob die Option bundesweiter Schulschließungen
angesichts steigender Inzidenzzahlen tatsächlich vom Tisch ist und welche Maßnahmen
im Detail seitens der Politik ergriffen werden, "um den Schulbetrieb im Herbst und
Winter unter Wahrung des Infektionsschutzes aufrechtzuerhalten", ist noch nicht abschließend
geklärt.
Immer deutlicher zeichnet sich jedoch ab, dass die Offenhaltung der Schulen und Kindergärten
oberste Priorität haben sollte, wie ein breites Bündnis von Fachgesellschaften und
Verbänden aus der Kinder- und Jugendmedizin und medizinischen Hygiene schon seit Längerem
anmahnt. Bereits Ende Juli forderten die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaften,
die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), die Deutsche Gesellschaft
für Psychologie, die Gesellschaft für Empirische Bildungsforschung, der Verein für
Socialpolitik und die Stiftung für Kindergesundheit in einer gemeinsamen Stellungnahme,
"Kinder und Familien stärker in den Fokus der politischen Überlegungen zu stellen"
[2]. Denn "keiner der in Deutschland gewählten Schritte gegen die Corona-Pandemie
betrifft so viele Menschen wie die Schließung von Kita und Schule: Wir sprechen hier
von über 11 Millionen Kindern, denen in den letzten Monaten enorme Einschränkungen
zugemutet wurden", wie Professor Berthold Koletzko, Leiter der Abteilung für Stoffwechsel
und Ernährung für Kinder- und Jugendmedizin, betont.
Kinder erkranken meist nur leicht
Dabei sind Kinder und Jugendliche zumindest bis zum Alter von 14 Jahren anders als
bei der Influenza offenbar keineswegs die Treiber des Infektionsgeschehens [3]. Im
Vergleich zu Erwachsenen bestehe bei ihnen eine geringere Infektionshäufigkeit, eine
geringere durchschnittliche Erkrankungsschwere und daher ein geringeres Risiko für
schwerste einschließlich tödliche Verläufe [4].
Diese Einschätzung wurde auch beim diesjährigen Online-Update der DGKJ geteilt. Weiterhin
erklärte der Leiter des Sozialpädiatrischen Instituts am Klinikum Bremen-Mitte, Professor
Peter Borusiak, in seinem Vortrag mit Verweis auf die Daten des European Surveillance
Systems (TESSY), dass Kinder eher nicht zur Hochrisikoklientel in Bezug auf komplizierte
oder gar letale Verläufe von SARS-CoV-2-Infektionen gehören [5]. Mit Stand 19. Juli
2020 waren in dem Register 44.695 COVID-19-bedingte Todesfälle gelistet, darunter
vier Patienten unter 15 Jahren. Dr. Claas Hinze von der Klinik für Pädiatrische Rheumatologie
und Immunologie des Universitätsklinikums Münster verwies in diesem Zusammenhang auf
die Ergebnisse zweier großer Studien [6], einer aus Europa mit 7.480 pädiatrischen
Patienten [7] sowie einer aus China mit 44.000 erkrankten Kindern und Erwachsenen
[8]. In beiden Kohorten lag der Anteil der schwer erkrankten Kinder bei 3 %, während
die Infektion bei rund 20 % der erwachsenen COVID-19-Patienten einen schweren Verlauf
nahm. Die Mortalitätsraten betrugen 0,1 % beziehungsweise 2,3 %.
Von einem etwas höheren Risiko sei unter Umständen bei Kindern mit chronischen Erkrankungen
auszugehen, wie Hinze ausführte. Gemäß der Registerdaten der Deutschen Gesellschaft
für pädiatrische Infektiologie mit Stand August 2020 hatten mehr als die Hälfte von
25 intensivpflichtigen Kindern eine chronische Grunderkrankung. In einer europäischen
Multicenter-Studie mit 582 Fällen war der Anteil der Kinder, die intensivpflichtig
wurden, dreimal so hoch, wenn eine Grunderkrankung vorlag (17,2 % vs. 5,2 %). Insgesamt
sei aber das Risiko der Kinder für schwerwiegende Verläufe gering, wie Hinze betonte.
