Einleitung
Die Infektion mit dem neuen „severe acute respiratory syndrome coronavirus 2“ (SARS-CoV-2)
führt zu einem bisher unbekannten Krankheitsbild, welches als COVID-19 („COrona VIrus
Disease 2019“) bezeichnet wird und erstmalig in der Region Hubei in China beschrieben
wurde. Die Infektion wurde durch die WHO am 11.03.2020 zur Pandemie erklärt. SARS-CoV‑2
gehört zu den respiratorischen Viren („community acquired respiratory viruses“: CARV),
die obere und untere Atemwegsinfektionen auslösen können. Der Erreger zählt zur Gruppe
der Coronaviren, die Erkrankungen von einer normalen Erkältung bis zu schweren Krankheitsverläufen
verursachen können. Verwandt mit dem SARS-CoV-2-Virus sind die Viren, die das Krankheitsbild
des SARS (schweres akutes respiratorisches Syndrom) und des MERS („middle east respiratory
syndrome“) verursachen und für die eine Neurotropie nachgewiesen wurde.
Die SARS-CoV-2-Pandemie hat Auswirkungen auf alle Bereiche der Medizin. Sie betrifft
direkt und indirekt auch die Versorgung neurologischer Erkrankungen. Es wird diskutiert,
dass eine SARS-CoV-2-Infektion mit dem vermehrten Auftreten von neurologischen Manifestationen
wie Hirnnervenaffektionen, Enzephalopathien und Enzephalitiden, ischämischen Schlaganfällen
und intrazerebralen Blutungen sowie neuromuskulären Erkrankungen assoziiert sein könnte.
Zahlreiche Berichte legen eine Verschlechterung der Versorgung von Patienten mit neurologischen
Erkrankungen aufgrund der besonderen Inanspruchnahme der Gesundheitssysteme während
der Pandemie dar. Auswirkungen auf die Versorgung sind direkt und indirekt durch Umverteilung
von Ressourcen zugunsten von SARS-CoV-2-Patienten und Schutzmaßnahmen für die Patienten
und das versorgende Personal erkennbar. Sie betreffen das Handeln der Laien (z. B.
Angst vor Ansteckung im Krankenhaus), den Transport ins Krankenhaus und die intrahospitale
Notfallversorgung bis hin zur Rehabilitation.
Zielorientierung der Leitlinie
Diese S1-Leitlinie spricht Handlungsempfehlungen für die Versorgung von Patienten
mit SARS-CoV-2-Infektion hinsichtlich neurologischer Manifestationen, von Patienten
mit neurologischer Erkrankung mit und ohne SARS-CoV-2-Infektion und für den Schutz
des versorgenden Personals aus. Dabei soll diese Leitlinie in der neurologischen Praxis
und Klinik einfach anwendbar sein.
Versorgungsbereich
Ambulante und stationäre neurologische Versorgung.
Zwar können Patienten mit neurologischen Symptomen zunächst in ambulanten Arztpraxen
oder Notaufnahmen vorstellig werden, von hier aus ist bei Diagnosestellung aber umgehend
die Einweisung in eine neurologische Klinik, vorzugsweise mit neurologischer Intensivstation,
notwendig. Alle neurologischen Manifestationen erfordern eine rasche stationäre Diagnostik
und Therapie als Notfallindikation. Zeitnah sind rehabilitative und sozialmedizinische
Maßnahmen zu initiieren und ambulant fortzusetzen. Ambulante Verlaufskontrollen sind
insbesondere zum Ausschluss von Folgeerkrankungen und -schäden erforderlich.
Anwenderzielgruppe/Adressaten
Die Leitlinie richtet sich an alle an Neurologen, die Patienten mit V. a. oder bestätigter
COVID-19-Infektion und neurologischen Symptomen behandeln, und zur Information an
alle an der Versorgung dieser Patienten beteiligten Berufsgruppen, zudem an Betroffene
und Angehörige. Sie dient zur Information von Leistungserbringern (Krankenkassen,
Rentenversicherungsträger).
Schlüsselwörter
SARS-CoV‑2; COVID-19, Anosmie, Hyposmie, Parosmie, Phantosmie, Ageusie, Hypogeusie,
Epidemiologie, Enzephalopathie, Zytokinsturm, IL‑6; TNF-alpha, Enzephalitis, epileptische
Anfälle, Anfallsrezidiv, Arzneimitteinteraktionen, Meningoenzephalitis, Myelitis,
Enzephalomyelitis, neuromuskuläre Erkrankungen, Myositis, Myasthenia gravis, Guillain-Barré-Syndrom,
Miller-Fisher-Syndrom, „critical illness weakness“, „critical illness neuropathy/myopathy“,
„intensive care unit acquired weakness“, ECMO, Beatmung, Aufwachreaktion, Delir, Status
epilepticus, Neuromonitoring, Schlaganfall, intrazerebrale Blutung, intrakranielle
Blutung
Kernaussagen
Enzephalopathie
Enzephalopathien kommen bei COVID-19, gerade bei schweren Verläufen, recht häufig
vor.
Zustimmung, 90 %
Präsentationen und Verläufe sind höchst heterogen.
Starke Zustimmung, 100 %
Für durch SARS-CoV‑2 getriggerte Enzephalopathien werden als Pathomechanismen diskutiert:
Hypoxie, Sepsis, schwere systemische Inflammation, Nierenversagen und Zytokinsturm.
Starke Zustimmung, 100 %
Biomarker, die in diesem Zusammenhang bei Patienten mit schwerer COVID-19 gefunden
wurden, waren IL‑2, IL‑6, IL‑7, GCSF, TNF-alpha1.
Starke Zustimmung, 100 %
Eine belastbare Grundlage für spezifische Therapiemaßnahmen existiert noch nicht.
Zustimmung, 90 %
Meningoenzephalitis
Bei neu aufgetretenen zentralneurologischen Symptomen, insbesondere bei Bewusstseinsstörungen,
akut einsetzenden kognitiven Defiziten sowie bei epileptischen Anfällen, ist eine
weiterführende Diagnostik mit zerebraler Bildgebung (MRT), EEG-Untersuchung und Liquordiagnostik
notwendig.
Starke Zustimmung, 100 %
Ein negativer MRT- und/oder Liquorbefund schließt die Verdachtsdiagnose nicht aus.
Neben der Routineliquor- einschließlich Erregerdiagnostik sollte eine ergänzende Bestimmung
von SARS-CoV‑2 aus dem Liquor erfolgen.
Zustimmung, 80 %
Kalkuliert sollte bis zum Ausschluss einer Herpesenzephalitis eine Therapie mit einem
Antiherpetikum erfolgen. Der Einsatz von Kortikosteroiden in hohen Dosen kann bei
anhaltender Persistenz der Symptome versucht werden.
Zustimmung, 90 %
Schlaganfall
Ischämische Schlaganfälle und seltener auch intrazerebrale Blutungen kommen bei Patienten
mit COVID-19-Erkrankung vor und sind mit einem schwereren Verlauf der Erkrankung assoziiert.
Starke Zustimmung, 100 %
Die behandelnden ÄrztInnen von COVID-19-Patienten sollten mögliche zerebrovaskuläre
Komplikationen erkennen können und unverzüglich die notwendige Diagnostik veranlassen.
Starke Zustimmung, 100 %
Eine nachgewiesene Infektion mit SARS-CoV‑2 oder der Verdacht auf eine solche darf
nicht dazu führen, dass Patienten mit akutem Schlaganfall schlechter behandelt werden
als andere Schlaganfallpatienten. Unter Einhaltung der entsprechenden Hygienemaßnahmen
sollen sie die gleiche Akutdiagnostik und Akutbehandlung erhalten wie alle Schlaganfallpatienten.
Zustimmung, 90 %
Thrombektomien sollten in Intubationsnarkose erfolgen mit videolaryngoskopischer Intubation
in Räumlichkeiten mit Absaugung.
Mehrheitliche Zustimmung, 70 %
Weltweit ist die Anzahl der Patienten, die wegen eines Schlaganfalls im Krankenhaus
behandelt werden, unter der COVID-19-Pandemie zurückgegangen. Es ist in der Pandemie
eine wichtige Aufgabe für alle in der Schlaganfallversorgung tätigen ÄrztInnen, die
hohe Qualität der Versorgung zerebrovaskulärer Erkrankungen in Deutschland auch unter
erschwerten Bedingungen bestmöglich aufrechtzuerhalten.
Starke Zustimmung, 100 %
Akute disseminierte Enzephalomyelitis
Neu aufgetretene multifokale neurologische Symptome lassen an eine akute disseminierte
Enzephalomyelitis (ADEM) denken, sodass eine rasche Diagnostik inklusive MRT und Liquoranalyse
eingeleitet werden sollte.
Starke Zustimmung, 100 %
Die MRT-Bildgebung mit Kontrastmittelgabe ist zur Detektion entzündlicher Läsionen
essenziell. Eine ergänzende blutungssensitive Sequenz hilft zum Nachweis einer hämorrhagischen
Komponente.
Starke Zustimmung, 100 %
Ein unauffälliger Liquorbefund spricht nicht gegen die Diagnose einer ADEM.
Zustimmung 90 %
Therapeutisch sollte initial ein 3‑ bis 5‑tägiger Zyklus mit Methylprednisolon (1 g/Tag)
i.v. erfolgen. Bei persistierenden Symptomen gibt es Hinweise für ein Ansprechen auf
i.v. Immunglobuline.
Zustimmung, 80 %
Epilepsie
Bei Auftreten epileptischer Anfälle oder eines Status epilepticus während einer COVID-19-Erkrankung
soll geklärt werden, ob es sich um einen akut symptomatischen (erstmaligen) Anfall
handelt oder um ein Rezidiv bei vorbekannter Epilepsie.
Starke Zustimmung, 100 %
Neben Anamnese und ggf. Fremdanamnese und klinischer Untersuchung soll eine akute
zerebrale Bildgebung (möglichst MRT) erfolgen.
Starke Zustimmung, 100 %
Bei unklarer Bewusstseinsstörung soll ein EEG durchgeführt werden, um epilepsietypische
Aktivität nachzuweisen und zu lokalisieren und um einen nichtkonvulsiven Status epilepticus
nachzuweisen bzw. auszuschließen.
Starke Zustimmung, 100 %
Bei der Ableitung von EEG sollte auf Hyperventilation möglichst verzichtet werden.
Zustimmung, 80 %
Die Behandlung von akut symptomatischen Anfällen oder eines Status epilepticus soll
entsprechend der jeweiligen Leitlinie erfolgen.
Starke Zustimmung, 100 %
Kontraindikationen und Wechselwirkungen von zur COVID-19-Erkrankung eingesetzten Substanzen
mit Antikonvulsiva sollen bei der Therapie berücksichtigt werden.
Starke Zustimmung, 100 %
Da Infektionen Anfälle triggern können, sollte bei Patienten mit vorbekannter Epilepsie
besprochen werden, was bei einer SARS-CoV-2-Infektion ggf. unternommen werden sollte.
Bei Patienten mit bekannten fieberassoziierten Anfällen sollte ein NSAID (bspw. Paracetamol)
gegeben werden.
Zustimmung, 90 %
Störungen der Chemosensorik
Eine Infektion mit SARS-CoV‑2 kann zu Störungen der Chemosensorik führen, mit Hyp-
und häufig Anosmie.
Starke Zustimmung, 100 %
Während der Pandemie ist eine plötzlich neu aufgetretene Riechstörung (Anosmie) bei
freier Nasenatmung sehr wahrscheinlich Ausdruck einer Infektion mit SARS-CoV‑2.
Zustimmung, 82 %
Eine während der Pandemie neu auftretende Riechstörung/Anosmie sollte daher Anlass
geben zu (Zustimmung, 82 %):
Selbstisolation/Quarantäne
Testung auf SARS-CoV‑2 (über telefonische Kontaktaufnahme mit Hausarzt/Gesundheitsamt)
Verwendung persönlicher Schutzausrüstung bei professionellem Kontakt mit Betroffenen.
Riechstörungen können anderen Erkrankungssymptomen vorangehen und sind daher epidemiologisch
relevant (Frühidentifikation neuer Hotspots)
Zustimmung, 91 %
Die Riechstörung bei COVID-19 scheint meist vorübergehend zu sein. Ob es regelhaft
zu einer vollständigen Restitution kommt, kann noch nicht abschließend beurteilt werden.
Starke Zustimmung, 100 %
Sollte sich die Riechfunktion nicht binnen 3–4 Wochen wieder normalisieren, wird eine
neurologische und HNO-ärztliche Vorstellung mit weiterer Diagnostik empfohlen.
Starke Zustimmung, 100 %
Nerven- und Muskelaffektionen
Myalgien, Fatigue und HyperCKämie stellen als Trias die häufigste Form (40–70 %) einer
Skelettmuskelaffektion in COVID-19-Kohorten dar.
Starke Zustimmung, 100 %
Eine intensivmedizinpflichtige COVID-19-Erkrankung mit invasiver Beatmung kann zur
ICUAW („ICU-acquired weakness“ [ICU: Intensivstation]), einem Krankheitsbild, bei
dem die CIP („critical illness polyneuropathy“) und die CIM („critical illness myopathy“)
ineinandergreifen, führen.
Starke Zustimmung, 100 %
Es scheint kein massiv erhöhtes Risiko für neuromuskuläre Patienten unter einer SARS-CoV-2-Infektion
zu bestehen.
Zustimmung, 90 %
Guillain-Barré-Syndrom (akute inflammatorische demyelinisierende Polyneuritis – AIDP)
Ein Guillain-Barré-Syndrom (GBS) stellt eine ernste Komplikation der COVID-19-Erkrankung
dar und kann bereits wenige Tage nach den ersten respiratorischen Symptomen auftreten.
