Die gegenwärtige COVID-19-Pandemie stellt unser Gesundheitssystem vor große Herausforderungen
und wirft eine Reihe grundlegender Fragen ethischer Natur auf: Ist es verhältnismäßig,
zum Schutz von Risikogruppen sowie aus Sorge vor einer möglichen Überlastung des Gesundheitssystems,
flächendeckend freiheitsbeschränkende Maßnahmen zu verhängen? Dürfen bereits geplante
Untersuchungen und Operationen abgesagt bzw. verschoben werden, um medizinische Ressourcen
für die Behandlung von COVID-19-Patient*innen vorzuhalten? Welche lebensbedrohlich
Erkrankten sollen im Falle nicht ausreichender intensivmedizinischer Ressourcen priorisiert
werden? Dürfen Alten- und Pflegeheime ihren Bewohner*innen verbieten, Besuch von Angehörigen
zu empfangen? Was ist für eine Bewohner*in einer solchen Einrichtung schlimmer: die
Gefahr der Ansteckung mit einer für sie möglicherweise tödlich verlaufenden Erkrankung
oder die totale soziale Isolation – und wer darf das (für sie) entscheiden? Das Besondere
an diesen Fragen ist, dass sie Entscheidungen in sehr kurzer Zeit verlangen, für die
es häufig keine angemessene Evidenz- und mitunter auch keine ausreichende Rechtsgrundlage
gibt und deren mittel- und langfristigen Folgen zum Zeitpunkt der Entscheidung oft
nicht absehbar sind.
Die Akademie für Ethik in der Medizin (AEM) versteht sich als medizinethische Fachgesellschaft.
Wie kann sie den Diskurs über ethische Fragen im Zusammenhang mit COVID-19 fördern?
Was kann sie tun, um Ärzt*innen, Pflegende und andere im Gesundheitsbereich Tätige
bei ihren schwierigen Entscheidungen zu unterstützen? Worin sieht sie ihre Rolle in
der aktuellen Krisensituation?
Ein zentrales Ziel der AEM ist es, den wissenschaftlichen wie auch öffentlichen Diskurs
über medizinethische Fragen zu fördern. Diesem Selbstverständnis entsprechend hat
die AEM eine Sonderseite zu COVID-19 auf ihrer Homepage eingerichtet, auf der u. a.
Materialien und Empfehlungen zu ethischen Fragen der Patientenversorgung, zu forschungsethischer
Literatur sowie zum Thema E‑Learning im Rahmen der Medizinethiklehre für Medizinstudierende
zu finden sind.1 Die Informationen auf der Seite stammen von Mitgliedern sowie einschlägigen
Arbeitsgruppen; die Aktualisierung der Seite liegt in den Händen der Geschäftsstelle.
An die AEM wurde schon früh die wichtige Frage herangetragen, welche Rolle Klinische
Ethik und Ethikberatung im Rahmen der COVID-19-Pandemie spielen kann und soll. Um
diese Frage breit und bedarfsorientiert zu diskutieren, bietet die AEM – inspiriert
durch eine Initiative Schweizer Kolleg*innen – seit Mitte März regelmäßige Online-Meetings
an, an denen bis zu 150 Personen aus dem gesamten Bundesgebiet sowie vereinzelt auch
aus Österreich, Tschechien und der Schweiz teilnehmen. Neben dem Austausch von Erfahrungen
und Informationen, gaben diese Meetings auch Anstoß für konkrete Projekte: So wurde
im Anschluss an das erste Meeting von der AEM ein Online-Forum2 eingerichtet, in dem
sich klinische Ethiker*innen über ethische Fragen und Themen im Zusammenhang mit COVID-19
austauschen können. Darüber hinaus wurde vom Vorstand der AEM unter Beteiligung weiterer
Mitglieder ein Diskussionspapier zu „Möglichkeiten und Grenzen von Ethikberatung im
Rahmen der COVID-19-Pandemie“ in deutscher3 und englischer4 Sprache erarbeitet. Und
von einer Ad-hoc-Arbeitsgruppe wurde eine Handreichung zu „Psychische Belastungen
von Gesundheitspersonal im Umgang mit moralischen Konflikten“5 erstellt. Ein weiteres
Papier, das sich mit den spezifisch pflegeethischen Fragen im Zusammenhang mit COVID-19
beschäftigt, wird aktuell (Stand: April 2020) von Vertreter*innen der beiden Arbeitsgruppen
„Pflege und Ethik“ in der AEM vorbereitet.