Psychische Gesundheit in Gefahr
Wie dringend ein sorgfältiges Abwägen der Vor- und Nachteile einer Schließung von
Bildungseinrichtungen ist, macht der Blick auf das Kindeswohl in psychischer und sozialer
Hinsicht deutlich. Die negativen Konsequenzen auf die psychische Gesundheit beschrieb
Borusiak etwa am Beispiel der Co-Space-Studie aus Großbritannien mit mehr als 10.000
online befragten Eltern und Betreuern [9]. Demnach nahmen bei Grundschülern mit Dauer
der Einschränkungen Probleme in den Bereichen Emotion, Verhalten und Aufmerksamkeit
zu. Bei älteren Kindern wurde vorwiegend vermehrt über Aufmerksamkeitsdefizite berichtet.
Als besonders belastend zeigten sich die Einschränkungen für Kinder mit erhöhtem Förderbedarf
und für Kinder aus einkommensschwachen Haushalten, so Borusiak.
Von einem Anstieg psychischer und psychosomatischer Auffälligkeiten im Zusammenhang
mit der Corona-Pandemie zeugen auch die Ergebnisse der deutschen COPSY-Studie, eine
Online-Befragung von mehr als 1.000 Jugendlichen zwischen 11 und 17 Jahren und mehr
als 1.500 Eltern [10]. Neben Auffälligkeiten wie Hyperaktivität, emotionalen und Verhaltensproblemen
wurden auch vermehrt psychosomatische Beschwerden während der Corona-Pandemie beschrieben.
Soziale Unterschiede verstärken sich
Das Herunterfahren von Erziehungs- und Bildungsangeboten schränke zudem das verfassungsgemäße
Recht auf Bildung ein, wie in der Gemeinsamen Stellungnahme von Deutscher Gesellschaft
für Erziehungswissenschaften, DGKJ, Deutscher Gesellschaft für Psychologie, Gesellschaft
für Empirische Bildungsforschung, Verein für Socialpolitik und Stiftung für Kindergesundheit
zu lesen ist. Langfristige Schulschließungen können Eltern und Kinder gleichermaßen
überfordern und die Eltern-Kind-Beziehung stark belasten. Kinder und Jugendliche sehen
sich teils den Anforderungen des Homeschoolings nicht gewachsen. Eltern stehen im
Konflikt zwischen Kinderbetreuung und Homeoffice oder haben aufgrund von Kurzarbeit
oder drohender Arbeitslosigkeit zusätzlich mit existenziellen Nöten zu kämpfen. Mit
dem Wegfall der professionellen Lern- und Unterstützungsangebote steige die Gefahr
von Bildungsrückständen, die nach Einschätzung der Experten aus Gesundheit und Bildung
durchaus auch volkswirtschaftliche Konsequenzen nach sich ziehen können. In der Stellungnahme
heißt es, dass "laut einer Szenarienrechnung allein der Lernausfall von einem Drittel
Schuljahr in Deutschland einen langfristigen volkswirtschaftlichen Schaden von 2,5
Billionen Euro verursachen kann."
Die Einschränkung der sozialen Teilhabe erschwere zudem die Integration von Kindern,
die Deutsch als Zweitsprache erlernen, und benachteilige sozial schlechter gestellte
Bevölkerungsgruppen überproportional stark.
Was braucht das System "Familie"?
Eltern und alle in die Kinderbetreuung eingebundenen Angehörigen wünschen sich nach
einer von Borusiak vorgestellten Umfrage vor allem professionelle Angebote der Kinderbetreuung.
Unterstützung bei der Erziehung und Hilfe bei emotionalen Problemen sind die Bereiche,
in denen Eltern vorrangig professionelle Unterstützung brauchen, speziell Eltern,
deren Kinder einen besonderen Förderbedarf haben.
Was gilt es also zu beachten, damit nicht, wie es die UNICEF formuliert hat, aus der
Gesundheitskrise eine Krise der Kinderrechte wird? Borusiak fordert eine intensivere
Diskussion und schließt sich der Forderung des Neuropädiaters Helmut Hollmann an,
"Fragestellungen zu formulieren und zu diskutieren, die einen offenen und transparenten
Diskurs ermöglichen, weil bei dem Ringen um ein angemessenes Vorgehen und der dabei
notwendigen Betrachtung der Gesamtsituation unvermeidbar Defizite in Teilaspekten
entstehen können" (Frühförderung interdisziplinär 3/2020). Und die Teilaspekte haben,
wie Borusiak betonte, bislang überwiegend Kinder und Jugendliche betroffen. Um die
richtige Weichenstellung zu forcieren, brauche es nun eine stärkere Repräsentanz der
Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen und deren Familien auf politischer Ebene.