Starke Zustimmung, 100 %
Bei Erstdiagnose eines GBS während der Pandemie sollte eine SARS-CoV-2-Testung erfolgen.
Mehrheitliche Zustimmung, 70 %
Klinisch sind milde Verläufe bis hin zu schweren Hirnnervenbeteiligungen möglich.
Zustimmung, 90 %
Elektroneurographisch dominiert meist ein demyelinisierendes Schädigungsmuster, wobei
auch axonale Verläufe berichtet werden.
Starke Zustimmung, 100 %
Eine Liquordiagnostik zum Ausschluss einer infektiösen Genese ist notwendig. Meist
zeigt sich eine zytoalbuminäre Dissoziation.
Starke Zustimmung, 100 %
Es empfiehlt sich eine serologische Testung von Gangliosidantikörpern.
Starke Zustimmung, 100 %
Therapeutisch sind i.v. Immunglobuline sowie Plasmaaustauschverfahren als gleichwertig
anzusehen und zeitnah zu initiieren.
Zustimmung, 90 %
Ein engmaschiges Monitoring und die Verfügbarkeit von intensivmedizinischen Maßnahmen
sind essenziell.
Starke Zustimmung, 100 %
Neurologische Intensivmedizin
Neurologische Manifestationen von COVID-19 können leicht in der schwerwiegenden, pulmonal
dominierten Intensivsituation maskiert bleiben. Deshalb muss aktiv nach einer Mitbeteiligung
des zentralen oder peripheren Nervensystems gesucht werden.
Starke Zustimmung, 100 %
Eine invasive Beatmung mit PEEP („positive end-expiratory pressure“), einer permissiven
Hyperkapnie oder in Bauchlagerung können zu einer Erhöhung des intrakraniellen Drucks
führen, aber dennoch notwendig sein.
Starke Zustimmung, 100 %
Ein multimodales Neuromonitoring (z. B. ICP-, CPP-Messung, NIRS, transkranieller Doppler/Duplex,
sonographische Messung des Sehnervenscheidendurchmessers) ermöglicht das differenzierte
therapeutische Vorgehen bei Patienten mit erhöhtem intrakraniellem Druck.
Zustimmung, 80 %
Bei Verdacht auf eine zerebrale oder auch spinale Beteiligung durch COVID-19 sollten
ein CT oder ein MRT durchgeführt werden. Bei manchen Patienten, die aufgrund schweren
intensivmedizinischen Verlaufs und/oder Analgosedierung nicht zuverlässig klinisch
untersuchbar sind, kann dies auch prophylaktisch angezeigt sein (z. B. zerebrales
CT vor ECMO).
Starke Zustimmung, 100 %
Risiko und Verlauf von COVID-19 unter einer Immuntherapie
Aus den bisherigen Berichten kann kein erhöhtes Risiko für eine COVID-19-Erkrankung
unter einer Immuntherapie abgeleitet werden.
Starke Zustimmung, 100 %
Es empfiehlt sich daher, Immuntherapien fortzusetzen. Individuelle Risikofaktoren
wie Patientenalter, Morbidität und regionale Prävalenzen von COVID-19 sollten jedoch
zur Einschätzung des individuellen Patientenrisikos miteinbezogen und im Einzelfall
Deeskalationsstrategien wie eine Therapieumstellung oder eine Intervallverlängerung
evaluiert werden.
Starke Zustimmung, 100 %
Im Fall einer COVID-19-Erkrankung sollten insbesondere Aspekte wie Krankheitsaktivität
der zugrunde liegenden neurologischen Erkrankung sowie der bisherige Therapieverlauf
berücksichtigt und die Immuntherapie ggf. pausiert werden.
Starke Zustimmung, 100 %
1 Neuroimmunologische Manifestationen
Bearbeitet von M. Pawlitzki und Sven G. Meuth, Münster
1.1 (Infektiös-)entzündliche Komplikationen
a) (Meningo‑)Enzephalitis
Bisher existieren nur wenige Fallberichte über das Auftreten einer (Meningo‑)Enzephalitis
im Rahmen von COVID-19 [1–5]. Ungeklärt ist weiterhin, ob es sich dabei um eine direkte
SARS-CoV-2-Infektion des ZNS oder um ein autoimmunes, postinfektiöses Geschehen handelt.
Unter Berücksichtigung der bisherigen Erfahrungen mit SARS-CoV‑1 ist eine zerebrale
Infektion zwar möglich, aber eher selten [6]. Das meist subakute Auftreten von neurologischen
Symptomen wenige Tage nach den oft milden respiratorischen Symptomen spricht zwar
für ein direkt infektiöses Geschehen. Andererseits wurden auch nach überstandenen
pulmonalen SARS-CoV-2-Infektionen Enzephalitiden berichtet.
Diagnostik.
(Sub-)akut auftretende schwere kognitive Defizite sowie Bewusstseinseintrübungen stehen
meist im Vordergrund. Doch auch (nicht-)konvulsive Anfälle oder gar ein akinetischer
Mutismus können das Erstsymptom darstellen. Ein verzögertes Weaning oder ein anhaltendes
Delir nach Extubation sollten differenzialdiagnostisch auch an eine neurologische
Mitbeteiligung denken lassen. Da die Symptome jedoch teils auch wenige Tage nach einer
bestätigten, bis dahin milde verlaufenen COVID-19-Erkrankung auftreten können, sollte
bei erstdiagnostizierter Enzephalitis auch an eine entsprechende SARS-CoV-2-Infektion
gedacht werden.
Es gibt bisher keine spezifischen MRT-Befunde. Es sind kortikale Hyperdensitäten mit
partieller Kontrastmittelaufnahme wie auch flächige bilaterale Marklagerhyperintensitäten
zu finden, wobei unauffällige Befunde häufig sind.
Elektroenzephalographisch werden generalisierte Veränderungen im Sinne einer Enzephalopathie
beschrieben, aber auch fokale Herdbefunde bis hin zu epilepsietypischen Potenzialen
können auftreten. Der Liquorzellbefund reicht von einem normwertigen Zellbefund bis
hin zu einer lymphozytären Pleozytose von teils >100 Zellen/µl. Eine Blut-Liquor-Schranken-Störung
kann ebenfalls vorliegen. Der direkte Erregernachweis mittels PCR gelingt in den wenigsten
Fällen. Grundsätzlich sollte immer eine Standarderregerdiagnostik, insbesondere auf
Herpesviren, erfolgen. Darüber hinaus ist eine Autoantikörperdiagnostik aus Serum
und Liquor zum Ausschluss einer Autoimmunenzephalitis sinnvoll.
Therapie.
Die bisherigen Therapieschemata sind nicht einheitlich. Bei Verdacht auf eine Enzephalitis
durch Viren der Herpesgruppe sollte ohne zeitlichen Verzug ein Antiherpetikum (in
der Regel Aciclovir) i.v. verabreicht werden. Ist auch eine bakterielle Genese differenzialdiagnostisch
nicht sicher auszuschließen, sollten zunächst zusätzlich Antibiotika (z. B. Zephalosporine
der Gruppe 3 plus Ampicillin) verabreicht werden. Bei negativer Erregerdiagnostik
und Beschwerdepersistenz kann eine Hochdosistherapie mit Methylprednisolon (1 g/Tag)
über 3–5 Tage versucht werden. Es liegen auch Fallberichte für den anschließenden
Einsatz von Plasmaaustauschverfahren vor, wobei in den entsprechenden Fällen zumindest
liquordiagnostisch kein (infektiös-)entzündliches Muster zu erkennen war.
1.2 (Autoimmun-)entzündliche Erkrankungen
a) Guillain-Barré-Syndrom (akute inflammatorische demyelinisierende Polyneuritis –
AIDP)
Es gibt zunehmende Berichte über das Auftreten eines Guillain-Barré-Syndroms (GBS)
im Rahmen einer COVID-19-Erkrankung [2, 7–20]. Wie im Rahmen von anderen Viruserkrankungen
ist von einer postinfektiösen Genese auszugehen, wobei die Latenz zwischen Erstmanifestation
von COVID-19 und dem Auftreten eines GBS sehr kurz zu sein scheint.
Diagnostik.
Die neurologischen Symptome treten meist in einer Zeitspanne von ca. 5–10 Tagen nach
einer COVID-19-Diagnose auf, wobei sich auch Wochen nach durchgemachter Infektion
ein GBS entwickeln kann. Aufgrund der Gefahr von kardiovaskulären Komplikationen,
insbesondere einer respiratorischen Insuffizienz und von kardialen Arrhythmien, sollte
eine rasche Diagnostik eingeleitet werden, um zeitnah die Akuttherapie und ggf. eine
intensivmedizinische Betreuung zu initiieren.
Das klinische Bild reicht von milden sensiblen Defiziten in Form von distal symmetrisch
aufsteigenden Par- und Hypästhesien bis hin zu schweren Tetraparesen. Auch eine primäre
Hirnnervenbeteiligung in Form von bilateralen Fazialisparesen, Augenmuskelparesen
oder einem Miller Fisher-Syndrom wurden berichtet. Nicht selten führt der rasch progrediente
Verlauf zu einer respiratorischen Insuffizienz und sogar zum Versterben der Patienten.
Bei bereits intensivmedizinisch betreuten Patienten sollte insbesondere beim Auftreten
von o. g. Symptomen im Verlauf, speziell bei respiratorischer Verschlechterung, an
ein postinfektiöses GBS gedacht werden.
Bisher lässt sich kein Zusammenhang zwischen der Schwere der COVID-19-Erkrankung und
dem Auftreten bzw. dem Verlauf eines GBS abzeichnen. Teilweise wurde erst retrospektiv
die Diagnose einer (durchgemachten) COVID-19-Erkrankung gestellt. Daher ist bei jeder
neuen GBS-Diagnose auch eine entsprechende SARS-CoV-2-Testung zu empfehlen.
Elektroneurographisch zeigt sich meist das typische Muster einer symmetrischen, demyelinisierenden
sensomotorischen Polyneuropathie. Auch axonale Schädigungsmuster können bei schweren
Verläufen im Vordergrund stehen. Elektromyographische Untersuchungen sind hierbei
im Verlauf hinsichtlich der Prognose empfehlenswert.
Eine „zytoalbuminäre Dissoziation“ mit Gesamtproteinerhöhung und normaler bis allenfalls
leicht erhöhter Zellzahl (0–10 Zellen/μl) ist meist im Liquor nachweisbar. Eine intrathekale
Immunglobulinsynthese und isolierte oligoklonale Banden im Liquor sind untypisch.
Ergänzend sollte serologisch eine Bestimmung von Gangliosidantikörpern erfolgen, insbesondere
bei einer Hirnnervenbeteiligung. In einer spinalen MRT-Bildgebung kann teils die Kontrastaufnahme
der lumbosakralen Nervenwurzeln dokumentiert werden.
Therapie.
Das Therapiemanagement unterscheidet sich nicht von dem bisherigen Vorgehen beim GBS.
Bisher erfolgte meist der primäre Einsatz von i.v. Immunglobulinen (0,4 g/kgKG) aufgrund
des vermuteten Erhalts der Immunkompetenz bei COVID-19. Plasmaaustauschverfahren und
Immunglobuline sind jedoch weiterhin als gleichwertig anzusehen. Auf Kortikosteroide
sollte verzichtet werden. Hinsichtlich des Monitorings und der symptomatischen Therapie
sei auf die entsprechende Leitlinie Therapie akuter und chronischer immunvermittelter
Neuropathien und Neuritiden verwiesen.
b) Akute disseminierte Enzephalomyelitis (ADEM)
Die ADEM tritt als seltene Komplikation nach einem erlittenen Infekt oder einer Impfung
auf und ist in der Regel durch einen monophasischen Verlauf gekennzeichnet. Bisher
existieren wenige Fallberichte über ADEM-ähnliche Verläufe im zeitlichen Zusammenhang
mit einer COVID-19-Erkrankung [12, 21–23]. Auffallend ist, dass sich die bisher Betroffenen
im mittleren bis höheren Erwachsenenalter befanden.
Diagnostik.
Die klinische Symptomatik variiert bei einer ADEM deutlich, umfasst jedoch teils schwere
fokalneurologische Defizite (Optikusneuritiden, schwere Paresen) sowie ein subakutes
enzephalopathisches Syndrom.
Entsprechend zügig sollte eine kranielle MRT mit Kontrastmittelgabe erfolgen. Charakteristisch
sind dabei große, teils Kontrastmittel aufnehmende Läsionen im Marklager sowie in
den Basalganglien, wobei auch Entmarkungen im Hirnstamm auftreten können. Ergänzend
sollte eine blutungssensitive MRT-Sequenz (T2* oder SWI) gefahren werden, um schwere
hämorrhagische Verläufe im Sinne einer akuten hämorrhagischen Leukenzephalitis zu
identifizieren [22, 23].
In der Liquordiagnostik zeigen sich meist eine Pleozytose von <100 Zellen/μl und teilweise
eine leichte Blut-Liquor-Schranken-Störung. Das Fehlen von isolierten oligoklonalen
Banden im Liquor ist häufig. Differenzialdiagnostisch sollte eine Testung von Aquaporin-4-
oder Myelinoligodendrozytenglykoprotein(MOG)-Antikörpern erfolgen, um nicht die Erstmanifestation
einer meist relapsierenden Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankung (NMOSD) oder einer
MOG-Enzephalomyelitis zu übersehen.
Therapie.
Therapeutisch ist initial eine Gabe von hochdosierten Kortikosteroiden (1–2 g/Tag)
i.v. über 3–5 Tage mit oder ohne orales Ausschleichen zu empfehlen. Bei unzureichendem
Ansprechen erwies sich die Gabe von Immunglobulinen (0,4 g/kgKG i.v.) als Erfolg versprechend.