Neben den von ihr selbst initiierten Projekten unterstützt die AEM den Aufruf für
eine Nationale Taskforce „COVID-19-Evidenz“6, der eine professionelle Priorisierung,
Koordinierung und Kommunikation der Forschung zu nicht-pharmakologischen Interventionen
fordert. Außerdem ist die AEM beteiligt am „Kompetenznetz Public Health COVID-19“7
und engagiert sich dort insbesondere in einer Arbeitsgruppe, die sich mit den ethischen
Fragestellungen, welche speziell Public Health betreffen, beschäftigt und hierzu eine
Handreichung erarbeitet hat8.
Ferner hat der Vorstand der AEM zusammen mit sechs weiteren Fachgesellschaften klinisch-ethische
Empfehlungen zu „Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall-
und der Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie“9 veröffentlicht mit dem
Ziel, den klinischen Praktiker*innen eine ethische Orientierung bei ethisch schwierigen
und belastenden Entscheidungen zu geben. Viele der darin enthaltenen Empfehlungen
sind unkontrovers (z. B. die Warnung vor sozialer Diskriminierung), einige sind aber
auch Gegenstand kontroverser fachlicher und öffentlicher Debatten, die bis in den
Vorstand der AEM hineinreichen: So konnte z. B. die Empfehlung, dass eine Priorisierung
nach dem Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht im Falle objektiv nicht ausreichender
intensivmedizinischer Ressourcen nicht nur „ex ante“, sondern auch „ex post“ erfolgen
solle, nicht von allen Vorstandsmitgliedern persönlich mitgetragen werden. Trotz der
inhaltlichen Differenz war sich der Vorstand aber einig, die Empfehlungen, an deren
Erarbeitung mehrere Mitglieder der AEM federführend mitgewirkt haben, mit Mehrheitsbeschluss
zu unterstützen. Zugleich bot sich ein Vorstandsmitglied an, das ethische Dilemma,
das mit solchen Priorisierungsentscheidungen verbunden ist, in einem ethischen Hintergrundkommentar10
zu beleuchten.
Es ist bereits angeklungen, dass aufgrund der Dynamik der COVID-19-Pandemie eine enge
Vernetzung und ein schneller Austausch über Fachdisziplinen, Professionen und Ländergrenzen
hinweg zur Beantwortung dringender ethischer Fragen notwendig sind. Aus dem Bestreben
heraus, frühzeitig Diskurse zu ermöglichen, hat sich die AEM u. a. entschieden, Diskussionspapiere
als vorläufige Versionen zu veröffentlichen und mithilfe des Feedbacks dann prozessbegleitend
zu optimieren. Zudem hat die AEM mit dem Online-Forum und den Online-Meetings neue
Kommunikationswege eingerichtet, um räumliche Distanz zu überwinden.
Die AEM sieht sich aber auch Herausforderungen in ihren eigenen regulären Tätigkeiten
gegenüber. So kann die Jahrestagung 2020 nicht in gewohnter Form stattfinden. Wann
und in welcher Form die Mitgliederversammlung durchgeführt wird, steht zum aktuellen
Zeitpunkt (April 2020) noch nicht fest. Kleinere Veranstaltungen, wie die Schreibwerkstatt
„Publizieren in der Medizinethik“ im Juni, oder Arbeitsgruppensitzungen finden in
Form von Online-Konferenzen statt. Und auch der Vorstand selbst hat sich in den vergangenen
Wochen regelmäßig über Online-Konferenzen ausgetauscht.
Obwohl 2020 eine Vielzahl an Fort- und Weiterbildungsangeboten und insbesondere Kurse
zu „Ethikberatung im Gesundheitswesen“ ausgesetzt werden müssen, ist die Zahl der
Anträge auf Zertifizierung im Vergleich zum Vorjahr weiter angestiegen. Außerdem zeichnet
sich ab, dass die Zahl der Neumitgliedschaften angesichts der neuen Herausforderungen
und der gestärkten Vernetzung einen Anstieg erfahren könnte.
Die COVID-19-Pandemie mag diverse Umstellungen erzwungen haben, durch das Betreten
neuer Wege bietet sich nun jedoch mehr denn je die Chance, mit der Digitalisierung
und Globalisierung mitzuwachsen sowie die dazugewonnen Erkenntnisse und neuen Arbeitsformen
für zukünftige Diskurse fruchtbar zu machen.