Stimmen aus unserem Fachbeirat
Welche Bilanz ziehen Sie aus 9 Monaten Pandemie?
Dr. med. Martin Schwenger, Koblenz
"Aus vielen Gründen nimmt seit der Corona-Pandemie häusliche Gewalt zu. Wir Kinderärzte
sind gefordert, auf Zeichen der Gewalt zu achten. Deshalb begann ich dieses Thema
bei den Vorsorgeuntersuchungen anzusprechen. Bereits am zweiten Tag offenbarte mir
eine Mutter im Rahmen der U9, dass sie, seit ihr Mann im Homeoffice tätig ist, häusliche
Gewalt erlebe. Ich besprach mit ihr die verschiedenen Optionen und sie verließ die
Praxis nach Kontakt mit dem Hilfstelefon Gewalt gegen Frauen der BzGA (Tel.: 08000-116016).
Ich war froh, dieser Mutter geholfen zu haben, und ärgerte mich, dieses Thema nicht
schon früher bei den Vorsorgen besprochen zu haben."
Dr. med. Petra Zieriacks, Bergisch Gladbach
"Als Praxisinhaberin stehe ich sowohl für den Schutz der Angestellten als auch für
den der Patienten und deren Eltern in Verantwortung. Auch deshalb habe ich die Phase
des Lockdowns mit der eingeschränkten Lieferbarkeit von Schutzausrüstung und Desinfektionsmitteln
als belastend empfunden.
Seit Beginn der Pandemie trägt das Praxisteam bei jedem Patientenkontakt eine FFP2-Maske.
Jeder Mitarbeiter trägt seine Maske jeweils an einem bestimmten Wochentag und in der
kommenden Woche wieder am gleichen Wochentag. So können die Masken mehrfach verwendet
werden. Wir vermeiden, dass sich mehrere Familien im Wartezimmer oder im Flur begegnen,
weswegen die Praxisorganisation schwieriger geworden ist."
Dr. med. Kirsten Stollhoff, Hamburg
"Wir achten sehr strikt darauf, dass Masken getragen werden und tragen selbst Masken,
was auf Dauer anstrengend ist - das merken wir vor allem am Ende des Tages. Mit reduzierter
Sauerstoffaufnahme fällt das Arbeiten schwerer. Meine Patienten haben den Lockdown
aber zum Glück erstaunlich gut überstanden und haben sich sehr auf die Schule gefreut
- was vorher nicht der Fall war. Die schulischen Anforderungen in der Corona-Zeit
konnten meist nicht gut bewältigt werden, es sei denn, die Eltern - meist die Mütter
- hatten die Zeit und die entsprechenden Fähigkeiten, den Kindern zur Seite zu stehen.
Generell habe ich bei meinen Patienten keine bleibenden psychischen Auffälligkeiten
erlebt, die sie nicht auch schon vorher hatten. Was ich hoffe, ist, dass mit dem Schulbeginn
und auch mit den wieder aufgenommenen sportlichen Aktivitäten die Gewichtszunahme,
die ich bei vielen Patienten beobachtet habe, wieder zurückgeht."
Dr. med. Ludwig Schmid, München
"Der Alltag ist arbeitsintensiver geworden: Räume wurden umgestaltet, Hinweisschilder
aufgestellt, Glaswände trennen, Warteräume und Spielwaren sind ausgedünnt, der Gehsteig
vor der Praxis ist jetzt Teil des Wartezimmers.
Während des Shutdowns war intensive Sozialpädiatrie gefragt: Viele Gespräche mit besonnenen
Hilfestellungen - auch übers Telefon oder per Video. Bei schwierigen privaten Gegebenheiten,
wie bei der Wohnsituation oder bei finanziellen oder beruflichen Belangen, stößt man
an als Kinder- und Jugendarzt an seine Grenzen. Aber der emotionale Zustand der Kinder
ließ sich stark über die Stabilisierung der Eltern begleiten. Die Gespräche mit den
Kindern waren oft sehr faszinierend, da sie manchmal konkrete Dinge viel klarer sahen.
Viel Sicherheit hat das Zusammenrücken der Familienmitglieder gegeben, das hält bis
heute und hoffentlich auch in Zukunft an."