Implikationen für die Anwendung von Immuntherapien in Zeiten von COVID-19.
Immuntherapien stellen die therapeutische Grundlage bei einer Vielzahl neurologischer
Erkrankungen dar, mit kontinuierlicher Zunahme zugelassener Indikationen. Neben den
klassischen immunsuppressiven Therapien steigt die Zahl selektiver Behandlungsstrategien,
die jedoch teils ebenso einen anhaltenden Einfluss auf die Immunkompetenz haben. Aktuell
lässt sich auf Grundlage der wenigen Fallberichte einer COVID-19-Erkrankung unter
einer Immuntherapie nicht schlussfolgern, ob diese mit einem erhöhten Risiko für COVID-19
oder mit einer schlechteren Prognose einhergeht [24–29]. Für die multiple Sklerose
(MS) existieren jedoch epidemiologische Daten von regionalen Schwerpunktzentren aus
Italien und Chile, aus denen eine geringe Inzidenz von COVID-19-Fällen hervorgeht
[30, 31]. Eine Abfrage von 10 MS-Zentren in China bezog darüber hinaus mehr als 2000
Patienten mit einer NMOSD unter entsprechender Immuntherapie mit ein, von denen nur
2 Patienten eine COVID-19-Erkrankung erlitten [32]. Aufgrund der geringen Evidenz
können jedoch nur potenzielle Risiken anhand der unterschiedlichen Wirkmechanismen
und bisherigen Erfahrungen mit anderen Infektionserkrankungen abgeleitet werden [33].
Tab. 1 enthält eine Übersicht über die aktuell angewandten Immuntherapien bei neurologischen
Krankheitsbildern und Empfehlungen in Zeiten der COVID-19-Pandemie und im Fall einer
akuten COVID-19-Erkrankung.
Substanzen
Indikationen
Therapiestrategien in Zeiten von COVID-19
Therapiestrategien im Fall einer COVID-19-Infektion
Interferenz mit der DNA-Synthese
Azathioprin
MG, NMOSD, PACNS, IIM, AIE, sekundäre ZNS-Vaskulitiden/Kollagenosen, Neurosarkoidose
Fortsetzung
Pausieren
Methotrexat
MG, NMOSD, PACNS, IIM, AIE, sekundäre ZNS-Vaskulitiden/Kollagenosen, Neurosarkoidose
Fortsetzung
Pausieren
Cyclophosphamid
PACNS, AIE, sekundäre ZNS-Vaskulitiden/Kollagenosen
Fortsetzung; bei langjährigem stabilem Krankheitsverlauf Deeskalationstherapien
Pausieren
Mitoxantron
SPMS
Therapiealternativen; bei langjährigem stabilem Krankheitsverlauf Dosisreduktion oder
Absetzen
Pausieren
Teriflunomid
RRMS
Fortsetzung
Fortsetzung; bei ausgeprägter Lymphopenie pausieren
Mykophenolatmofetil
MG, NMOSD, PACNS, IIM, sekundäre ZNS-Vaskulitiden/Kollagenosen, Neurosarkoidose
Fortsetzung
Fortsetzung; bei ausgeprägter Lymphopenie pausieren
Cladribin
RRMS
Zyklus bei Krankheitsstabilität verzögern
Pausieren; Therapiealternativen
Immunzelldepletion durch Pulstherapien
Rituximab
MG, NMOSD, PACNS, IIM, AIE, sekundäre ZNS-Vaskulitiden/Kollagenosen, CIDP
Zyklus bei Krankheitsstabilität verzögern; CD19-B-Zell-Monitoring
Pausieren; Therapiealternativen
Ocrelizumab
RRMS, PPMS
Zyklus bei Krankheitsstabilität verzögern, insbesondere bei PPMS CD19-B-Zell-Monitoring
Pausieren; Therapiealternativen
Inebilizumab
NMOSD
Zyklus bei Krankheitsstabilität verzögern; CD19-B-Zell-Monitoring
Pausieren; Therapiealternativen
Alemtuzumab
RRMS
Zyklus bei Krankheitsstabilität verzögern; Therapiealternativen
Pausieren; Therapiealternativen
Sequestrierung von Leukozyten in der Peripherie
Fingolimod/Ozanimod
RRMS
Fortsetzung
Fortsetzung, ggf. Pausieren für wenige Wochen
Siponimod
SPMS
Fortsetzung
Fortsetzung, Pausieren jedoch vertretbar
Natalizumab
RRMS
Fortsetzung, ggf. Zyklusverlängerung
Fortsetzung, ggf. Zyklusverlängerung
Pleiotrope Immunmodulation
Glatirameracetat
RRMS
Fortsetzung
Fortsetzung
Dimethylfumarat
RRMS
Fortsetzung; Pausieren bei ausgeprägter Lymphopenie
Fortsetzung; Pausieren bei ausgeprägter Lymphopenie
Zytokine als Immuntherapie
IFN‑β
RRMS, SPMS
Fortsetzung
Fortsetzung
Tocilizumab/Satralizumab
NMOSD
Fortsetzung
Fortsetzung
Komplementinhibition
Eculizumab
MG, NMOSD
Fortsetzung
Fortsetzung
Blockade intrazellulärer Signalwege
Ciclosporin A
MG, IIM
Fortsetzung
Fortsetzung, ggf. Dosisreduktion
Akuttherapien
GKS-Pulstherapie
MS, MG, NMOSD, PACNS, IIM, AIE, sekundäre ZNS-Vaskulitiden/Kollagenosen, Neurosarkoidose
Nur bei akuter Krankheitsaktivität
Pausieren, Dosisreduktion
GKS-Dauertherapie/Tapering
NMOSD, MG, PACNS, IIM, CIDP, sekundäre ZNS-Vaskulitiden/Kollagenosen, Neurosarkoidose
Bei Krankheitsstabilität Dosisreduktion erwägen
Bei Krankheitsstabilität Dosisreduktion erwägen
IVIG
MG, IIM, CIDP, GBS
Fortsetzung, ggf. Zyklusverlängerung
Fortsetzung, ggf. Zyklusverlängerung
Plasmapherese/Immunadsorption
MS, MG, NMOSD, AIE, IIM, GBS
Fortsetzung
Fortsetzung bei entsprechender Indikation
AIE Autoimmunenzephalitis, GBS Guillain-Barré-Syndrom, GKS Glukokortikosteroide, CIDP chronische
inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie, IFN‑β Betainterferon, IIM idiopathisch
inflammatorische Myopathie, IVIG intravenöse Immunglobuline, MG Myasthenia gravis,
MS multiple Sklerose, NMOSD Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankung, PACNS primäre
Angiitis des zentralen Nervensystems, PPMS primär chronisch progrediente multiple
Sklerose, RRMS schubförmig remittierende multiple Sklerose, SPMS sekundär chronisch
progrediente multiple Sklerose
2 Akute Enzephalopathie und akute Enzephalitis
Bearbeitet von Julian Bösel, Kassel
2.1 Enzephalopathie
Definition und Klassifikation
Die Enzephalopathie ist recht umfassend und auch etwas unscharf definiert als meist
reversible diffuse Hirnfunktionsstörung ohne strukturelle oder direkt (!) infektiöse
Ursache. Man unterscheidet die folgenden Enzephalopathien, die Zusatzangaben in Klammern
sind nur eine Auswahl möglicher Ursachen:
metabolische Enzephalopathie (bei Hormon- oder Stoffwechselentgleisungen)
toxische Enzephalopathie (bei Drogen- oder Medikamentenintoxikationen)
Wernicke-Enzephalopathie (bei Thiaminmangel)
hepatische Enzephalopathie (bei Leberversagen)
urämische Enzephalopathie (bei Nierenversagen)
septische Enzephalopathie (bei Sepsis)
hypoxische Enzephalopathie (bei Hypoxie, z. B. nach Herz‑/Lungenversagen)
Die Pathomechanismen sind dabei großteils nur lückenhaft verstanden. Systemische Infektionen
können eine septische oder über Multiorganversagen auch andersartige Enzephalopathie
triggern.
Für durch SARS-CoV‑2 getriggerte Enzephalopathien werden als Pathomechanismen diskutiert:
Sepsis, schwere systemische Inflammation, Nierenversagen und Zytokinsturm. Biomarker,
die in diesem Zusammenhang bei Patienten mit schwerer COVID-19 gefunden wurden, waren
u. a. IL‑2, IL‑6, IL‑7, GCSF, TNF-alpha [34].
Diagnostik
Die Symptome einer Enzephalopathie können sehr unterschiedlich sein. Häufig sind darunter:
neuropsychologische Auffälligkeiten (z. B. Wesensänderung, Fehlverhalten)
Agitation und Delir
extrapyramidal-motorische Bewegungsstörungen, Koordinationsstörungen
qualitative und quantitative Bewusstseinsstörungen
epileptische Anfälle
fokalneurologische Defizite
Bei Verdacht auf eine Enzephalopathie ist die folgende Zusatzdiagnostik indiziert:
Labordiagnostik (inkl. Elektrolyte, Nieren- und Leberwerte, BB, CRP, CK, NSE)
erweiterte Labordiagnostik (z. B. auf Hormone, Antikörper, Zytokine)
CT oder besser MRT (mit Frage nach strukturellen Läsionen und Hirnödem)
Lumbalpunktion und Liquoranalyse (zum Ausschluss Meningoenzephalitis)
EEG (zum Monitoring der diffusen Hirnfunktionsstörung, Klären von – auch subklinischen
– epileptischen Anfällen oder Status epilepticus)
ggf. Ganzkörper-CT (zur Suche nach Organstörung, Infektfoci oder Tumoren)
SSEP (zusätzlich bei hypoxischer E. zur Prognoseabschätzung)
Die Labordiagnostik ist nicht selten der entscheidende Schlüssel zu Diagnose und Differenzierung
der Enzephalopathie, die Liquordiagnostik dient eher dem Ausschluss der direkten Hirninfektion
oder dem Nachweis von Destruktionsmarkern nach Hypoxie. Das EEG ist sehr oft pathologisch,
wobei die Veränderungen von unspezifischen Allgemeinveränderungen über triphasische
Wellen (besonders bei hepatischen oder urämischen Enzephalopathien) bis zu eindeutigen
Anfalls- oder Statusmustern führen können. CT und MRT können normal sein, lokales
Hirnödem und/oder (multi-)fokale Kontrastmittelaufnahme zeigen oder auch hämorrhagisch-nekrotische
Veränderungen bieten. Bei der hypoxischen Enzephalopathie zeigen sich eine Entdifferenzierung
der Mark-Rinden-Grenze kortikal und im Bereich der Basalganglien, mitunter auch ein
generalisiertes Hirnödem.
Häufigere Differenzialdiagnosen zur Enzephalopathie sind Enzephalitis, Hirnvenen-
und Sinusthrombose, Hirntumoren oder -metastasen sowie Psychosen oder Delir.
Therapie
Die Therapie der Enzephalopathie richtet sich nach der Ursache und besteht z. B. bei
der septischen E. in der Sepsistherapie, bei der metabolischen E. im Ausgleich von
Glukose‑/Elektrolyt‑/Flüssigkeitshaushalt, bei der toxischen E. im Ausschalten der
Noxe. Eine kausale Therapie bei hypoxischer E. ist nicht bekannt, eine 24-stündige
Hypothermie kann versucht werden.
Die symptomatische Therapie besteht ganz besonders aus der Kontrolle der allgemeinen
Homöostase (Elektrolyte, Flüssigkeit, Temperatur), der neuroleptischen oder antidepressiven
Therapie von psychotischen Krankheitsanteilen, und der antikonvulsiven Therapie epileptischer
Anfälle. Bei schweren Verläufen ist eine supportive Intensivtherapie angebracht inklusive
ggf. Intubation und Beatmung, Thromboseprophylaxe, Neuromonitoring, ggf. eskalierende
Therapie von Hirnödem, erhöhtem intrakraniellem Druck und Status epilepticus.
Bei der SARS-CoV-2-getriggerten Enzephalopathie wäre die systemische Therapie der
Viruserkrankung entscheidend, die noch zu etablieren ist. Bei Vermutung autoimmuner
Krankheitsanteile könnten kombinierend Immuntherapien wie hochdosierte Kortikosteroide,
z. B. Dexamethason, und Plasmapherese angewandt werden, doch dies hat gegenwärtig
kein Empfehlungsniveau. Nicht selten wird es angesichts der kardiopulmonalen Dekompensation
bei schweren COVID-19-Verläufen zur hypoxischen Enzephalopathie kommen. Dann steht
neben der o. g. homöostasegerichteten Therapie und ggf. dem Einsatz von Levetiracetam,
Valproat oder Piracetam gegen postanoxische Myoklonien v. a. die Prognoseabschätzung
durch kombiniert Klinik, EEG, SSEP, CT und NSE im Vordergrund.
Enzephalopathien bei COVID-19
Die ersten Charakterisierungen allgemeiner COVID-19-Kohorten aus China boten auch
Symptome, die mit Enzephalopathien zu vereinbaren waren, wie Fatigue (23–73 %) oder
Übelkeit und Erbrechen (4–9 %; [35–38]). Studien, in denen gezielt nach neurologischen
Symptomen gefahndet wurde, beschrieben bei Aufnahme oder im Verlauf Schwindel (17 %),
Halluzinationen, Verwirrtheit, Dysexekutivstörungen (nach Intensivverlauf 36 %), Agitation
(im Intensivverlauf 69 %), Vigilanzminderung (8–15 %), epileptische Anfälle (1 %),
Ataxie (1 %), plötzliche neurologische Defizite (3 %), oder Pyramidenbahnzeichen (im
Intensivverlauf 67 %; [39, 40]).
In einer Serie aus Strasbourg berichteten Helms et al. bei 58 Patienten mit schweren
Verläufen (ARDS und Intensivbehandlung) unterschiedliche ZNS-Manifestationen, großteils
während der Unterbrechung einer Analgosedierung, wie Delir oder kortikale Dysfunktionen.
Paraklinisch zeigten 8 dieser Patienten eine diffuse Hirnfunktionsstörung im EEG,
von 13 Patienten 11 Perfusionsstörungen (3-mal mit akuter zerebraler Ischämie) und
8 in der MRT ein leptomeningeales Enhancement. Die Liquoranalyse bei 7 Patienten war
ohne Virusnachweis [41]. Die Autoren mutmaßten, dass die neurologischen Symptome Folgen
einer übermäßigen Zytokinausschüttung oder der Intensivtherapie sind. Ein Zytokinsturm
mag auch dem eindrucksvollen Fallbericht einer COVID-19-assoziierten akuten hämorrhagisch-nekrotisierenden
Enzephalopathie zugrunde gelegen habe, die Poyiadji et al. bei einer Ende 50-jährigen
Patientin in Detroit gefunden hatten. Nach 3 Tagen Fieber, Husten und Verwirrtheit
kam es zu einem schweren respiratorischen Versagen unter der Diagnose von COVID-19.
Die CT zeigte bithalamische Hypodensitäten, die MRT bilaterale mesiotemporale und
ausgeprägte thalamische Hyperintensitäten in der FLAIR-Wichtung, thalamische Hämorrhagien
in der Suszeptibilitätswichtung sowie ein Ring-Enhancement nach KM-Gabe. Eine Behandlung
mit IVIG wurde initiiert, der weitere Verlauf ist unbekannt [23]. Eine radiologische
Serie erbrachte mit Enzephalopathie kompatible MRT-Veränderungen wie Leukenzephalopathie
mit konfluierenden T2-Hyperintensitäten bei 10/11 und Mikroblutungen bei 7/11 New
Yorker COVID-19-Patienten mit persistierenden Bewusstseinsstörungen [42]. Im Fall
eines 74-jährigen Patienten mit vorbestehendem Schlaganfall, M. Parkinson und COPD
führte COVID-19 zu Kopfschmerz und Wesensänderung. Das EEG zeigte fokale Verlangsamungen
und scharfe Wellen, im Wesentlichen im Bereich der alten ischämischen Läsion. Die
Autoren schlossen angesichts einer unauffälligen Liquoranalyse auf eine Enzephalopathie
und starteten eine Behandlung mit Hydroxychloroquin und Lopinavir/Ritonavir, der Ausgang
ist nicht bekannt [43]. In einer Serie von 29 Intensivpatienten mit gesicherter COVID-19
aus der deutschen PANDEMIC-Studie, die sämtlich lumbalpunktiert wurden, zeigten 12/29
ein enzephalopathisches klinisches Bild, während der Liquor in den meisten Fällen
unauffällig war und in keinem Fall einen Virusnachweis per PCR zeigte [44]. Diese
Publikationen legen nahe, dass eine Enzephalopathie im Rahmen von COVID-19, gerade
bei schweren Verläufen, recht häufig vorkommt, dass die Präsentationen und Verläufe
aber höchst heterogen sind. Eine belastbare Grundlage für spezifischere Therapieempfehlungen
existiert noch nicht. Es müssen individuelle Behandlungen der Patienten auf Grundlage
der o. g. Diagnostik erfolgen.
2.2 Enzephalitis
Definition und Klassifikation
Die akute Virusenzephalitis ist die direkte Infektion des Hirngewebes mit einem Virus.
Das Virus kann dabei selbst durch lytische Replikationszyklen schädigend auf Hirnzellen
wirken oder durch die zytotoxische Immunantwort des Wirtsorganismus. Daneben kann
die Virusenzephalitis über die virus- oder wirtsvermittelten Begleitreaktionen (erhöhte
Hirntemperatur, Hirnödem, Elektrolyt- und Neurotransmitterdisbalancen u. v. m.) funktionell
schädigend auf das Gehirn wirken. Oft sind auch die Hirnhäute mitbeteiligt, weshalb
dann meist treffender von einer Meningoenzephalitis zu sprechen ist. Auch das Rückenmark
kann isoliert oder zusätzlich betroffen sein, was als Myelitis oder Enzephalomyelitis
bezeichnet wird. Die wichtigste Virusenzephalitis ist wegen ihres schweren, mitunter
hämorrhagisch-nekrotischen Verlaufs und ihrer kausalen Behandelbarkeit die Herpes-simplex-Virus-Enzephalitis
(HSVE). Neben den Herpesviren sind andere häufige Virusgruppen, die eine Enzephalitis
hervorrufen können, Enteroviren, Paramyxoviren und Arboviren.
Auch Coronaviren rufen Enzephalitiden hervor, wie schon während der SARS-und MERS-Epidemien
in klinischen und tierexperimentellen Studien nachgewiesen wurde [45]. Wege der Neuroinvasion,
die für SARS-CoV‑2 als relevant angesehen werden, sind hämatogen über oder entlang
der Blut-Hirn-Schranke (BHS) oder über Blutzellen als Transporter („Trojaner“), lymphatisch,
transneuronal bzw. transsynaptisch über Nervenverbindungen zur Riechschleimhaut, über
Hirnnerven mit Verbindungen zum Nasen-Rachen-Raum oder Atemwegen sowie Nerven des
Darmnervensystems [6, 34, 46, 47].
Eine akute Enzephalitis kann auch erregerunabhängig bestehen und wird dann gewöhnlich
Autoimmunenzephalitis genannt. Es ist zwar prinzipiell denkbar, dass systemische Virusinfektionen
solche Autoimmunenzephalitiden triggern, auch verzögert postinfektiös. Ob dies in
relevantem Ausmaß auch infolge einer Infektion mit SARS-CoV‑2 auftreten kann, ist
aktuell noch unklar.
Diagnostik
Zu Beginn der Diagnostik steht die Erfassung der klinischen Präsentation. Bei folgenden
Symptomen sollte an eine Virusenzephalitis gedacht werden, mitunter – aber nicht zwingend
– nach einer „grippalen“ Prodromalphase von 1–4 Tagen:
Kopfschmerz, ohne oder mit nur geringer Nackensteifigkeit
Fieber
psychische Auffälligkeiten, Verwirrtheit, selten Halluzinationen
qualitative oder quantitative Bewusstseinsstörungen
fokale oder generalisierte epileptische Anfälle, ggf. Status epilepticus
fokalneurologische Defizite (z. B. Sprachstörungen, Lähmungen, Koordinationsstörungen,
Blickstörungen)
Die folgende Zusatzdiagnostik ist bei Verdacht auf eine Virusenzephalitis indiziert:
Routinelabor mit Blutbild und Infektionsparametern
Lumbalpunktion und Liquoranalyse (mit Zellzahl, Gesamteiweiß, Laktat, Immunglobulinen,
oligoklonalen Banden) und Erregerdiagnostik (RT-PCR auf SARS-CoV-2)
Magnetresonanztomographie (MRT)
Elektroenzephalographie (EEG)
Das EEG ist so gut wie immer pathologisch, wobei die Veränderungen von eindeutigen
Anfalls- oder Statusmustern und Herdbefunden bis zu recht unspezifischen Allgemeinveränderungen
reichen. Das MRT kann normal ausfallen, lokales Hirnödem und/oder (multi-)fokale Kontrastmittelaufnahme
zeigen. Der Nachweis der Enzephalitis gelingt dann meist über den Liquor, der oft
eine leichte Erhöhung der Zellzahl auf 10–30/µl, eine geringe Eiweißvermehrung bis
etwa 0,7 g/l und eine nur geringe Laktaterhöhung zeigt, dazu ggf. eine intrathekale
Immunglobulinsynthese. Der PCR-Nachweis des Virus im Liquor beweist die spezifische
Enzephalitis, misslingt aber nicht selten trotz wiederholter Versuche auch bei direkter
Virusinvasion.
Häufigere Differenzialdiagnosen der akuten Virusenzephalitis sind die Hirnvenen- und
Sinusthrombose, Hirntumoren oder -metastasen sowie Psychosen oder Delir.
Therapie
Für viele akute Virusenzephalitiden steht keine kausale Therapie zur Verfügung, nennenswerte
Ausnahmen bilden Aciclovir oder Foscarnet bei HSVE oder Varizella-Zoster-Virus(VZV)-Enzephalitis.
Potenzielle antivirale Medikamente gegen SARS-CoV‑2 befinden sich aktuell in der Erprobung.
Für die Behandlung einer SARS-CoV-2-Enzephalitis wäre wichtig, dass diese BHS-gängig
sind.
Die zusätzliche Therapie mittels Glukokortikoiden konnte bisher nicht als eindeutig
vorteilhaft nachgewiesen werden. Die symptomatische Therapie besteht u. a. aus Kontrolle
der allgemeinen Homöostase (Elektrolyte und Flüssigkeit), dem Einsatz von Analgetika
und Antipyretika, der neuroleptischen oder antidepressiven Therapie von psychotischen
Krankheitsanteilen und der antikonvulsiven Therapie epileptischer Anfälle. Bei schweren
Verläufen ist eine supportive Intensivtherapie angebracht inklusive ggf. Intubation
und Beatmung, Thromboseprophylaxe, Neuromonitoring, ggf. eskalierende Therapie von
Hirnödem, erhöhtem intrakraniellem Druck und Status epilepticus.
Zusammenfassung der wichtigsten (evidenzbasierten) Erkenntnisse
Im Folgenden werden nur Arbeiten zusammengefasst, die COVID-19-assoziierte Enzephalitiden
im Sinne der o. g. Definition berichteten, während solche, die zwar den Begriff Enzephalitis
anführten, bei denen aber wohl eher eine Enzephalopathie vorlag, im Folgenden nicht
besprochen werden.
Von COVID-19-Fallserien zu Symptomen, die prinzipiell für eine Enzephalitis suggestiv
waren, sind insbesondere Studien zu nennen, in denen gezielt nach neurologischen Symptomen
gefahndet wurde. Diese beschrieben bei Aufnahme oder im Verlauf (plötzliche) Geruchs-
und Geschmacksstörungen (10–70 %), Kopfschmerzen (13 %), Schwindel (17 %), Halluzinationen,
Verwirrtheit, Dysexekutivstörungen (nach Intensivverlauf 36 %), Agitation (im Intensivverlauf
69 %), Vigilanzminderung (8–15 %), Neuralgie (2 %), epileptische Anfälle (1 %), Ataxie
(1 %), plötzliche neurologische Defizite (3 %) oder Pyramidenbahnzeichen (im Intensivverlauf
67 %), allerdings mehrheitlich ohne Liquoranalyse, sodass das Vorliegen einer akuten
Virusenzephalitis nicht sicher beurteilt werden kann [39, 40, 48]. Die Fallserie (58 Patienten)
von Helms et al. beinhaltete unter 7 lumbalpunktierten Patienten einen Patienten mit
erhöhtem Liquorprotein und intrathekaler IgG-Produktion, sodass hier möglicherweise
eine Enzephalitis vorlag [40].
Der Beweis des direkten Befalls des zentralen Nervensystems wurde wohl erstmalig bei
einem japanischen Patienten mit Meningoenzephalitis geführt, bei dem nach einem fieberhaften
Verlauf mit starker Müdigkeit über wenige Tage epileptische Anfälle aufgetreten waren.
Der Patient entwickelte im Verlauf eine schwere Pneumonie. Die Liquoranalyse zeigte
12 mono-/polynukleäre Zellen/µl und erbrachte den Nachweis von SARS-CoV‑2, während
ein Rachenabstrich negativ ausgefallen war. In der MRT boten sich DWI-Hyperintensitäten
der Ventrikelwand, FLAIR-Hyperintensitäten mesiotemporal und hippocampal. Der Patient
wurde neben der pulmonal dominierten Intensivtherapie hinsichtlich seiner Enzephalitis
unter anderem mit Aciclovir, später Favipiravir und Steroiden sowie dem Antikonvulsivum
Levetiracetam behandelt. Der Ausgang der Behandlung bleibt unklar [49]. Ein weiterer
Fall mit Meningoenzephalitis und Virusnachweis im Liquor soll im Ditan Hospital Beijing,
China, gelungen sein, wurde aber nicht über Peer-Review veröffentlicht. Der Fall eines
40-jährigen Patienten mit Fieber, Synkope und anschließenden enzephalitischen Symptomen
zeigte nach nasopharyngealem positivem SARS-CoV-2-Test zunächst einen negativen und
später einen positiven Virusnachweis im Liquor. Unter Hydroxychloroquin besserten
sich die Symptome, sodass er nach 12 Tagen neurologisch unauffällig war [50]. Am Mt
Sinai Hospital New York erfolgte der autoptische Nachweis von SARS-CoV‑2 im Frontallappen
einer 74-jährigen Parkinson-Patientin, die mit Zunahme von Tremor und Gangstörung,
Fieber sowie Verwirrtheit vorgestellt wurde und bei COVID-19-Diagnose innerhalb von
11 Tagen nach schwerem respiratorischem Verlauf verstorben war. Die neuropathologische
Aufarbeitung zeigte nicht nur Viruspartikel in den Vakuolen von Neuronen, sondern
auch Vesikel mit Virusmaterial in benachbarten Endothelzellen als möglichen Hinweis
auf eine hämatogene Einwanderung [51]. Weitere neuropathologische Detektionen von
SARS-CoV‑2 in den Gehirnen verstorbener COVID-19-Patienten (8 von 22) wurden in einer
Hamburger Serie berichtet [52]. Der kürzliche MRT-Fallbericht einer Patientin mit
positivem nasopharyngealem SARS-CoV-2-Nachweis und Anosmie zeigte transiente Signalauffälligkeiten
im Bulbus olfactorius und Gyrus rectus als starken paraklinischen Hinweis auf eine
transnasale Neuroinvasion [53]. Ohne zentralen Virusnachweis, aber doch mit Zeichen
einer Enzephalitis waren 2 Fälle aus Lausanne: Eine 64-jährige, im Verlauf COVID-19-diagnostizierte
Patientin entwickelte nach 5 Tagen mit grippalen Symptomen akut psychotische Symptome
und tonisch-klonische Anfälle bis hin zum nichtkonvulsiven Status epilepticus. Klinisch
standen im Weiteren Desorientiertheit, Perseverationen und Wahn im Vordergrund. Eine
67-jährige Patientin hatte schon seit 17 Tagen COVID-19, als sie starken Kopfschmerz
entwickelte, danach eine Bewusstseinstrübung und Verwirrtheit, Perseverationen, Aggressivität,
Hemianopsie und sensiblen Hemineglekt. In beiden Fällen war das MRT normal; der Liquor
blieb ohne Virusnachweis, zeigte aber eine lymphozytäre Zellzahlerhöhung von 17 bzw.
26/µl und ein erhöhtes Gesamteiweiß, also Befunde einer Enzephalitis. Beide Patientinnen
erholten sich unter supportiver konservativer Therapie [54]. Die Enzephalitis eines
60-jährigen COVID-19-Patienten mit Fieber, Wesensänderung, Verwirrtheit und einem
schweren akinetischen Syndrom zeigte sich durch eine anhaltende mäßige Pleozytose
und Eiweißerhöhung im Liquor, allerdings ohne Virusdetektion. Auch inflammatorische
Marker im Liquor wie IL‑8, TNF‑α, und Betamikroglobulin waren erhöht nachweisbar,
das EEG war auffällig, das MRT normal. Unter zunächst hochdosierter, später ausschleichender
Steroidtherapie und Hydroxychloroquin erholte sich der Patient innerhalb von 11 Tagen,
während wiederholte Lumbalpunktionen prolongiert eine entzündliche Liquorkonstellation
zeigten [55]. 6 von 29 beatmeten intensivstationären türkischen COVID-19-Patienten
mit ZNS-Affektion boten teils MRT-Auffälligkeiten, teils Liquorauffälligkeiten (hohes
Eiweiß), die als Autoimmunenzephalitiden gewertet wurden, da sich kein Virusnachweis
im Liquor fand. Unter Plasmapheresebehandlung zeigten 5 von ihnen einen günstigen
Verlauf [56]. In einer Serie von 29 Intensivpatienten mit COVID-19 und unterschiedlichen
neurologischen Manifestationen aus der deutschen PANDEMIC-Studie, die sämtlich lumbalpunktiert
wurden, fanden sich zwar bei 4/29 eine erhöhte Zellzahl, bei 5/29 ein deutlich erhöhtes
Liquoreiweiß (also gestörte Schrankenfunktion) und bei 3/29 ein erhöhtes Liquorlaktat,
also kombiniert entzündliche Veränderungen, aber in keinem Fall ein Virusnachweis
per PCR im Liquor [44].
Diese Fallserien und -berichte demonstrieren zwar die prinzipielle Möglichkeit eines
direkten ZNS-Befalls durch SARS-CoV‑2, erlauben aber keine zuverlässige Aussage über
Häufigkeit und Relevanz für den Verlauf. Angesichts der großen Zahl von Infektionsfällen
weltweit scheint die Zahl der Publikationen zu akuten Virusenzephalitiden gering,
sodass anzunehmen ist, dass die direkte im Gegensatz zur indirekten Affektion des
ZNS wohl eher ein seltenes Ereignis ist. Allerdings können neurologische Manifestationen
inklusive Enzephalitis leicht unerkannt bleiben bei schwer betroffenen intensivpflichtigen
und analgosedierten Patienten mit dominierender Atemstörung, sodass die Zahlen evtl.
falsch-niedrig sind, zumal auch der ausbleibende Virusnachweis im Liquor nicht immer
die spezifische Enzephalitis ausschließt.
Aktuell ist eine Empfehlung zur kausalen Therapie nicht möglich. Symptomatische bzw.
supportive Therapiemaßnahmen bei akuter SARS-CoV-2-Enzephalitis sollten sich individuell
am klinischen Befund und den Ergebnissen der o. g. Diagnostik orientieren.
3 Zerebrovaskuläre Erkrankungen
Bearbeitet von Götz Thomalla, Hamburg, und Christian Nolte, Berlin
Definition und Klassifikation
Die SARS-CoV-2-Pandemie betrifft direkt und indirekt die Versorgung zerebrovaskulärer
Erkrankungen. Es wird diskutiert, dass eine SARS-CoV-2-Infektion mit dem vermehrten
Auftreten von zerebrovaskulären Erkrankungen wie ischämischen Schlaganfällen und intrazerebralen
Blutungen assoziiert sein könnte. Zahlreiche Berichte legen eine Verschlechterung
der Versorgung von Patienten mit zerebrovaskulären Erkrankungen aufgrund der besonderen
Inanspruchnahme der Gesundheitssysteme während der Pandemie dar. Auswirkungen auf
die Versorgung sind direkt und indirekt durch Umverteilung von Ressourcen zugunsten
von SARS-CoV-2-Infizierten und Schutzmaßnahmen für die Patienten und das versorgende
Personal erkennbar. Sie betreffen das Handeln der Laien (z. B. Angst vor Ansteckung
im Krankenhaus), den Transport ins Krankenhaus und die intrahospitale Notfallversorgung
bis hin zur Rehabilitation.
Epidemiologie/Datenlage
SARS-CoV-2 als Risikofaktor für einen Schlaganfall
Verschiedene Fallserien berichten Raten ischämischer Schlaganfälle bei hospitalisierten
COVID-19-Patienten zwischen 1,6 und 5 %. Im Einzelnen lagen die Zahlen von ischämischen
Schlaganfällen bei 3 von 184 (1,6 %) in einer niederländischen Fallserie [57], 9 von
362 (2,5 %) in einer Fallserie aus Mailand, Italien [39], und 6 von 214 (2,8 %) [58]
bzw. 11 von 221 (5 %) [59] in 2 Fallserien aus Wuhan, China. Die Rate zerebrovaskulärer
Ereignisse war dabei höher bei Patienten mit schweren respiratorischen Verläufen,
und Patienten mit zerebrovaskulären Ereignissen wiesen häufig klassische vaskuläre
Risikofaktoren auf, wobei auch eine erhöhte Rate kryptogener Schlaganfälle berichtet
ist. In einer retrospektiven Kohortenstudie an 2 New Yorker Krankenhäusern kamen die
Autoren zu dem Schluss, dass Patienten mit SARS-CoV-2-Infektion ein höheres Risiko
für das Auftreten eines akuten, ischämischen Schlaganfalls haben als Patienten mit
Influenzainfektion [60]. Eine weitere Analyse zeigte eine Rate von 32/3556 (0,9 %)
bildgebend nachgewiesenen Schlaganfällen bei hospitalisierten SARS-CoV-2-Infizierten.
Schlaganfallsymptome waren aber nur bei 14/3556 (0,4 %) der initiale Aufnahmegrund
gewesen [61].
Insgesamt scheinen die Schlaganfallraten in diesen Fallserien damit in einem Bereich
zu liegen, welcher für Patienten mit schweren Infektionserkrankungen nicht ungewöhnlich
ist. Ein Hinweis auf ein spezifisch erhöhtes Schlaganfallrisiko bei Infektion mit
SARS-CoV‑2 ergibt sich aus diesen Zahlen daher aktuell nicht. Denkbar ist eine solche
Assoziation allerdings, und als mögliche Ursache werden eine Aktivierung des Gerinnungssystems,
eine disseminierte intravasale Gerinnung sowie vaskuläre Komplikationen als Ausdruck
schwerer sonstiger Organschäden diskutiert, wie sie auch bei anderen schweren Virusinfektionen
bekannt sind. In der Studie aus Wuhan wiesen die Patienten mit schweren respiratorischen
Verläufen insgesamt höhere D‑Dimer-Spiegel auf, welche eine mögliche Verbindung zur
erhöhten Schlaganfallrate bei diesen Patienten darstellen. Die höhere Schlaganfallrate
bei schwerer betroffenen Patienten könnte allerdings auch einem Selektionsbias geschuldet
sein, da es v. a. multimorbide Patienten mit kardiovaskulären Risikofaktoren sind,
die schwere Verläufe von COVID-19 zeigen.
In einer Fallserie (n = 5) aus New York wurde eine Häufung junger Schlaganfallpatienten
mit großem Gefäßverschluss berichtet, welche mittels Thrombektomie behandelt wurden
[62]. Bemerkenswert an dieser Fallserie ist die Tatsache, dass die Patienten zumeist
keine schweren respiratorischen Symptome zeigten. Weiterhin beunruhigend ist die Beobachtung,
dass 4 dieser 5 Patienten sich mit ihren Schlaganfallsymptomen nur verzögert zur Behandlung
im Krankenhaus vorstellten. Die Verzögerung wurde mit einer Angst vor Ansteckung im
Krankenhaus erklärt. Es bleibt abzuwarten, ob dies nur eine zufällige lokale Häufung
einer bestimmten Patientengruppe darstellt oder den Hinweis auf eine besondere Risikokonstellation.
Zum Zeitpunkt der Recherche dieser Leitlinie hatte keine andere Arbeitsgruppe ähnliche
Häufungen von jungen Patienten mit großen Gefäßverschlüssen und zeitgleicher SARS-CoV-2-Infektion
beschrieben.
Auch das Auftreten intrazerebraler Blutungen bei Patienten mit COVID-19 ist berichtet
[39], hier ist die Datenlage jedoch noch stärker begrenzt und lässt keine zuverlässige
Einschätzung der Häufigkeit zu.
Patienten mit zerebrovaskulären Erkrankungen in der Anamnese haben ein höheres Risiko
für einen schwereren Verlauf der COVID-19-Erkrankung. In einer Metaanalyse der verfügbaren
Arbeiten zum Thema war ein Schlaganfall in der Vorgeschichte mit einem 2,5-fach erhöhten
Risiko für einen schweren Erkrankungsverlauf und einem Trend zu höherer Mortalität
assoziiert [63].
Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie auf die Versorgung von Patienten mit Schlaganfall
Die COVID-19-Pandemie hat weltweit Einfluss auf die Organisation der Schlaganfallversorgung.
Hier spielen 2 Faktoren eine wesentliche Rolle: Zum einen wurden an vielen Orten Ressourcen
der akuten Versorgung von Schlaganfallpatienten zugunsten der Versorgung von Patienten
mit COVID-19 umverteilt. Diese Ressourcen fehlten in der Versorgung der Schlaganfallpatienten.
Zum Zweiten ist zu beobachten, dass die Anzahl der in Krankenhäusern behandelten Schlaganfallpatienten
im Verlauf der COVID-19-Pandemie an vielen Orten deutlich zurückging. So wurden in
der Elsass-Region im März 2020 im Vergleich zum Vorjahr 40 % weniger Alarmierungen
wegen Schlaganfall, 41 % weniger i.v. Thrombolysen und 33 % weniger Behandlungen mit
Thrombektomie beobachtet [64]. Ähnliche Zahlen wurden aus Italien berichtet, wo die
Zahl von hospitalisierten Schlaganfallpatienten um 50 % und die der Thrombolysen um
25 % sanken [65]. Auch aus China wurden eine Abnahme von Krankenhauseinweisungen wegen
Schlaganfall um 40 % und eine Abnahme der Thrombolysezahlen um 25 % berichtet [66].
Als wesentliche Ursachen hierfür werden die Verunsicherung der Bevölkerung und die
Angst von Patienten vor einer Infektion bei Behandlung im Krankenhaus angenommen.
Diagnostik
Generell
Die Versorgung von Patienten mit SARS-CoV‑2 und zerebrovaskulären Erkrankungen sollte
interdisziplinär mit allen beteiligten Abteilungen koordiniert werden, insbesondere
mit COVID-Behandlern, der Abteilung für Radiologie und der Abteilung für Kardiologie
[67].
Die Exposition gegenüber SARS-CoV-2-positiven Patienten muss sowohl für das Personal
als auch für Mitpatienten minimiert werden. Dies kann bedeuten, dass das Pflegende-zu-Patienten-Verhältnis
angepasst wird, telemedizinische Verfahren eingebunden werden, Besuchsmöglichkeiten
begrenzt werden und ausreichendes Schutzmaterial zur Verfügung steht. Um Exposition
zu vermeiden, muss Exposition bekannt sein. Alle Patienten sollten deshalb generell
auf SARS-CoV‑2 gescreent werden. Die Befundung des SARS-CoV-2-Screenings sollte zeitnah
und prioritär erfolgen.
Anmerkung: Die Kernaussage „Bei jedem Schlaganfall sollte umgehend auf SARS-CoV‑2
getestet werden“ fand in der Expertengruppe keine Zustimmung, 30 %.
Patienten mit SARS-CoV-2-Infektion
Bei Patienten mit SARS-CoV-2-Infektion sollten behandelnde ÄrztInnen nach neurologischen
Komplikationen fragen und daran denken, dass zerebrovaskuläre Erkrankungen bei diesen
Patienten nicht selten sind. Insbesondere Patienten mit Komorbiditäten stellen eine
Risikogruppe für das Auftreten zerebrovaskulärer Komplikationen dar. Bei klinischen
Hinweisen sollten unverzüglich eine neurologische Konsultation erfolgen und eine entsprechende
bildgebende Diagnostik mittels CT oder MRT durchgeführt werden. Es ist vorteilhaft,
ein CT-Gerät speziell und ausschließlich für die Diagnostik von Patienten mit SARS-CoV-2-Infektion
vorzuhalten, um Ansteckungsmöglichkeiten zu minimieren.
Patienten mit zerebrovaskulärer Erkrankung und COVID-19
Die entsprechende Leitlinie zur Diagnostik bei zerebrovaskulären Erkrankungen (Diagnostik
akuter zerebrovaskulärer Erkrankungen, AWMF-Registernummer 030/117) hat ihre Gültigkeit
auch für Patienten mit COVID-19-Infektion (u. a. zerebrale Bildgebung, Neurosonographie,
kardiale Diagnostik, EKG inkl. Langzeit-EKG-Monitoring).
Um die Ansteckungsgefahr für das versorgende Personal zu begrenzen, sollte die Personalfluktuation
begrenzt werden (z. B. ein festes Stroke-COVID-Team). Hygienestandards sollten eine
angemessene Schutzkleidung beinhalten. Patienten mit COVID-19 können, sofern dies
toleriert wird, eine Mund-Nase-Bedeckung tragen. Um die Übertragung auf andere Patienten
noch besser zu verhindern, sollten sie isoliert werden. Es können Stationsbereiche
für Patienten mit zerebrovaskulärer Erkrankung und COVID-19 ausgewiesen und für diese
Patienten reserviert werden.
Patienten mit zerebrovaskulären Erkrankungen ohne COVID-19
Patienten mit zerebrovaskulären Erkrankungen ohne (bekannte) COVID-19-Infektion sollten
auf SARS-CoV‑2 gescreent werden, um eine Infektion frühzeitig zu erkennen und Isolationsmaßnahmen
ergreifen zu können. Der Einsatz von Telemedizin kann das Infektionsrisiko durch Reduktion
von Transporten verringern.
Therapie
Akuttherapie
Die Leitlinie der DGN zur Akuttherapie von Patienten mit akutem ischämischem Schlaganfall
hat auch bei Patienten mit SARS-CoV-2-Infektion Gültigkeit (Akuttherapie des ischämischen
Schlaganfalls – Rekanalisierende Therapie [Ergänzung 2015], AWMF-Registernummer 030/140).
Patienten sollen eine Akutbehandlung mit intravenöser Thrombolyse oder Thrombektomie
erhalten, sofern diese indiziert ist.
Periinterventionelles Management bei Thrombektomie
Die Akutbehandlung des schweren Schlaganfalls muss lückenlos unter Schutzmaßnahmen
erfolgen. Dies gilt insbesondere für die Thrombektomie in der Zusammenarbeit von Neurologen,
interventionellen Neuroradiologen, Anästhesisten und Pflegekräften wegen der Nähe
zum Patienten und der Gefahr der Aerosolverbreitung. Mehrere mit diesem Setting betraute
Fachgesellschaften haben hierzu Empfehlungen herausgegeben. Dazu zählen die Einordnung
jedes Patienten als prinzipiell COVID-19-verdächtig mit der Notwendigkeit umgehender
Testung, die Bevorzugung einer Intubationsnarkose (zur Vorbeugung einer möglichen
unkontrollierten Notfallintubation während der Intervention), die videolaryngoskopische
Intubation in Räumlichkeiten mit Absaugung, die Reduktion der Beteiligten auf die
wirklich notwendige Anzahl und die Verwendung von persönlichem Schutz- und Barrierematerial
für Patient und Behandler [68–72].
Sekundärprävention
Die Leitlinien der DGN zur Sekundärprävention bei Patienten mit ischämischem Schlaganfall
haben auch bei Patienten mit SARS-CoV-2-Infektion Gültigkeit. Dies betrifft sowohl
die medikamentöse Sekundärprävention als auch die nicht medikamentösen Maßnahmen.
Bei Patienten mit schwerem Verlauf einer COVID-19-Erkrankung sollte der Beginn der
medikamentösen Sekundärprävention, z. B. mit oraler Antikoagulation, im Gesamtkontext
der Situation des Patienten und in Abstimmung mit den behandelnden Kollegen der Infektiologie
oder Intensivmedizin festgelegt werden.
Der Zeitpunkt für operative oder interventionelle Maßnahmen der Sekundärprävention
wie einer Thrombendarteriektomie der A. carotis oder dem Verschluss eines persistierenden
Foramen ovale sollte ebenfalls im Gesamtkontext der Situation des Patienten mit den
jeweils die Maßnahmen durchführenden Kollegen festgelegt werden. Hier kann es in der
Risikoabwägung sinnvoll sein, zunächst abzuwarten, bis der Patient die Infektion mit
SARS-CoV‑2 überstanden hat und kein Virus im Rachenabstrich mehr nachweisbar ist.
Versorgungskoordination
Patienten, die mit akutem Schlaganfall oder intrazerebraler Blutung ins Krankenhaus
kommen und bei denen der Nachweis von SARS-CoV‑2 erfolgt ist oder der Verdacht auf
eine Infektion besteht, müssen umgehend isoliert werden. Die Entscheidung, ob Patienten
auf einer neurologischen Stroke-Unit oder auf einer auf die Versorgung von Patienten
mit COVID-19 ausgelegten Station mit entsprechender Möglichkeit zum Monitoring behandelt
werden sollen, muss im Einzelfall in Abhängigkeit von den Gegebenheiten des Krankenhauses
(z. B. Möglichkeit zu und Erfahrung mit Isolation von Patienten mit SARS-CoV-2-Infektion
auf der Stroke-Unit) und der klinischen Situation des Patienten getroffen werden.
Die COVID-19-Pandemie und die damit einhergehenden Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung
allgemein und in Krankenhäusern im Besonderen dürfen nicht zu einer schlechteren Versorgung
von Schlaganfallpatienten führen. Schlaganfall ist unverändert eine Erkrankung mit
häufig dramatischen Folgen und eine der Hauptursachen für bleibende Behinderung oder
Tod. Bei aller notwendigen Ausrichtung des Gesundheitssystems auf die Versorgung von
COVID-19-Patienten muss auch weiterhin eine optimale Organisation der Versorgung von
Schlaganfallpatienten gewährleistet werden. Kliniken müssen durch entsprechende organisatorische
Maßnahmen sicherstellen, dass sie auch unter den besonderen Bedingungen der COVID-19-Pandemie
mit entsprechend notwendigen Schutz- und Hygienemaßnahmen die adäquate Versorgung
von Patienten mit zerebrovaskulären Erkrankungen gewährleisten können.
Zusammenfassung
Die aktuelle Pandemie des neuen Coronavirus SARS-CoV‑2 hat Auswirkungen auf alle Bereiche
der Medizin und betrifft direkt und indirekt auch die Versorgung zerebrovaskulärer
Erkrankungen. Ischämische Schlaganfälle und seltener auch intrazerebrale Blutungen
kommen bei Patienten mit COVID-19-Erkrankung vor und sind mit einem schwereren Verlauf
der Erkrankung assoziiert. Die behandelnden ÄrztInnen von COVID-19-Patienten sollten
mögliche zerebrovaskuläre Komplikationen erkennen können und ggf. unverzüglich die
notwendige Diagnostik veranlassen. Eine nachgewiesene Infektion mit SARS-CoV‑2 oder
der Verdacht auf eine solche dürfen nicht dazu führen, dass solche Patienten mit akutem
Schlaganfall schlechter behandelt werden als andere Schlaganfallpatienten. Unter Einhaltung
der entsprechenden Hygienemaßnahmen müssen sie die gleiche Akutdiagnostik und Akutbehandlung
erhalten wie alle Schlaganfallpatienten. Mit Sorge lässt sich beobachten, dass weltweit
die Anzahl der Patienten, die wegen eines Schlaganfalls im Krankenhaus behandelt werden,
unter der COVID-19-Pandemie zurückgegangenen ist. Es ist anzunehmen, dass dieser Rückgang
sich nur auf hospitalisierte Schlaganfallpatienten bezieht und nicht auf die wahre
Inzidenz zerebrovaskulärer Ereignisse und dass im Umkehrschluss viele Patienten in
der Pandemie keine adäquate Akuttherapie, Diagnostik, Sekundärprävention und Rehabilitation
erhalten. Es ist in der Pandemie eine wichtige Aufgabe für alle in der Schlaganfallversorgung
tätigen ÄrztInnen, die hohe Qualität der Versorgung zerebrovaskulärer Erkrankungen
in Deutschland auch unter den aktuell erschwerten Bedingungen bestmöglich aufrechtzuerhalten.
4 Epileptische Anfälle und Epilepsie bei Erwachsenen
Bearbeitet von Felix Rosenow, Frankfurt/Main
Definition und Klassifikation
2 klinische Situationen sind zu unterscheiden:
das erstmalige Auftreten von Anfällen bei COVID-19-Patienten und
das Auftreten einer COVID-19-Erkrankung bei einem Patienten mit bekannter Epilepsie
(Prävalenz 0,6–0,7 % der Bevölkerung).
Wenn während einer COVID-19-Erkrankung epileptische Anfälle auftreten, handelt es
sich:
A.
entweder um akut symptomatische Anfälle in Rahmen einer primären ZNS-Mitbeteiligung
durch SARS-CoV‑2 im Sinne einer Meningoenzephalitis oder auf dem Boden einer sekundären
ZNS-Schädigung, z. B. bei COVID-19-assoziiertem Schlaganfall oder ICB (z. B. unter
ECMO-Therapie). Akut symptomatische Anfälle sind definiert als epileptische Anfälle,
die innerhalb von 7 Tagen nach einer akuten Hirnschädigung auftreten [73]. Bei Meningoenzephalitiden
kann dieser Zeitraum länger sein, da die Erkrankung über längere Zeit aktiv (akut)
bleiben kann;
B.
oder es kommt gelegentlich vor, dass bei einer vorbestehenden Epilepsie anderer Ätiologie
im Rahmen einer COVID-19-Erkrankung Anfallsrezidive oder -häufungen auftreten [74–76].
Beides scheint nach der bislang vorliegenden Literatur aber relativ selten zu sein.
Lu et al. berichteten im April 2020 in Epilepsia Daten einer Kohorte von 300 schwer
erkrankten COVID-19-Patienten und beobachteten keine akuten symptomatischen Anfälle
[77, 78] In einer weiteren Untersuchung an 214 in Wuhan, China, stationär behandelten,
an COVID-19 erkrankten Patienten (41 % davon nach respiratorischen Kriterien schwer)
hatte ein Patient (0,5 %) einen akut symptomatischen Anfall erlitten [39]. Selten
können diese Anfälle auch als Status epilepticus auftreten [79].
Aus der letzten SARS-Epidemie ist zudem bekannt, dass Patienten mit einer chronischen
Epilepsie z. T. verminderten Zugang zu Ärzten und Medikamenten haben und dadurch Medikamentenentzugsanfälle
erleiden können [80]. Deswegen ist bei Patienten mit vorbestehender Epilepsie darauf
zu achten, dass stets Zugang zur ambulanten neurologischen Versorgung besteht und
dass ausreichend und rechtzeitig Antiepileptika verordnet werden, damit es nicht zu
Versorgungsengpässen kommt [75].
Diagnostik
Die Diagnostik entspricht derjenigen, welche bei einem ersten Anfall oder einem Status
epilepticus nach den relevanten DGN-Leitlinien erfolgt.
Anamnese und Fremdanamnese: Es ist zu klären, ob vor Auftreten der COVID-19-Erkrankung
bereits epileptische Anfälle aufgetreten sind bzw. ob eine chronische Epilepsie bestand
und ggf. welches Syndrom vorlag. Zudem ist zu klären, ob Risikofaktoren für eine Epilepsie
vorliegen und welche Vorerkrankungen und Begleitmedikationen bestehen.
EEG: Bei unklarer Bewusstseinsstörung oder V. a. aufgetretene epileptische Anfälle
ist die Durchführung eines EEG indiziert. Bei Patienten mit V. a. oder nachgewiesener
COVID-19-Erkrankung sollte von der Durchführung der Hyperventilation abgesehen werden,
um die Aerosolproduktion gering zu halten (Personalschutz) bzw. bei schwer betroffenen
Patienten diese nicht zu destabilisieren (Patientenschutz). Gesucht wird nach generalisierten
oder regionalen Verlangsamungen, Herdbefunden, epilepsietypischen Potenzialen und
Anfallsmustern. Das EEG oder ein EEG-Monitoring können auch zur Therapiekontrolle
eingesetzt werden. Dies ist besonders bei nichtkonvulsiven Status epileptici sinnvoll.
Bildgebung: Diese dient dem Nachweis epileptogener Läsionen und von Zeichen erhöhten
intrakraniellen Drucks, z. B. bei Enzephalitis, Hirnblutung oder akutem ischämischem
Schlaganfall. In der Akutsituation wird üblicherweise eine cCT durchgeführt werden.
Ist dies nicht ausreichend, so empfiehlt sich dringlich die Durchführung einer MRT,
da diese Methode sensitiver beim Nachweis epileptogener Läsionen und Prozesse ist.
Laboruntersuchungen: Neben den bei COVID-19 erforderlichen Untersuchungen dient dies
dem Nachweis und der Serumkonzentration von Antiepileptika (bei vorbekannter Epilepsie),
dem Ausschluss anderer Ursachen für akut symptomatische Anfälle wie z. B. Elektrolytentgleisungen
oder Intoxikationen [73]. Einzelheiten sind auch den beiden relevanten Leitlinien
zu entnehmen.
Liquoruntersuchungen: Wenn Anfälle im Rahmen einer COVID-19-Infektion auftreten, muss
durch Liquorentnahme eine Meningoenzephalitis als Ursache ausgeschlossen oder bestätigt
werden. Dabei sollte auch nach SARS-CoV-2-RNA gesucht werden [78, 81].
Therapie
Bei akutsymptomatischen Anfällen und Status epilepticus erfolgt die antiepileptische
Therapie entsprechend den beiden relevanten DGN-Leitlinien. Beim Status wird initial
in aller Regel die ausreichende Dosis eines Benzodiazepins gegeben. Bei einzelnen
Anfällen mit vollständiger anschließender Erholung ist die Therapie mit einem rasch
und breit wirksamen Antiepileptikum p.o. oder auch i.v. in der Regel ausreichend.
Daneben stellt die Therapie der anfallsauslösenden Grunderkrankung (sofern verfügbar)
die 2. Therapiesäule dar.
Im Verlauf der antiepileptischen Therapie bzw. bei vorbestehender Epilepsie mit Anfallszunahme
sind v. a. die Interaktionen von Antiepileptika mit COVID-19-Medikamenten zu beachten
[75]. Eine Auflistung der möglichen Interaktionen findet sich z. B. auf der Webseite
der DGfE und der „University of Liverpool“ (www.covid19-druginteractions.org).
Versorgungskoordination
Die Versorgungkoordination erfolgt wie beim ersten Anfall oder Status epilepticus
(SE). Die Erstversorgung erfolgt durch den Rettungsassistenten oder Notarzt, die weitere
stationäre Versorgung in einer neurologischen oder zentralen Notaufnahme durch den
zuständigen neurologischen ärztlichen Dienst (ÄD). Bei V. a. COVID-19-Infektion werden
betroffene Patienten in der Regel räumlich isoliert und durch den zuständigen oder
hinzugezogenen neurologischen ÄD versorgt bzw. in einem multidisziplinären Behandlungsteam
mitversorgt.
Infobox Relevante weitere Links
https://www.lice.it/pdf/Antiepileptic_drugs_interactions_in_COVID-19.pdf
www.ilae.org/patient-care/covid-19-and-epilepsy
www.aesnet.org/about_aes/position_statements/covid-19
www.covid19-druginteractions.org
5 Störungen der Chemosensorik: Anosmie, Ageusie
Bearbeitet von Stefan Isenmann, Moers, und Thomas Hummel, Dresden
Definition und Klassifikation
Bei den Riechstörungen werden Hyposmie (vermindertes Riechvermögen) und Anosmie differenziert,
wobei die komplette Anosmie den vollständigen Verlust des Riechvermögens bezeichnet,
wohingegen eine funktionelle Anosmie eine ausgeprägte Einschränkung des Riechvermögens
bezeichnet, bei der eine geringe, allerdings nicht alltagsrelevante Restwahrnehmung
noch bestehen kann. Als Parosmien (früher „Kakosmien“) werden veränderte Wahrnehmungen
von Gerüchen bezeichnet, als Phantosmien Wahrnehmung von Gerüchen ohne adäquate Reizquelle
(„Geruchshalluzinationen“). Als Ageusie wird ein völliger Verlust des Geschmacksinns
bezeichnet, Hypogeusie bezeichnet eine Minderung desselben [82].
Der Riechsinn erfüllt eine Reihe sehr grundlegender Funktionen, die im Alltag häufig
nur un- oder unterbewusst wahrgenommen werden [83].
Hierzu zählen insbesondere:
Nahrungsaufnahme (Aroma, Appetitanregung), aber auch Warnfunktion (Verdorbenes, Gift)
Wahrnehmung von Gefahren (z. B. Brandgeruch, Verwesung)
interpersonelle und soziale Kommunikation (z. B. Körpergerüche).
Bei der komplexen Geruchs- und Geschmackswahrnehmung beim Essen und Trinken wirken
Eindrücke aus 3 Sinneskanälen zusammen:
olfaktorisches System (N. olfactorius), mehrere Millionen olfaktorische Rezeptorneuronen,
die jeweils 1 von beim Menschen etwa 380 funktionellen Rezeptoren exprimieren [84–86]
gustatorisches System (N. facialis, N. glossopharyngeus, N. vagus), 5 Geschmacksqualitäten:
süß, sauer, salzig, bitter, umami (z. B. Glutamat)
N. trigeminus (Schärfe von z. B. Meerrettich, Senf; Konsistenz, Prickeln von Kohlensäure,
Temperatur)
Riecheindrücke sind komplex, weil durch das Ansprechen verschiedener Rezeptoren eine
Vielzahl unterschiedlicher Erregungsmuster im Bulbus olfactorius entsteht, die die
Qualität von Düften kodieren. Riecheindrücke entstehen, indem Gerüche entweder beim
Schnüffeln von außen zur Riechschleimhaut gelangen oder beim Essen und Trinken über
den Rachen (retronasal). Hierdurch kann die Diskriminierung von Störungen des Riechens
bzw. Schmeckens unscharf und schwierig sein.
Wichtige Ursachen einer Riechstörung sind entzündliche Erkrankungen der Nase wie die
chronische Rhinosinusitis, neurodegenerative Erkrankungen, insbesondere M. Parkinson
und Demenzen, sowie frontoorbitale Schädel-Hirn-Verletzungen. Riechstörungen in der
Folge viraler (grippaler) Infekte der oberen Atemwege sind als postinfektiöse Anosmien
seit Langem bekannt [87]. Postinfektiöse Anosmien sind nach Infektionen mit einer
Reihe von Erkältungsviren, u. a. Adeno- und Rhinoviren, beschrieben [88–90].
Häufig sind diese Anosmien mit nasalen Symptomen vergesellschaftet: Schnupfen, Niesen,
Rhinorrhö, Kongestion, Obstruktion. Eine Riechstörung bis zur Anosmie im Rahmen von
viralen Atemwegsinfekten kann insofern reine Begleiterscheinung des Infekts mit einer
mechanischen Verlegung der Atemwege sein. Pathophysiologisch kommen auch ein direkter
Virusbefall der Sinneszellen mit resultierender Funktionsstörung und Apoptose sowie
mögliche Folgen einer Immunreaktion in Frage.
Bei SARS-CoV‑2 geht die Riechstörung – anders als bei vielen anderen respiratorischen
Viren – überwiegend nicht mit Symptomen einer Rhinitis einher, sodass v. a. direkte
schädigende Effekte des Virus auf das olfaktorische System diskutiert werden.
Coronaviren sind neurotrop und können neuroinvasiv sein [45, 91, 92]. ACE2 ist ein
funktioneller Rezeptor für SARS-CoV‑1 [93]. In ACE2-transgenen Mäusen gelangt SARS-CoV‑1
über die Riechbahn in das Gehirn und führt dort zu neuronalem Zelltod ohne relevante
Entzündungsreaktion sowie zum Tod der Tiere [94]. Allerdings gibt es nur einen Fallbericht
einer anhaltenden Anosmie bei einer jungen Frau nach SARS durch SARS-CoV‑1 [95].
Auch SARS-CoV‑2 gelangt über ACE2 in Zellen und scheint ähnlich neurotrop zu sein
[34, 96, 97]. So kann möglicherweise eine Riechstörung bei COVID-19 Ausdruck einer
direkten Schädigung durch SARS-CoV‑2 auf Ebene des Riechepithels oder der Riechbahn
sein [98] – oder aber eine weiterreichende Invasion des ZNS über die Riechbahn in
das ZNS anzeigen, wie das für andere Viren bereits gezeigt wurde [99]. SARS-CoV‑2
wurde in Autopsien im menschlichen Gehirn nachgewiesen [100]. Daten über eine mögliche
längerfristige Persistenz im ZNS und ggf. längerfristige Folgen beim Menschen liegen
bislang nicht vor.
Störungen der Chemosensorik bei COVID-19
Die ersten Berichte von COVID-Patienten beschrieben ab Anfang 2020 zunächst schwer
betroffene, meist intensiv- und beatmungspflichtige Patienten aus China [101–103],
später aus Italien [104] und Deutschland [105]. Erstmals beschrieben Mao et al. neurologische
Symptome bei stationären COVID-19-Patienten, darunter bei 11/214 Patienten (5 %) Riechstörungen
[39]. Mildere Erkrankungsverläufe rückten erst im März 2020 in den Blickpunkt.
Aus dem Iran wurde eine Serie mit 10.069 ambulanten Patienten berichtet, von denen
48 % eine Anosmie angaben, davon 76 % mit plötzlichem Beginn. 83 % der Patienten mit
Anosmie gaben auch eine Ageusie an [106]. Ab Anfang April folgte eine Vielzahl von
Berichten über Riech- und Schmeckstörungen bei COVID-19 (Tab. 1 aus [107]). Die Arbeiten
sind ausgesprochen heterogen, in der Pandemie wurden z. T. noch vorläufige und widersprüchliche
Daten sehr rasch publiziert. Auch wenn Details daher nicht als abschließend geklärt
angesehen werden können, zeichnen sich einige wesentliche Punkte aktuell ab:
Riech- und Schmeckstörungen sind bei COVID-19 häufig.
Riech- und Schmeckstörungen bei COVID-19 kommen insbesondere bei leichteren Verlaufsformen
vor; häufiger bei vormals Gesunden, bei jungen Menschen; bei Frauen häufiger als bei
Männern.
Riech- und Schmeckstörungen können erstes (und seltener einziges) Symptom einer COVID-19-Erkrankung
sein.
Ob eine pathophysiologisch eigenständige gustatorische Störung zusätzlich zu einer
Riechstörung oder sogar unabhängig davon auftreten kann, ist noch strittig. Einige
Autoren vertreten die Ansicht, dass es sich vielmehr um den subjektiven Eindruck einer
(zusätzlichen) Schmeckstörung handeln dürfte, da bei einer Anosmie neben dem Riechen
durch Schnüffeln auch die retronasale Olfaktion bei der Nahrungsaufnahme beeinträchtigt
bzw. ausgefallen ist [108].
Riechstörungen bei COVID-19 sind häufig nicht mit Symptomen einer Rhinitis (Schnupfen,
Niesen, Rhinorrhö, Kongestion, Obstruktion) vergesellschaftet und unterscheiden sich
insofern phänomenologisch und womöglich auch pathophysiologisch von anderen postviralen
Riechstörungen.
Riechstörungen bei COVID-19 sind häufig deutlich ausgeprägt. Parosmien können initial
bzw. im Krankheitsverlauf und der Regenerationsphase vorkommen; Phantosmien sind seltener.
Diagnostik
In der Pandemie hat ein plötzlicher Riechverlust bei Patienten ohne nasale Obstruktion
eine Spezifität von 97 % und eine Sensitivität von 65 % für COVID-19 [109].
Damit sollte eine während der Pandemie neu auftretende Riechstörung/Anosmie (mit oder
ohne subjektiven Eindruck einer zusätzlichen gustatorischen Störung) unmittelbar Anlass
geben zu:
Selbstisolation/Quarantäne
Testung auf SARS-CoV‑2 (über telefonische Kontaktaufnahme mit Hausarzt/Gesundheitsamt)
Verwendung persönlicher Schutzausrüstung bei professionellem Kontakt mit Betroffenen
Aufgrund der epidemiologischen Bedeutung für die Kontrolle der Ausbreitung von SARS-CoV‑2
während der Pandemie sind Anamnese, Kontaktverfolgung, Schutzmaßnahmen für Kontaktpersonen
von besonderer Bedeutung.
Eine ausschließliche Selbstauskunft hinsichtlich Riech- oder Schmeckstörung korreliert
nur eingeschränkt mit objektiven Befunden [110]. Standardisierte Fragebögen können
die Diagnosesicherheit erhöhen [111]. Goldstandard ist die psychophysische Testung,
bei der für die Riechfunktion getestet werden: Riechschwelle (z. B. mit Rosenduftverdünnungsreihe),
Geruchsdiskrimination und Riechstoffidentifikation (z. B. mit Sniffin’ Sticks). Für
das Geschmacksempfinden werden die Qualitäten süß, sauer, salzig, bitter getestet.
Einschlägige Untersuchungen hierzu sind in Tab. 3 aus [107] zusammengestellt.
Aufgrund des Expositionsrisikos für den Untersucher einerseits und eher geringer individueller
Relevanz für die Patienten andererseits wird man allerdings in der Akutsituation in
der Regel auf die psychophysische chemosensorische Testung verzichten bzw. selbstständig
durchführbare Wegwerftestsysteme einsetzen, wie z. B. den Duftidentifikationstest
UPSIT-Test [112, 113]. Sofern dies (z. B. aus epidemiologischen Gründen und in Situationen,
in denen nicht unmittelbar mittels Rachenabstrich und RT-PCR auf SARS-CoV‑2 getestet
werden kann) erforderlich scheint, ist eine Selbsttestung der Patienten in häuslicher
Quarantäne mit haushaltsüblichen Riechstoffen und mit nach Anleitung selbst hergestellten
Schmecklösungen möglich [114, 115].
Bildgebung
Zwischenzeitlich mehren sich Berichte, die entweder eine Schleimhautschwellung mit
Sekret in der Olfaktoriusrinne (cCT, cMRT) oder Signalveränderungen in Bulbus und/oder
N. olfactorius (MRT) nachweisen. In Einzelfällen wurden auch Veränderungen im orbitofrontalen
Kortex beschrieben (Tab. 4 aus [107]). Die Relevanz dieser Befunde kann derzeit noch
nicht abschließend bewertet werden.
Verlauf und Therapie
Der Verlauf von Riech- und Schmeckstörungen bei COVID-19 wird als generell günstig
angesehen: Ein Großteil der Patienten berichtet eine vollständige bzw. weitgehende
Besserung binnen 2–3 Wochen. In ca. 10–20 % der Fälle bleiben relevante Einschränkungen
zurück (Tab. 2 aus [107]). Damit ist die Prognose wahrscheinlich günstiger als bei
postviralen Riechstörungen anderer Ätiologie. Eine Umfrage beschrieb bei 80 % der
Patienten nach einer postviralen Riechstörung (ohne weitere Differenzierung der Ätiologie)
eine gute Besserung innerhalb 1 Jahres [116]; andere Studien, in denen das Riechvermögen
gemessen wurde, berichteten über eine Besserung im etwa gleichen Zeitraum bei postviralen
Riechstörungen von ca. 30 % [117].
Sofern eine Riechstörung im Rahmen einer COVID-19-Erkrankung sich nicht binnen 4 Wochen
wieder weitgehend zurückgebildet hat, sollten eine neurologische und HNO-ärztliche
Vorstellung erfolgen, mit Anamnese (u. a. auch hinsichtlich konkurrierender/alternativer
Ursachen) und Untersuchung, i. d. R. nach negativem Rachenabstrich. In diesem Rahmen
erfolgen eine psychophysische Riech- und Schmecktestung, ergänzt durch Labordiagnostik,
Bildgebung und Endoskopie. Sofern eine Riechstörung länger anhält, kann eine Therapie
mit konsequentem, strukturiertem „Riechtraining“ versucht werden. Klassischerweise
werden hierzu eingesetzt: Rose, Zitrone, Eukalyptus, Gewürznelke [118].
Siehe auch gesonderte Online-Tabellen „Störungen der Chemosensorik bei COVID-19“ [107].
6 Neuromuskuläre Erkrankungen
Bearbeitet von Benedikt Schoser, München
Definition und Klassifikation
2 unterschiedliche Problembereiche müssen differenziert werden:
die Manifestation einer SARS-CoV-2-Infektion/COVID-19-Erkrankung am peripheren Nervensystem
oder der Muskulatur
und
die sekundäre Verschlechterung einer präexistenten neuromuskulären Erkrankung durch
eine SARS-CoV-2-Infektion/COVID-19-Erkrankung.
Myalgien, Fatigue und HyperCKämie stellen als Trias die häufigste Form (40–70 %) einer
Skelettmuskelaffektion in COVID-19-Kohorten dar [39, 119–122]. Eine Rhabdomyolyse
war bei 0,2 % und erhöhte CK-Werte waren bei 13,7 % der 1099 COVID-19-Patienten nachweisbar
[120, 123]. Bei bis zu 30 % der Erkrankten findet sich die CK-Erhöhung im Median bereits
nach 1–2 Tagen [39, 119–122]. Nur ein Fallbericht zum Auftreten einer möglichen Primärmanifestation
als Myositis im Rahmen einer SARS-CoV-2-Infektion ist publiziert [124].
Sekundäre Verschlechterungen neuromuskulärer Erkrankungen sind nur für die amyotrophe
Lateralsklerose (ALS) und die Myasthenia gravis publiziert [125].
In Italien wurden 3 Patienten mit Erstmanifestation einer azetylcholinrezeptorantikörperpositiven
Myasthenia gravis 5–7 Tage nach Beginn der fieberhaften SARS-CoV-2-Infektion beobachtet
[126].
Für das periphere Nervensystem sind Fallberichte und kleinere Fallserien zu SARS-CoV-2-getriggertem
Guillain-Barré-Syndrom (GBS) publiziert [19, 127, 128]. Innerhalb von 5–10 Tagen nach
Symptombeginn von COVID-19 kann sich ein GBS entwickeln. Ein Teil dieser Patienten
muss maschinell beatmet werden (siehe auch Abschn. 1.2). Zusätzlich sind wenige Patienten
mit Miller Fisher-Syndrom (MFS) oder mit einer Ophthalmoparese berichtet [120, 129].
Zur chronischen inflammatorischen demyelinisierenden Polyneuropathie (CIDP) gibt es
keine gesicherten Erkenntnisse in Bezug auf SARS-CoV-2/COVID-19 [125].
Eine intensivmedizinpflichtige COVID-19-Erkrankung mit invasiver Beatmung kann zur
sog. ICUAW („ICU-acquired weakness“ [ICU: Intensivstation]), einem Krankheitsbild,
bei dem die CIP („critical illness polyneuropathy“) und die CIM („critical illness
myopathy“) ineinandergreifen, führen [130]. Bei intensivpflichtigen COVID-19-Patienten
treten sehr häufig frühmotorische Defizite auf, die auf eine CIP und CIM zurückzuführen
sind. Die ICUAW-Inzidenz nimmt mit der Schwere und Dauer der intensivpflichtigen Erkrankung
zu und verstärkt sich durch Sepsis, Multiorganversagen, Hyperglykämie, parenterale
Ernährung und bestimmte Medikamente (Sedativa, Antibiotika, Kortikosteroide, Muskelrelaxanzien).
Das klinische Bild ist geprägt durch die Schwäche und Atrophie der gesamten Muskulatur,
inklusive der Atemmuskulatur, und Empfindungsstörungen [131–134].
Diagnostik
Bei ambulanten Patienten sollte unter entsprechenden Hygienemaßnahmen die Standarddiagnostik
neuromuskulärer Erkrankungen (Anamnese, klinische Untersuchung, EMG/NLG, Lungenfunktionsprüfung,
Kreatinkinasebestimmung, ggf. LP, ggf. MRT der Muskulatur, ggf. Muskelbiopsie) durchgeführt
werden. Auf Intensivstationen kann ebenfalls ein Bedside-EMG unter Beachtung der Hygienemaßnahmen
durchgeführt werden. Eine Magnetresonanztomographie der Muskulatur ist aufgrund des
hohen Aufwands, verbunden mit einem erhöhten Patientenrisiko bei intensivpflichtigen
Patienten und der erforderlichen Schlussdesinfektion des MRT-Geräts, in der Risiko-Nutzen-Abwägung
nur im Einzelfall indiziert. Bei dringendem Bedarf einer bildgebenden Untersuchung
kann eine Muskelsonographie erfolgen [125, 135, 136].
Therapie
Die Therapieempfehlungen für inflammatorische/autoimmunassoziierte Erkrankungen der
Muskulatur, der neuromuskulären Endplatte und des peripheren Nervens entsprechen denen
der aktuellen Leitlinien inklusive aller üblichen rasch wirksamen therapeutischen
Maßnahmen einschließlich Plasmaphereseverfahren und der Gabe von Immunglobulinen.
Eine symptomatische (z. B. Pyridostigmin und 3,4-Diaminopyridin/Fampridin) Behandlung
und die immunmodulierende Therapie einschließlich der Gabe von Steroiden bis hin zu
Eculizumab können unter Abwägung des Nutzen-Risiko-Profils fortgeführt werden. Die
Gabe von Rituximab oder die Einleitung einer oralen Langzeitimmunsuppression sollte
in Abhängigkeit vom klinischen Zustand des Patienten und der Anamnese ggf. verschoben
werden [125, 137, 138].
Für alle Patienten gelten die gleichen Risikoabwägungen und Impfempfehlungen (Influenza-
und Pneumokokkenimpfung) wie für Gesunde der gleichen Altersgruppe bei nur geringen
Impfrisiken.
Allgemeine Empfehlungen bei respiratorischer Verschlechterung
Beim Auftreten von COVID-19-verdächtigen Symptomen nach Kontakt mit einer potenziell
infizierten Person, bei respiratorischer Dekompensation beatmeter Patienten oder allgemein
bei neu aufgetretenen respiratorischen Symptomen wird eine telefonische oder telemedizinische
Kontaktaufnahme mit dem behandelnden Arzt sowie ggf. dem Beatmungspflegedienst empfohlen.
Die Entscheidung über die Einleitung einer ambulanten oder stationären Diagnostik
und Therapie wird individuell getroffen [139].
Spezifische Maßnahmen für einen Krankentransport und das Krankenhaus sind:
Nutzung nicht belüfteter Masken mit einem Bakterien-Viren-Filter am Geräteausgang
Filter zwischen Maske und Geräteschlauch
Versorgungskoordination (Was wird wo gemacht: ambulant/stationär)
Durch neuromuskuläre Zentren werden neuromuskuläre Patienten flächendeckend telefonisch
und videogestützt oder direkt persönlich unter Wahrung des Abstandsgebots ambulant,
teilstationär und stationär versorgt. Es besteht ein enger Austausch mit den Patientenselbsthilfeorganisationen
wie der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke e. V. und der „World Muscle Society“
(WMS). Spezifische Vorsorge- und Therapieempfehlungen wurden veröffentlicht [139].
Wichtig für ÄrztInnen in der Notaufnahme und Intensivstation ist bei der Entscheidung
zur Aufnahme, Eskalation oder Beendigung einer Behandlung von Patienten mit neuromuskulären
Erkrankungen und COVID-19 die Einbeziehung neuromuskulärer SpezialistInnen und PneumologInnen
[125].
Bisher haben sich aufgrund der Einhaltung der allgemeinen Hygienevorschriften mit
Selbstisolierungsmaßahmen nur sehr wenige neuromuskuläre Patienten in Deutschland
mit SARS-CoV‑2 infiziert und sind an COVID-19 erkrankt. Somit scheint kein massiv
erhöhtes Risiko für neuromuskuläre Patienten unter einer SARS-CoV-2-Infektion zu bestehen.
Einzelne wenige Todesfälle von ALS- und Myastheniepatienten mit manifester COVID-19-Erkrankung
sind im LEOSS-Register registriert.
7 Neurologische Intensivmedizin
Bearbeitet von Georg Gahn, Karlsruhe, und Julian Bösel, Kassel
Definition
Berichte über eine neurologische Beteiligung bei COVID-19 mehren sich, besonders bei
Patienten mit schweren Verläufen, sodass diese Thematik besonders die neurologische
Intensivtherapie betrifft. Hierunter fallen z. B. Enzephalitis, Enzephalopathie, Status
epilepticus, ausgedehnte oder multiple ischämische und hämorrhagische Schlaganfälle
und schwere (Poly‑)Neuropathien wie das Guillain-Barré-Syndrom.
Das Nervensystem kann direkt und indirekt miteinbezogen werden, wobei Letzteres vermutlich
zahlenmäßig überwiegt. Diese Unterscheidung kann für die diagnostische und therapeutische
Versorgung wichtig sein, auch für die Prognose der COVID-19-Patienten. Die Kenntnis
neurologischer Beteiligungen kann auch für die Strategie der supportiven Intensivtherapie
eine Rolle spielen. So könnten manche Therapieformen wie ECMO in Unkenntnis von z. B.
ausgedehnten Hirninfarkten ungünstig verlaufen. Neurologische Manifestationen von
COVID-19 können leicht in der schwerwiegenden, pulmonal dominierten Intensivsituation
maskiert bleiben. Deshalb muss aktiv nach einer Mitbeteiligung des zentralen oder
peripheren Nervensystems gesucht werden.
Bezüglich weitreichender, allgemeiner Prinzipien der Intensivmedizin bei COVID-19
schließen sich die DGN wie auch die DGNI der S1-Leitlinie „Empfehlungen zur intensivmedizinischen
Therapie von Patienten mit COVID-19“ unter Federführung von DGIIN und DIVI [140] an.
Bezüglich der speziellen neurointensivmedizinischen Aspekte werden im Folgenden Ergänzungen
zu einigen Abschnitten dieser S1-Leitlinie gemacht:
Diagnostik
Intensivmedizinisch bedeutsame neurologische Krankheitsbilder sind die Meningoenzephalitis,
schwere ischämische oder hämorrhagische Schlaganfälle, rasch fortschreitende Polyneuropathien,
-neuritiden oder eine „intensive care unit-acquired weakness“.
Zusätzlich zur üblichen Erregerdiagnostik auf SARS-CoV‑2 sollte auch eine Basisdiagnostik
inklusive RT-PCR-Test aus dem Liquor erfolgen, sofern der klinische Verdacht auf eine
(Meningo‑)Enzephalitis, ein Delir oder eine Polyneuritis besteht und gegen die Lumbalpunktion
keine Kontraindikationen vorliegen.
Bei unklarer verzögerter Aufwachreaktion, unklarem Delir sowie Hinweisen auf einen
konvulsiven oder nichtkonvulsiven Status epilepticus sollte ein EEG abgeleitet werden
[141].
Bildgebung
Bei fokalen neurologischen Ausfallssymptomen, wie z. B. einer halbseitigen Lähmung,
Störungen der Okulomotorik oder Pyramidenbahnzeichen sollten eine zerebrale und ggf.
auch eine spinale Bildgebung, möglichst als MRT, sowie eine Diagnostik der hirnversorgenden
Gefäße erfolgen. Bei manchen Patienten, die aufgrund schweren intensivmedizinischen
Verlaufs und/oder Analgosedierung nicht zuverlässig klinisch untersuchbar sind, kann
dies auch prophylaktisch angezeigt sein (z. B. zerebrales CT vor ECMO bei der Möglichkeit
hämorrhagischer oder ischämischer Infarkte, [142, 143]).
Hirnödem und erhöhter intrakranieller Druck
Die Optimierung der Beatmungsparameter kann den intrakraniellen Druck beeinflussen.
Eine invasive Beatmung mit PEEP („positive end-expiratory pressure“), einer permissiven
Hyperkapnie oder in Bauchlagerung kann zu einer Erhöhung des intrakraniellen Drucks
führen. Hierzu ist die Datenlage allerdings uneinheitlich. Daher erfordert das Vorgehen
stets eine individuelle Nutzen-Risiko-Abwägung [144–146].
Ein multimodales Neuromonitoring (z. B. ICP-/CPP-Messung, NIRS, transkranieller Doppler/Duplex,
sonographische Messung des Sehnervenscheidendurchmessers) kann das therapeutische
Vorgehen bei Patienten mit erhöhtem intrakraniellem Druck erleichtern [147, 148].